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SWR Aktuell: Nun hat auch der Kreisverband Tübingen Ihnen die Unterstützung entzogen. Der Bundesvorstand hat Sie darüber in einer E-Mail informiert - standen darin auch die Gründe?
Boris Palmer: Die E-Mail enthält keine Gründe. Es wäre auch verwunderlich, denn es gibt keine. Ich habe mit meinen Äußerungen ausschließlich Grüne-Grundwerte, vor allem den der internationalen Solidarität, hochgehalten. Ich finde weiter, wir dürfen nicht einfach hinnehmen, dass Hunderttausende von Kindern in den armen Ländern der Welt sterben, weil wir unsere Shutdown-Maßnahmen nicht richtig dosieren. Und da ich nicht getan habe, was mir vorgeworfen wird, sehe ich auch keinen Grund für Distanzierungen oder gar ein Parteiausschlussverfahren.
Wie enttäuscht sind Sie von dieser Reaktion?
Da bin ich tatsächlich sehr enttäuscht. Denn die Bereitschaft, das Gegenteil dessen zu verstehen, was ich gesagt und gemeint habe - und es ist ja in einem TV-Interview geschehen -, die ist unter Freunden eigentlich nicht angemessen. Und wir sind ja Parteifreunde. Ich bin enttäuscht und ich verstehe nicht, wie das passieren kann.
Es geht um das Interview im Sat.1-Frühstücksfernsehen, in dem man eine Aussage aus dem Zusammenhang genommen hat. Sehen Sie darin eine Kampagne gegen Sie, die schon seit Jahren läuft?
Nein, das sehe ich nicht. Die Aussage war offensichtlich ganz unglücklich formuliert. Ich wollte einfach nur eine Tatsache beschreiben im Zusammenhang mit der Diskussion über Wolfgang Schäubles Äußerungen. Und ich habe das so unglücklich gemacht, dass Leute jetzt verstehen, ich würde Sozialdarwinismus und Euthanasie befürworten. Das ist aber für mich so absurd, dass ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, dass das jemand vermutet und dass sich diese falsche Deutung verselbständigt hat, das ist jetzt ganz offensichtlich mein Problem. Ich muss also versuchen, zu erklären, worum es mir geht. Das ist jetzt meine Aufgabe.
Es ist schon mehrfach passiert, dass Teiläußerungen oder die Wirkung Ihrer Aussagen anders angekommen sind bei den Menschen und Sie sich dann im Nachgang entschuldigt haben. Jetzt wieder. Haben Sie inzwischen Selbstzweifel?
Sie haben völlig recht. Das ist mir schon öfter passiert. Aber ich habe Zweifel an den Debatten in unserem Land, an der Art und Weise, wie wir Sachverhalte zu diskutieren versuchen. Denn es wird kaum noch die Mühe gemacht, zu verstehen, was jemand meint. Stattdessen ist man sehr schnell dabei, zu verurteilen und zu verdammen. Und wenn jemand sagt: "So habe ich es gemeint." Dann kann man doch nicht die ganze Zeit die Debatte weiterführen auf der Grundlage: "Ich weiß aber besser, was du gedacht hast." Mit solchen Unterstellungen kommt man doch zu nichts. Ich bin da wirklich ziemlich frustriert.
Wenn wir zum Beispiel auf Facebook schauen, da wird Ihnen ja auch schon seit Jahren nahegelegt, dass Sie ein bisschen zurückhaltender sind oder die Postings vielleicht gegenlesen lassen. Warum tun sie es nicht?
Mittlerweile habe ich bei den Postings Sicherungsmechanismen eingeführt. Wir reden ja diesmal über einen Live-Fernsehinterview. Wer soll das gegenlesen? Das dürfte schwierig werden. Und ich finde auch, es gibt in der deutschen Politik schon genug Leute, die jedes Wort so abschleifen und jeden denkbaren Widerspruch vorher schon einkalkulieren, kurz, opportunistisch Politik betreiben. Ich möchte so auch gar nicht werden. Ich möchte dabei bleiben, dass ich wenigstens in der Beschreibung von Tatsachen klar und deutlich bin. Und wenn ich die ganze Zeit überlege: "Wer könnte es jetzt aus dem Zusammenhang reißen und dann durch den Fleischwolf drehen und das Gegenteil machen?" Das ist doch eine Kommunikation, die zu gar nichts mehr führt, mich frustriert. Ich kann es nicht anders sagen.
Heute Nachmittag will sich der Tübinger Stadtverband auch äußern. Da gibt es ebenfalls hörbare Kritik. Der Stadtverband ist entscheidend für die Nominierung für die kommende OB-Wahl im Herbst 2022. Wollen sie überhaupt noch einmal kandidieren?
Also die aktuelle Diskussion hat darauf für mich keinen Einfluss. Wenn ich mich frage, wie das alles möglich ist, dann vielleicht auch, weil wir in extremen Ausnahmezeiten leben, die Nerven aller gereizt sind und jeder sich fragt: "Wie soll es denn eigentlich weitergehen?" Ich nehme an, dass man in einem Jahr, wenn man dann in Ruhe darüber spricht und zurückschaut, auch feststellen wird, dass meine Aussage voll mit dem Parteiprogramm übereinstimmt und dass daraus überhaupt kein Grund entsteht, sich von mir zu distanzieren. Mal sehen, ob man dann zu einem Ergebnis kommt. Und ob ich dann wirklich noch einmal für eine dritte Amtszeit kandidieren will, muss ich ohnehin für mich selber entscheiden. Aber dafür sind ganz andere Fragen wesentlich. Jetzt werde ich erst mal wieder Vater in den nächsten Tagen. Und dann mache ich mir neue Gedanken.
Sie bekommen jetzt viel Gegenwind. Haben Sie auch Unterstützer?
Tatsächlich, ich habe auch aus Grünen-Kreisen sehr viele E-Mails bekommen - eigentlich so viele wie noch nie. Von denjenigen, die die Aussage so verstehen, wie ich sie gemeint habe. Zurzeit kann ich mein E-Mail-Postfach nicht mehr selber leeren. Ich muss dafür eine Mitarbeiterin einsetzen, weil so viel Unterstützungs-E-Mails eingehen, wie ich sie noch nie bekommen habe. Das ist insoweit auch eine gewisse Beruhigung, weil ich in den ersten 24 Stunden, als die falsche Deutung des Satzes dominiert hat, an die hundert Morddrohungen und noch sehr viel mehr schwere Beleidigungen erhalten habe. Die werden wir jetzt der Staatsanwaltschaft übergeben. Ich finde, man kann nicht unter Berufung auf die Menschenrechte anderen Leuten den Tod wünschen. Irgendwo ist auch mal Schluss.
Nachvollziehbar und verständlich. Die BW-Grünen beraten über einen Parteiausschluss. Mal andersherum gedacht: Haben Sie inzwischen genug von ihrer Partei und denken Sie selbst über einen Austritt nach?
Nein, überhaupt nicht, weil ich weiterhin für das einstehe, wofür die Grünen gegründet wurden. Wir wollten doch mal offene Debatten. Wir wollten weg von diesem Mehltau. Wir stehen für internationale Solidarität und Klimaschutz. Das sind alles Themen, die mich antreiben. Und ich habe diese ganzen Äußerungen nur gemacht, weil ich es nicht gut ertrage, dass die UNO uns mitteilt, Hunderttausende Kinder werden sterben. Und dann ist das eine Notiz auf Seite sieben in der Tageszeitung und kein Mensch debattiert darüber. Nein, ich bin überzeugter Grüner und ich werde weiter in meiner Partei für diese Werte einstehen.