Die Meldung von heute ist nämlich hinter einer Bezahlschranke:
COVID-FORSCHUNG IN FRANKREICH
Ein wilder Therapieversuch
VON NIKLAS BENDER-AKTUALISIERT AM 14.06.2023-13:00
Marine Le Pen machte ihn zur Figur ihrer Weihnachtskrippe: Didier Raoults Forschungen zu Covid rufen die Justiz auf den Plan, die Wissenschaft geht auf Distanz.
In den vergangenen Wochen ist eine Flut an wissenschaftlichen und juristischen Sanktionen über den Mikrobiologen und Arzt Didier Raoult hereingebrochen – ein in Wissenschaftskreisen ungewohntes Schauspiel, das in den französischen Medien ausgiebig wiedergegeben und kommentiert wurde. Raoult ist eine prominente Persönlichkeit: Der emeritierte Professor der Universität Aix-Marseille war Gründer (2011) und Leiter des Universitätsklinischen Instituts (IHU) Méditerranée, an dem Infektionskrankheiten erforscht und behandelt werden. Er ist Träger des Grand Prix Inserm 2010, einer der wichtigsten Auszeichnungen der französischen Wissenschaft. Und er ist eine, wenn nicht die zentrale Symbolfigur der französischen Querdenker.
Wow. Das wäre dann mindestens das zweite Mal, das Raoult Studien durchgeführt hat, ohne dafür ein Ethikvotum zu haben, es gab bereits eine Tuberkulosestudie ab 2017, die entsprechend durchgeführt wurde. Warum er danach nicht direkt alle Posten und seine Approbation abgeben musste, ist mir unverständlich. Unsere Querdenkerfreunde zielen ja immer darauf ab, dass die Impfstoffstudien nicht nach dem Nürnberger Kodex durchgeführt worden wären (was natürlich nicht stimmt, mittlerweile ist hier übrigens die Deklaration von Helsinki entscheidend, aber das ist letztendlich dasselbe), wo wir hier dann einen Fall haben, wo das wirklich zutrifft. Das waren Menschenversuche ohne das es dafür eine ethische Abwägung gab. Sauber.
Was mich viel mehr wundert ist die Tatsache, das bei der riesigen Zahl an Patienten eine Reihe von Partnerkliniken eingebunden gewesen sein muss. Und da hat wirklich niemand mal geprüft, ob das Ethikvotum auch wirklich existiert oder das die Studie offenbar weder in den WHO Primärregistern für klinische Studien, noch in der entsprechenden Studiendatenbank der EMA zu finden ist? Und haben sich seine Geldgeber (darunter die französische Forschungsagentur) nicht gefragt, wofür er soviel Geld ausgibt? Oder haben die sich alle von gefälschten Dokumenten hinter Gitter führen lassen?
Für die Nummer gehört Raoult definitiv hinter Gitter.
Noch am 4. April hatte Raoult eine Studie im Preprint publiziert (also als nicht begutachtete Vorabveröffentlichung), die sich auf die Behandlung von 30.423 Covid-19-Patienten stützt: „A ,Real-Life’ Monocentric Retrospective Cohort Study“, wie er im Titel ankündigt (https://doi.org/10.1101/2023.04.03.23287649).
Der Artikel ist mittlerweile zurückgezogen.
Tante Edith hat den Volltext des Artikels im Quelltext der Webseite gefunden:
In den vergangenen Wochen ist eine Flut an wissenschaftlichen und juristischen Sanktionen über den Mikrobiologen und Arzt Didier Raoult hereingebrochen – ein in Wissenschaftskreisen ungewohntes Schauspiel, das in den französischen Medien ausgiebig wiedergegeben und kommentiert wurde. Raoult ist eine prominente Persönlichkeit: Der emeritierte Professor der Universität Aix-Marseille war Gründer (2011) und Leiter des Universitätsklinischen Instituts (IHU) Méditerranée, an dem Infektionskrankheiten erforscht und behandelt werden. Er ist Träger des Grand Prix Inserm 2010, einer der wichtigsten Auszeichnungen der französischen Wissenschaft.
Und er ist eine, wenn nicht die zentrale Symbolfigur der französischen Querdenker. Noch am 4. April hatte Raoult eine Studie im Preprint publiziert (also als nicht begutachtete Vorabveröffentlichung), die sich auf die Behandlung von 30.423 Covid-19-Patienten stützt: „A ,Real-Life’ Monocentric Retrospective Cohort Study“, wie er im Titel ankündigt (https://doi.org/10.1101/2023.04.03.23287649). Raoult verteidigt darin den Einsatz von Hydroxychloroquin im Kampf gegen das Virus: Der Wirkstoff, der eigentlich gegen rheumatoide Arthritis und zur Vorbeugung gegen Malaria eingesetzt wird, sei in Verbindung mit dem Antibiotikum Azithromycin höchst effizient, im Vergleich zu anderen Therapien senke er das Sterberisiko um den Faktor fünf. Die Überzeugung, Hydroxychloroquin sei der ideale Wirkstoff im Kampf gegen Covid, vertritt Raoult spätestens seit Februar 2020 mit wechselndem Erfolg: Im Chaos der frühen Pandemie, als alle Mittel genehm schienen, schlug er – auf der dünnen Basis einer chinesischen Studie – diesen Wirkstoff vor.
Raoult war seinerzeit schon umstritten, wurde in der Not aber kurzzeitig zum umschwärmten Star, dem Präsident Emmanuel Macron am 9. April 2020 höchstpersönlich einen Besuch abstattete; auch Donald Trump pries Hydroxychloroquin. Kurz darauf jedoch belegten Studien dessen mangelnde Wirksamkeit im Kampf gegen Covid-19, die Weltgesundheitsorganisation stellte ihren Test im Juni 2020 ein. Unregelmäßigkeiten in Studien Es häufte sich Kritik an Raoult und dem IHU, denn bedenklich war vieles: Früh gab es Zweifel an der Leitung, der wissenschaftlichen, rechtlichen und medizinethischen Absicherung der Studien sowie an der Behandlungspraxis. Im Sommer 2020 erstattete die Ärztekammer Anzeige gegen Raoult. Im Herbst 2021 enthüllte „Mediapart“, dass ältere IHU-Studien zur Tuberkulosebehandlung Unregelmäßigkeiten aufwiesen.
Es folgte eine Untersuchung der Nationalen Agentur für Arzneimittelsicherheit, die im April 2022 einen umfangreichen Bericht vorlegte: Es lägen „schwere Versäumnisse sowie Abweichungen von den Vorschriften zur Forschung am menschlichen Patienten, besonders in ethischer Hinsicht“, vor; manche der beobachteten Fehler seien wohl „strafrechtlich relevant“. Im September des Jahres folgte ein zweiter vernichtender Bericht der für Forschung und Lehre zuständigen Generalinspektion: Man warf dem IHU „schwere Funktionsstörungen“ vor; dabei ging es nicht nur um unautorisierte und potentiell gefährliche Behandlungen, sondern auch um ein vergiftetes Arbeitsklima, das schnellstmögliche Veröffentlichung als alleiniges Ziel kannte. Vor allem warf man dem IHU partielle Fälschungen der Ergebnisse der ersten Hydroxychloroquin-Studie aus dem März 2020 vor. Die Regierung beschritt den Rechtsweg, die Staatsanwaltschaft von Marseille leitete Ermittlungen ein, die Ärztekammer sprach eine Rüge aus. Im Sommer 2022 schob man Raoult unsanft in den Ruhestand – den er offensichtlich nicht wünscht.
Pierre-Édouard Fournier, seither Leiter des IHU, war vor Raoults Abgang ein enger Mitarbeiter; es existieren weitere personelle Kontinuitäten. Es bleibt fraglich, ob das Institut unter diesen Umständen Kritik zu entkräften vermag. Rolle als genialer Märtyrer Währenddessen hielten und halten viele Laien, aber auch Wissenschaftler und Ärzte Raoult die Treue. Und (meist rechte) Politiker: Marine Le Pen etwa hatte in ihrer Weihnachtskrippe 2021 eine Raoult-Figur stehen. Ein Grund für die andauernde Unterstützung ist sicherlich, dass eine frühe Studie in „The Lancet“ zur Ineffizienz von Hydroxychloroquin selbst Mängel aufwies und zurückgezogen werden musste (#Lancetgate). Seitdem gilt Raoult unter „antivax“ (den französischen Impfgegnern) und Corona-Relativierern als genialer Märtyrer und Opfer des „Systems“. Seine frühe Verharmlosung der Pandemie – schon Mitte April 2020 sieht er sie „verschwinden“ – und polemische Youtube-Stellungnahmen befeuern seinen Kultstatus zusätzlich. Angesichts all der Kritik an Raoult stellt sich die Frage, wie er die laut seinem aktuellen Preprint gigantische Patientenkohorte für seine neue Studie rekrutieren konnte. Tatsächlich wurde im IHU Méditerranée weiterhin das Medikament Plaquénil (hergestellt von Sanofi) verabreicht, dessen Wirkstoff Hydroxychloroquin ist.
Trotz anderslautender behördlicher Vorgaben: Noch unter Raoult beantragte das IHU im Laufe des Jahres 2020 Ausnahmegenehmigungen, aber der Hohe Rat für das Gesundheitswesen und die Agentur für Arzneimittelsicherheit lehnten ab. Das änderte nichts an einer quasi industriellen Verschreibungs- und Behandlungspraxis, die vorausgefüllte Rezepte nutzte. Der Präsident von Sanofi France wies im Oktober 2020 den französischen Gesundheitsminister Olivier Véran schriftlich auf diese Praxis hin. Weitere Wirkstoffe (etwa Zink und Ivermectin) wurden ausprobiert, an Patienten klinische Versuche ohne deren Einwilligung durchgeführt. Vergleich ohne Aussagekraft Medizinethisch ist das höchst problematisch – umso mehr, als die Versuche mehr als ein Jahr nach Beleg der Unwirksamkeit von Hydroxychloroquin gegen Covid-19 fortgesetzt wurden.
Argumentatives Hauptproblem des aktuellen Preprints ist, dass der wissenschaftliche Beleg durch den Vergleich mit einer Kontrollgruppe nach wie vor fehlt. Die Wirksamkeit von Hydroxychloroquin leitet Raoult aus einem Vergleich mit Herzkranken ab, die den Wirkstoff nicht verabreicht bekommen dürfen. Aufgrund ihrer Vorerkrankung sind diese Patienten jedoch sowieso einem höheren Sterblichkeitsrisiko ausgesetzt – der Vergleich ist nicht aussagekräftig. Sechzehn renommierte Wissenschafts- und Medizinerorganisationen haben sich Anfang vorletzter Woche in „Le Monde“ kritisch zu Wort gemeldet. Die Daten von mehr als 30.000 Patienten habe Raoult nur dank des „bis heute größten bekannten ‚wilden‘ Therapieversuches“ ergattern können.
Elementare Regeln wissenschaftlichen und ärztlichen Handelns seien missachtet worden. Man sorge sich um das Vertrauen in die Wissenschaft, gerade angesichts einer oft positiven Darstellung Raoults in den Medien. Die Tatenlosigkeit der öffentlichen Hand sei bedauerlich. Beeindruckender noch – sowohl für die Universität Aix-Marseille, deren Präsident Éric Berton nach wie vor keine eigenen Versäumnisse sehen mag, als auch für Raoult – war sicherlich das (späte) Einschreiten der Justiz. Mittwoch vergangener Woche wurde das IHU Méditerranée im Auftrag der Staatsanwaltschaft von einer Gesundheitsbehörde durchsucht. Vorvergangenen Freitag sollen Raoult und seine Mitautoren dann die Studie zurückgezogen haben. Der Appell der Wissenschaftsorganisationen, dessen Drastik der staatlichen Aufsicht geradezu das Messer auf die Brust setzt, zeigt, dass Raoult den Bogen endgültig überspannt zu haben scheint – es ist kaum vorstellbar, dass nun einschneidende Maßnahmen ausbleiben.