Der TSP hat noch einen ziemlich umfangreichen Begleitartikel (leider Paywall) dazu gestellt. Die Kritik fällt ungewohnt deutlich aus, auch wenn sich die befragten Mediziner:innen noch etwas vornehm zurückhalten:
Spoiler
Angst vor Impfung und Vertrauen aufs Karma: Wie die Diphtherie nach Berlin zurückkam
In Spandau ist ein Waldorfschüler an Diphtherie erkrankt und gestorben. Er war ungeimpft – eine Folge des anthroposophischen Umfelds? Ein Kladower Kinderarzt und eine ehemalige Waldorfmutter erzählen.
Von Anna Pannen
Heute, 11:43 Uhr
Der zehnjährige Schüler aus Berlin, der schwer an Diphtherie erkrankt war, ist gestorben. Vier Monate lang hatte er gegen die Infektionskrankheit gekämpft – er musste invasiv beatmet werden. Eine Frage, die bleibt: Wie konnte es dazu kommen, dass ein Berliner Kind an einer Krankheit stirbt, die in Deutschland als nahezu ausgerottet gilt?
Der Junge hatte eine anthroposophische Einrichtung besucht – die Waldorfschule Havelhöhe im Spandauer Ortsteil Kladow. Anthroposophische Gemeinschaften stehen im Ruf, besonders impfskeptisch zu sein. Hat der Glaube an die Lehre Rudolf Steiners in diesem Fall eine Rolle gespielt?
Zwar ist zu weiteren Diphtherie-Fällen in deutschen Waldorfschulen nichts bekannt – immer wieder kam es in Deutschland in der Vergangenheit aber zu Masernausbrüchen in Waldorfkitas und -schulen. Der Bund der Freien Waldorfschulen erklärt auf seiner Homepage, man vertrete „keine Anti-Impf-Haltung“ und unterstütze „keine Anti-Impf-Bewegungen“.
Jeder zehnte Erkrankte stirbt
Nun sind Masern gefährlich für Kinder – Diphtherie allerdings noch wesentlich mehr. Beide Krankheiten können zu lebensgefährlichen Komplikationen führen. Während die Letalität der Masernerkrankung aber laut WHO bei nur 0,001 bis 0,1 Prozent liegt, beträgt sie bei der Diphtherie fünf bis zehn Prozent, in der Altersgruppe der unter Fünfjährigen sogar 20 bis 40 Prozent.
Etwa jeder zehnte Erkrankte stirbt also trotz frühzeitiger Behandlung an Diphtherie, und zwar äußerst qualvoll: Toxine führen in diesem Fall zu festhaftenden Belägen und Schwellungen in Rachen und Luftröhre, die die Atemwege blockieren und den Patienten schließlich ersticken lassen.
Im Wissen um diese Gefahr raten selbst Kinderärzte, die sonst eher zurückhaltend impfen, in den meisten Fällen zur Schutzimpfung gegen Diphtherie. Wie konnte es trotzdem dazu kommen, dass der Spandauer Schüler nicht geschützt war? Und wie lassen sich ähnliche Fälle in Zukunft verhindern?
Stephan Wienhold ist Kinderarzt in Kladow, seine Praxis liegt im Einzugsgebiet der betroffenen Schule, nur anderthalb Kilometer vom anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe entfernt. Seit 27 Jahren praktiziert der Arzt vor Ort und betreut auch Schüler der nahe gelegenen Waldorfschule.
Immer wieder kämen Kinder in seine Praxis, denen wichtige Schutzimpfungen fehlten, erzählt Wienhold: „Manchmal haben sie nicht den für die Kitaaufnahme vorgeschriebenen Impfschutz gegen Masern, manchmal keinen ausreichenden Schutz gegen Polio oder Tetanus und Diphtherie.“
Die meisten Eltern dieser Kinder seien keine grundsätzlichen Impfverweigerer, sagt der Kinderarzt. „Viele sind verunsichert oder fehlinformiert. Mal hat die Hebamme geraten, mit einer Impfung lieber noch zu warten, mal haben sie etwas über gefährliche Nebenwirkungen im Internet gelesen oder es auf einem Vortrag impfkritischer Ärzte gehört.“
Ausgeprägte Esoterik-Szene
Gibt es tatsächlich Ärzte in Berlin, die raten, Kinder verspätet oder unvollständig zu impfen? „Leider ja, auch in unserem Einzugsbereich“, sagt Wienhold, betont aber zugleich: „Die meisten Kollegen orientieren sich an den Empfehlungen der STIKO und beraten fachgerecht.“
Ulrich Fegeler hat ebenfalls lange eine Kinderarztpraxis in Spandau geleitet, war im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte aktiv. Er bescheinigt Kladow eine „ausgeprägte Esoterik-Szene“. Falsch zum Thema Impfungen beratene Eltern hat auch er in seiner Praxis immer wieder erlebt. „Und ja, leider gibt es in unserer Fachrichtung auch in Berlin Kollegen, die Impfungen grundsätzlich für gefährlich halten.“
Auch wenn es nicht immer so wahrgenommen wird: Anthroposophie ist eine Form der Esoterik. In Kladow gibt es gleich mehrere anthroposophische Einrichtungen, darunter das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe. Eine klinische Pädiatrie gibt es hier nicht, allerdings praktizieren niedergelassene Kinderärzte in einem MVZ auf dem Klinikgelände. Wie beraten diese zum Thema Impfungen und speziell zur Diphtherieimpfung?
Havelhöhe-Geschäftsführerin Christa Foppe schreibt dazu, ihr sei nicht bekannt, dass Eltern auf dem Havelhöhe-Gelände geraten wird, Kinder verspätet oder unvollständig impfen zu lassen. Auch Christoph Meinecke, Kinderarzt im MVZ Havelhöhe, erklärt gegenüber dem Tagesspiegel, er rate Eltern grundsätzlich zur Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Kinderlähmung.
Fünfmal im Jahr bieten Meinecke und seine Kollegin Pia Feldmann im Familienforum Havelhöhe einen Vortrag mit dem Titel „Impfen – was spricht dafür, was spricht dagegen?“ an. Die Zuhörer erhielten darin „umfassende Informationen“ zu verschiedenen Krankheiten, sagt Meinecke, um im Anschluss „eine eigenverantwortliche Impfentscheidung“ treffen zu können.
In der Ankündigung des Vortrags liest sich das so: „Impfungen können vor schweren Krankheiten und deren zwar seltenen, aber gefährlichen Komplikationen schützen. Gleichzeitig verdichtet sich die wissenschaftliche Evidenz, dass sehr frühes und sehr umfassendes Impfen neue Erkrankungen wie z. B. Allergien auslösen kann.“
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat auf seiner Homepage allerdings eine Übersicht über die Studienlage zu ebenjenem Mythos veröffentlicht. Demnach konnte in keiner methodisch zuverlässigen Studie ein Zusammenhang zwischen Impfungen und Allergien gefunden werden.
Im Handout zum Havelhöhe-Vortrag wird die Sterblichkeit der Diphtherie korrekt mit „5 bis 20 Prozent“ angegeben. Allerdings heißt es darin auch, die Erkrankung sei „selten“, die Rachendiphtherie trete in Deutschland „in Einzelfällen“ auf und komme vor allem in Südostasien und Brasilien vor. Er selbst weise Eltern aber auf das kriegs- und migrationsbedingt zunehmende Risiko durch Diphtherie und Polio hin, versichert Meinecke.
Wie groß dieses Risiko ist, darüber scheint in der anthroposophischen Ärzteschaft jedoch keine einhellige Meinung zu herrschen. Meinecke und Feldmann sind Mitglieder im Verein „Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung“ (ÄFI), der 2006 als Zusammenschluss von anthroposophischen, naturheilkundlichen und homöopathischen Mediziner:innen gegründet wurde.
Der Verein informiert auf seiner Homepage zu allen gängigen Impfungen, unter anderem über den ÄFI-Podcast „Impfen mit Sinn und Verstand“, verfügbar auf allen bekannten Podcastplattformen von Amazon bis Spotify. Der Podcast ist in anthroposophischen Kreisen beliebt und wird auch auf der Homepage der anthroposophischen Wochenzeitschrift „Das Goetheanum“ beworben.
In der Folge zur Diphtherie beantwortet der Kinderarzt, Homöopath und ÄFI-Geschäftsführer Alexander Konietzky Fragen zur Erkrankung. Das Risiko, an einer Diphtherie zu erkranken, sei in Deutschland „wahnsinnig klein“, erklärt der Arzt darin. Der Impfstoff sei außerdem nie in einer randomisiert-kontrollierten Studie auf seine Wirksamkeit überprüft worden, lediglich in Beobachtungsstudien.
Über die Nebenwirkungen der Impfung wisse man nur wenig, erklärt der Pädiater weiter. Und zwar, weil Diphtherie nur in Kombination mit anderen Impfstoffen wie Tetanus geimpft werde. Diese Tatsache nennt Konietzky einen „legalen Weg, die Nebenwirkungsquote rauszurechnen“.
Zur Krankheit selbst hört man von Konietzky hauptsächlich beruhigende Worte. Die Diphtherie könne zwar im schlimmsten Fall dazu führen, „dass man medizinische Versorgung braucht bis zur stationären Behandlung“, so der Mediziner im Podcast. Luftnot und Panik wollten dann auch „gut behandelt werden, vielleicht sogar mit Intubation“.
Wenn man das aushalte, könne man jedoch, „wenn man es eine Woche aussitzt“, durch den Zerfall der Beläge in Rachen und Kehlkopf „wieder in die Heilung übergehen“. Konietzkys Bilanz: „Ganz ehrlich, in Deutschland brauchst du die Diphtheriekombination eigentlich nicht. Wenn ich gerne in Asien unterwegs bin oder als Rucksacktourist, könnte es sich lohnen.“
Auf die Podcastfolge hingewiesen und um eine Einschätzung gebeten, heißt es vom Robert-Koch-Institut, man kommentiere grundsätzlich keine Äußerungen Dritter. Kinderarzt Stephan Wienhold findet deutlichere Worte und nennt die Folge „eine höchst problematische Vermengung von zutreffenden Fakten mit unhaltbaren Thesen“.
Statt einer klaren Haltung pro Impfung würden Eltern und andere Zuhörer unnötig verunsichert, so der Pädiater. Sie bekämen den Eindruck, mögliche Nebenwirkungen der Impfung seien ein größeres Risiko als die Krankheit selbst, und verzichteten im schlimmsten Fall aufs Impfen. „Das ist tragisch, denn auch diese Eltern wollen das Beste für ihr Kind und glauben, das Richtige zu tun.“
An der Universität Erfurt beschäftigt sich die Psychologin Sarah Eitze wissenschaftlich mit Gesundheitskommunikation – unter anderem mit der Frage, was Eltern davon abhält, ihre Kinder gegen gefährliche Krankheiten impfen zu lassen. Sie bestätigt, dass falsche Informationen zu den Risiken von Krankheit und Impfung nachhaltig wirken.
„In einer Zeit, in der die allermeisten Menschen hierzulande nie eine Diphtherieerkrankung erlebt oder auch nur Erzählungen darüber gehört haben, ist es ohnehin schwer, eine angemessene Risikowahrnehmung zu entwickeln“, sagt die Forscherin.
Bewegten sich Eltern noch dazu in Kreisen, in denen Falschinformationen kursieren, führe das oft dazu, dass sie das Risiko der Krankheit unter- und das der Impfung überschätzen. „Dort wird meist emotionalisiert von Fällen schwerer Impf-Nebenwirkungen berichtet, während Fälle, in denen Kinder schwere Spätfolgen einer überstandenen Krankheit erleiden, nicht zur Sprache kommen.“
Der Glaube, in Deutschland ungeimpft nicht an einer Diphtherie zu erkranken, sei irrational, da auch geimpfte Menschen mehrfach an Diphtherie erkranken und die Keime ohne Symptome verbreiten könnten, sagt Eitze. „Berlin ist ein internationales Drehkreuz, jeden Tag landen Hunderte Flugzeuge in der Stadt. Es genügt, am Hauptbahnhof umzusteigen, um in wenigen Minuten zig Menschen aus aller Herren Länder zu passieren. Jeder Sitznachbar in der U-Bahn könnte gestern aus einem Hochrisikogebiet zurückgekommen sein.“
Dass der aktuelle Fall des verstorbenen Kindes in einem impfskeptischen Umfeld zum Umdenken führt, glaubt sie nicht. „Es ist schwer, eine einmal gefestigte Einstellung zu ändern. Wahrscheinlich glauben die Betroffenen eher an einen traurigen Einzelfall, oder dass das Immunsystem des Kindes nicht ausreichend gekräftigt wurde, um gegen die Krankheit zu gewinnen.“
Linda Hohmann hat solche Erzählungen häufig gehört. Die 45-jährige Ärztin heißt eigentlich anders, will ihren echten Namen aber nicht genannt wissen, weil sie negative Folgen für die eigene Laufbahn fürchtet. Hohmann hat im Klinikum Havelhöhe gearbeitet, ihr Kind besuchte bis 2023 die dortige Waldorfschule.
Man dürfe sich Campus und Schule nicht als Hort von Impfverweigerern und Hardcore-Anthroposophen vorstellen, erzählt sie dem Tagesspiegel. „Die allermeisten Ärzte in Havelhöhe glauben an evidenzbasierte Medizin und wissenschaftliche Studien. Sie haben mit Anthroposophie nicht viel am Hut und sehen lediglich Naturheilkunde als gute Ergänzung.“ Nur ein kleiner Teil der Ärzte und Belegschaft sei esoterisch oder wissenschaftsskeptisch.
Dasselbe gelte für die Waldorfschule Havelhöhe. „Ich schätze, 60 Prozent der Eltern dort sind ganz normale Berliner, die sich wegen der schönen Ästhetik für die Schule entschieden haben und weil die Kinder viel in der Natur sind“, erzählt sie. Der Rest der Elternschaft identifiziert sich ihrer Erfahrung nach tatsächlich mit der Anthroposophie. „Aber davon ist nur ein kleiner Teil so radikal, dass er seine Kinder nicht impft.“
Dieser kleine Teil habe allerdings einen großen Einfluss, erzählt die Mutter. „In Havelhöhe sind die Leitungsebenen verschiedener Einrichtungen sehr gut vernetzt.“ Man kenne sich, oft seit Jahren, sei teils sogar miteinander verwandt. So sei etwa eine Lehrkraft aus der Schulleitung mit einem Chefarzt aus dem Klinikum verheiratet. Diese Tendenz führe dazu, dass eine vergleichsweise kleine Gruppe von Menschen über vieles entscheide. Auch erlebte Hohmann es in ihrer Zeit an der Schule, dass etwa Elternsprecherposten unter der Hand vergeben wurden, „wenn man bewiesen hatte, ein guter Anthroposoph zu sein“.
Der Geschäftsführer der Gemeinschaftsschule Havelhöhe weist diesen Vorwurf zurück. Dem Tagesspiegel sagt Merten Bangemann-Johnson, Vorstand und Elternsprecher würden demokratisch gewählt, auch eine Mitgliedschaft im Schulverein stehe jedem offen. Berufliche Verbindungen zum Campus Havelhöhe gebe es an der Schule nicht. Bangemann-Johnson ist seit April 2024 im Amt.
Linda Hohmann hat es zu ihrer Zeit an der Schule anders erlebt. Der Ärztin zufolge hatte die Konkurrenz um bestimmte Posten innerhalb einer kleinen Gruppe von Eltern eine Art Wettbewerb zufolge, in dem es darum gegangen sei, ein möglichst guter Anthroposoph zu sein. „Punkte gab es, wenn die Mutter nicht berufstätig war und ihr Heim und die Kinder Waldorf-Ästhetik ausstrahlten. Und eben auch, wenn man an Rudolf Steiners Erzählung glaubte, dass durchgemachte Krankheiten sich positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirken.“
Bangemann-Johnson bestreitet auch das. Ob einzelne Eltern besonders gute Anthroposophen sein wollten, könne er nicht beurteilen, so der Geschäftsführer. „Wie Menschen ihr Privatleben gestalten, ist eine ganz persönliche Sache. Einen Konkurrenzdruck oder eine Erwartungshaltung hierzu gibt es an dieser Schule nicht.“
Wie wirkt sich das alles auf die Impfentscheidungen von Eltern aus? Es sei nicht so gewesen, dass Eltern in Havelhöhe untereinander damit geprahlt hätten, ihre Kinder nicht zu impfen, stellt Linda Hohmann klar. Ihr selbst sei nur ein einziges Mal dazu geraten worden, von den Erziehern einer Waldorfkita. „Aber die Angst vor Impfungen ist verbreitet. Genau wie die Überzeugung, viele Kinderkrankheiten seien nicht so schlimm.“
Die Auffassung, das Durchleben von Krankheiten stärke die Selbstheilungskräfte, geht auf die Schriften Rudolf Steiners zurück. Der Begründer der Anthroposophie war überzeugt, dass Krankheiten karmische Botschaften vermitteln – etwa aus vergangenen Leben. Und dass sie in diesem Sinne eine Aufgabe für den Betroffenen darstellen, der er sich stellen muss.
Wer einmal an eine solche Erzählung glaube, sei nur schwer wieder davon abzubringen, sagt Psychologin Eitze. „Versucht man, diese Menschen mit Zahlen und Studien von ihrer Überzeugung abzubringen, fühlen sie sich unter Druck gesetzt und in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt. Die Reaktion darauf ist häufig eine sogenannte Reaktanz – ein innerer Widerstand, der das Festhalten an der bisherigen Überzeugung noch verstärkt.“
Kann man also nichts tun, um Fälle wie den aktuellen zu verhindern? Doch, sagt Eitze. Wichtig sei, dass seriöse Institutionen wie das Robert-Koch-Institut leicht verständliche Informationen zu jeder Impfung bereit- und den gängigen Vorbehalten valide Zahlen gegenüberstelle, sagt Eitze. Auch müssten Bürger in digitalen Zeiten generell besser darüber aufgeklärt werden, wie sie Falschinformationen erkennen.
Kinderarzt Ulrich Fegeler glaubt, dass Menschen unwissenschaftlich arbeitende Kollegen seltener aufsuchen würden, wenn die allgemeine Ärzteschaft von Alternativmedizinern lerne. „Diese Ärzte nehmen sich viel Zeit für ihre Patienten, fragen nach den Lebensumständen, hören zu. Die Patienten fühlen sich gesehen und nicht abgefertigt“, so der Pädiater. Das nütze dem Kranken zwar wenig, wenn der Behandler nicht die richtige Therapie einleite. „Aber das Gegenteil, also ein rein rationaler Arzt ohne Gespür für den Menschen vor ihm, ist der Gesundheit auch nicht zuträglich.“
Das sieht auch die ehemalige Havelhöhe-Mutter Linda Hohmann so. „Bis heute gefallen mir einzelne Aspekte der Waldorfgemeinschaft gut. Ich will auch keinen Kinderarzt, der ständig Antibiotika verschreibt und die kindlichen Abwehrkräfte nicht mal bei harmlosen Infekten ihren Job machen lässt“, sagt sie.
Der Kladower Kinderarzt Stephan Wienhold ist zwar jedes Mal erschüttert, wenn er ein nicht hinreichend geimpftes Kind in seiner Praxis sieht. Eine Impfpflicht befürwortet er trotzdem nicht: „Selbstverständlich respektiere ich individuelle Impfentscheidungen der Eltern.“
Bei der Impfberatung trügen Ärzte und Ärztinnen allerdings eine ganz besondere Verantwortung, betont er. „Eine kinderärztliche Beratung darf Eltern nicht dazu ermuntern, Kindern einen Basis-Impfschutz, wie zum Beispiel gegen Diphtherie, vorzuenthalten oder sie sogar gar nicht impfen zu lassen.“ Wienhold sieht deshalb die Ärztekammern in der Pflicht, Mindeststandards für die Impfberatung für Kinder zu schaffen.
Dieser Text ist zuerst am 30. November 2024 erschienen und wurde aufgrund jüngster Entwicklungen aktualisiert.