Durchaus lesenswert.
Spoiler
Phase zwei
Zuerst waren Bürger, Politik und Wissenschaft in der Corona-Krise im Gleichklang. Das ändert sich rapide, und das ist gefährlich.
Von Ranga Yogeshwar
Epidemien zeigen offenbar wiederkehrende Muster: Die „London Bills of Mortality“ etwa waren eine Sammlung der Todesstatistiken im Pestjahr 1665. In London wurde schon früh akribisch Buch geführt über die wöchentlichen Krankheiten und Todesfälle. Zwischen dem 15. und 22. August 1665 zählte man in den 97 Gemeinden „innerhalb der Mauern“ insgesamt 1268 Tote. Zehn davon starben am Kindbettfieber, 116 erlagen dem Alkohol, 42 starben an den Folgen einer Zahninfektion und 366 Menschen an der grassierenden Pest. Diese vergilbten Statistiken erlauben einen Einblick in den Alltag einer Pandemie vor fast 500 Jahren. Auf demselben Mitteilungsblatt wurde übrigens der aktuelle Brotpreis bekanntgegeben: „A penny Wheaten Loaf to contain Nine Onces and a half“. 2020 weisen die elektronischen Dashboards der Johns-Hopkins-Universität oder des Robert-Koch-Instituts zwar keine Brotpreise mehr aus, dafür sind die Informationen zur Covid-19-Pandemie genauer – wir blicken auf rote Punkte, gelbe Linien und blaue Balken. Der Tod ist bunter geworden.
Daniel Defoe, der Autor des weltbekannten „Robinson Crusoe“, verfasste als anonymer Autor ein „Journal of the Plague Year 1665“. Sein Buch ist ein lebendiger Bericht der Geschehnisse der großen Pest, das neben einigen Zahlentabellen auch die damaligen Verordnungen und Erlasse auflistet, bekanntgegeben vom Lordbürgermeister und dem Rat der freien Bürger von London. Kontaktverbote anno 1665 waren klar und eindeutig.
Auch Masken wurden früh zum sichtbaren Accessoire im Kampf gegen die Seuche, zum „Symbol eines existentiellen Risikos“, wie es der Anthropologe Christos Lynteris von der University of St. Andrews beschreibt. Auf alten Illustrationen sieht man vermummte Pestdoktoren mit schnabelförmigen Masken. Die Masken waren gefüllt mit Duftstoffen von Amber, Kampfer, Myrrhe bis hin zu Zitronenmelisse und wogen den Träger in Sicherheit vor der schlechten Luft, der „mal’aria“. Die Pestdoktoren selbst waren angesehene Persönlichkeiten, so wie die Virologen und Epidemiologien von heute. Später wurden die Masken zum typischen Element des venezianischen Karnevals. Diese besondere Verbindung zwischen Karneval und Pandemie; es gab sie also schon weit vor Heinsberg!
Auch bei vergangenen Pandemien wurde die drohende Gefahr zunächst ignoriert. In London kursierten bereits im Jahre 1663 Gerüchte über einen Pestausbruch in Holland, doch die Gefahr wurde verdrängt, bis zu Beginn des Dezembers 1664 zwei Männer, angeblich Franzosen, am oberen Ende der Drury Lane an der Pest verstarben. Auch die Ereignisse im fernen Wuhan lösten hierzulande keinen nennenswerten Alarm aus, doch als dann in Bayern und in Heinsberg die ersten Covid-19-Fälle auftraten, änderte sich die Betroffenheit. Die Bilder aus Norditalien illustrierten die drohende Gefahr, und lange bevor die Politik konkrete Maßnahmen beschloss, vollzog sich in unseren Städten ein nichtverordneter Shutdown.
Anhand der Mobilitätsdaten von Apple und Google kann man sehen, wie der altbekannte Kanon der Pandemie aus Angst, Abschottung und Rückzug Anfang März einsetzte. Als Bund und Länder sich dann am 23. März auf ein „umfassendes Kontaktverbot“ einigten, hatten die Menschen schon gehandelt. Die politische Entscheidung war sicherlich richtig, doch im Kern spiegelte sie die vorherrschende Meinung in der breiten Bevölkerung. Die Politik griff die Stimmung im Lande auf und setzte um. Schnelles Handeln war angesagt, mancher Ministerpräsident preschte vor und wurde mit steigenden Beliebtheitswerten belohnt.
In dieser Phase erleben wir eine bemerkenswerte Konsonanz. Politik und weite Teile der Gesellschaft sind sich einig. Die Wissenschaft liefert die Argumente und belegt die verkannte Dimension der Pandemie. In Talkshows wird nicht gestritten, sondern erklärt und informiert. Wir lernen von den Experten, die uns das exponentielle Wachstum verdeutlichen, die Infektionsmechanismen erläutern oder die Zuverlässigkeit von PCR-Tests ansprechen. Auch die Bundeskanzlerin erläutert die relevanten Unterschiede bei leicht veränderten Reproduktionszahlen. Mediale Präsenz und verständliche Worte überdecken mitunter tatsächliche Expertise, doch sie alle kämpfen gegen Corona. Virologen und Epidemiologen schmücken Talkshows, Podcasts und Interviews. Ihre Namen sind bekannt wie die der Fußballstars: Christian Drosten, Melanie Brinkmann, Alexander Kekulé, Marylyn Addo oder Hendrik Streeck.
Doch inzwischen hat sich der Ton geändert, und die gefeierte Harmonie löst sich auf. Nur drei Wochen später heißt es: „Wie sehr kann man sich auf unsere Virologen verlassen? – Drei Experten, drei Meinungen.“ Es offenbart sich eine wachsende Dissonanz zwischen Bevölkerung, Politik, Wirtschaft und der Wissenschaft. Der Shutdown wird allmählich zur Belastung für alle, und die Frage der Verhältnismäßigkeit wird vermehrt gestellt.
Manche beginnen nun damit, die Pandemie zu bagatellisieren oder anzuzweifeln. Die Zahlen gehen zurück, die Krankenhäuser stehen leer, und das Eingesperrtsein nervt. Ist das womöglich alles übertrieben? Diese Reaktion wird verstärkt durch ein bekanntes Paradoxon: Statt die Maßnahmen als Erfolg zu feiern und sich über den bislang glimpflichen Verlauf zu freuen, wächst die Kritik an den Experten. Ein Irrsinn: Würden wir die Feuerwehr abschaffen, nur weil es im vergangenen Jahr nicht gebrannt hat?
Das zweite Kapitel der Pandemie hat begonnen, eine Phase gekennzeichnet von Widerstand, Wut und Anschuldigung. Zu Zeiten der Pest richtete sich der Volkszorn gegen Ketzer, Juden oder Frauen, heute erleben wir diese bemerkenswerte Wende der Politik im Verhältnis zur Wissenschaft.
Zum Glück brennen heute keine Scheiterhaufen mehr, doch engagierte Wissenschaftler wie Christian Drosten erhalten immerhin Morddrohungen. Wie kann das sein? Noch vor drei Wochen wurden „unsere“ Virologen und Epidemiologen als Stars gefeiert, als aufklärende Lotsen in einem Meer der Ungewissheit, doch inzwischen passt ihr vorgeschlagener Kurs nicht mehr zum Fahrplan des politischen Establishments, der sich allzu oft am Volk orientiert, an Umfragewerten und Beliebtheitsskalen, statt den Menschen Orientierungshilfen zu geben. Hier offenbart sich der wichtige Unterschied zwischen einer populistischen Politik und dem, was man im Englischen „true leadership“ nennt.
Die Entscheidung über das Kontaktverbot war streng genommen eine populistische, da sie der Volksstimmung entsprach. Man musste die Menschen nicht mehr überzeugen, da die große Mehrheit ein Einsehen hatte. Doch nun bräuchte es „leadership“, also eine aufgeklärte und aufklärende politische Klasse, die in der Lage wäre, den unbequemen Lockdown in seiner Notwendigkeit zu vermitteln und trotz verständlichen Widerstands dafür einzustehen. Der Preis einer Fehlentscheidung ist hoch, und nichts ist in der Politik schwerer zu vermitteln als drastische Maßnahmen, die keinen kurzfristigen Erfolg versprechen. Die kalten Statistiken und Extrapolationen sind ohnehin schwer zu verstehen, weit komplexer als das verständliche Bedürfnis nach Entlastung. Der Themenwechsel greift das Gefühl auf: Kindergärten, Fußballspiele, Möbelhäuser und die Frage der 800 Quadratmeter. Hier kann jeder Bürger mitreden.
Als am vergangenen Sonntag der NRW-Ministerpräsident Armin Laschet Sätze wie „Virologen ändern alle paar Tage ihre Meinung“ sagte und Christian Lindner vom „Widerspruch der virologischen und epidemiologischen Positionen“ sprach, wurde klar, dass der Basar der Lockerungen geöffnet hat. Lobbyisten, Hotelbesitzer, Sportclubs und genervte Eltern fordern Erlösung, und obwohl die Wissenschaft mit klaren Zahlen die Tragweite der globalen Pandemie belegt, scheinen ihre Argumente zu verpuffen. Selbst die dramatischen Anstiege der Mortalitätsraten – eine Zahl, bei der es keine Dunkelziffer gibt – werden ignoriert. Sie zeigen das reale Ausmaß dieser Pandemie und belegen, dass offenbar mehr Menschen an Covid-19 versterben als bislang angenommen.
Doch solche Analysen stoßen bei der Politik zunehmend auf taube Ohren. „Es trägt nicht dazu bei, die täglichen Wasserstandsmeldungen des Instituts noch für seriös zu halten“, sagte der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
Die berechtigte Warnung der Wissenschaft vor einer zweiten Welle wird abgetan, denn die Politik setzt auf Lockerung, so wie 1918, als die große Grippe, die fälschlicherweise als „Spanische“ bezeichnet wurde, nach dem Aufheben der Kontaktverbote nochmals heftig zuschlug. Die damaligen Fallzahlen Dutzender Städte belegen, wie bedrohlich eine zu frühe Öffnung ist, doch die Verantwortlichen reagieren falsch, weil sie die Tragweite unterschätzen und weil unsere brennende Sehnsucht nach einer unbekümmerten Normalität allmählich unsere Ohren verschließt. Wir wollen keine analytischen Denker, die uns schlechte Nachrichten verkünden und uns weiterhin einsperren wollen, sondern wünschen uns Erlöser, die uns von der Last dieser ansteckenden Geißel befreien.
Dieser Leidensdruck erzeugt aberwitzige Erklärungskonstrukte. Da erscheinen lange Aufsätze, die allen Ernstes vorrechnen, dass es diese Epidemie gar nicht gibt, sie sei lediglich ein Artefakt, das Ergebnis einer gestiegenen Testquote. Andere fragwürdige Studien und Interviews mit Scheinexperten behaupten, dass es keinen Lockdown brauchte oder dass das neue, unbekannte Virus weit weniger gefährlich sei als behauptet. Selbst gewissenhafte Studien werden in Talkshows von Meinungsmachern uminterpretiert, und wissenschaftliche Laien attackieren Epidemiologen und „schätzen die Zahlen anders ein, als es die Experten tun“. In dieser Befreiungsphase wird wissenschaftliche Klarheit vernebelt. Die Kategorien des Für und Wider verschieben sich vom Rationalen ins Emotionale. Wissenschaftliche Argumente haben in dieser Konstellation keine Chance mehr. Bald beginnt das dritte Kapitel, wenn die Wut und Schuldzuweisungen irgendwann in eine kollektive Verdrängung münden.
Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima wurde ich Zeuge dieses Prozesses. Damals wurden größere Regionen nordwestlich der Atomanlagen von Fukushima verseucht, und die Menschen mussten ihre Wohnorte verlassen. Die Radioaktivität hatte das Sozialgefüge aufgelöst, ein Trauma für die Menschen. Und dann passierte es: Die Sehnsucht der Menschen nach ihrem Heimatort trieb sie zurück. Für den Staat war die Öffnung eine große Entlastung, auch die Wirtschaft drängte. Straßen und Orte wurden gereinigt und freigegeben, obwohl die Erde immer noch strahlte. Ich erinnere mich gut, wie ich in einer Parkanlage von Fukushima-Stadt mit einem Messgerät die Aktivität überprüfte. Wenige Meter vom Weg entfernt stieg die Radioaktivität rapide an. Man wusste davon, aber man sprach nicht mehr darüber. Erst diese kollektive Verdrängung ermöglichte das ersehnte Zurück in die Normalität.
Womöglich werden wir demnächst einen ähnlichen Verdrängungsprozess erleben. Wir werden unser Leben wieder öffnen und werden verdrängen, dass diese Freiheit einen Preis hat. Wir werden uns abwenden von denjenigen, die uns die Rechnung hinhalten, und werden uns einigen, dass es immer auch andere Zahlen und andere Studien gibt. Überhaupt werden wir dann wieder betonen, dass wir nach vorn schauen müssen und nicht zurück. Wir werden verdrängen. Wir können das gut, haben eine lange Erfahrung darin. Wir fliegen und verdrängen das Klima, wir kaufen billige T-Shirts und verdrängen, wo und wie sie hergestellt werden. Wir wollen nicht wahrnehmen, dass jedes Jahr etwa 400 000 Kinder an Malaria sterben. Wir wissen von der menschenverachtenden Armut ganzer Kontinente, von den heimatlosen Flüchtlingen, doch wir schauen weg. Wir alle sind Meister in diesem kollektiven Verdrängungsprozess, denn nur so lässt sich erklären, dass wir in einem Jahrhundert gleich zwei Weltkriege führten und inzwischen wieder zu Exportmeistern der Rüstungsindustrie aufgestiegen sind. Bald werden wir im Sonnenschein durch Fußgängerzonen schlendern und in den Schaufenstern nach Sonderangeboten suchen. Auf einem Ausverkaufstisch stapeln sich Restbestände: Masken zum Schnäppchenpreis, doch niemand greift zu.
Ranga Yogeshwar ist Physiker, Wissenschaftsjournalist und Moderator. Von ihm erschien zuletzt das Buch „Nächste Ausfahrt Zukunft – Geschichten aus einer Welt im Wandel“.