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Wie kann ein Nachfolger von Thomas Kemmerich Ministerpräsident Thüringens werden, ohne dass die AfD dies bewerkstelligt? Die Linke sagt, Bodo Ramelow wolle nur dann erneut antreten, falls ihm von CDU und FDP mindestens vier Stimmen zugesichert werden. 42 Stimmen von Rot-Rot-Grün plus vier Stimmen aus der demokratischen Opposition: So würde er auf die absolute Mehrheit von 46 Stimmen kommen, die er im ersten (und auch im zweiten) Wahlgang braucht. Was aber, wenn ihm in geheimer Abstimmung diese vier Stimmen nicht geliefert werden - und sich daraufhin die 22 AfD-Abgeordneten im zweiten Wahlgang entschließen, für Ramelow zu votieren? Nur um zu gucken, ob er dann, genau wie Kemmerich, die Wahl annimmt? Oder wenn sie dies gar gleich im ersten Wahlgang tun und das Feixen über einen erneut gelungenen Coup natürlich nicht lassen können?
Solche Fragen waren jahrzehntelang arg theoretischer Natur. Doch spätestens seit dem 5. Februar, seit der Wahl Kemmerichs, sind sie es nicht mehr. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer schrieb schon vor zwei Jahren, was das eigentliche Ziel der AfD sei: "destabilisierende Veränderung von Institutionen der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie". Auf diesem Weg erzielte die Partei am 5. Februar einen spektakulären Etappensieg.
Was macht man also, falls man gewählt ist, aber quasi von den falschen Leuten? Auf die Frage der Landtagspräsidentin, ob man die Wahl annimmt, hat in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie jemand mit Nein geantwortet. Allein die Möglichkeit klingt so absurd, dass sie in keiner Landesverfassung (und auch nicht im Grundgesetz) geregelt ist und sich auch noch kein Gericht damit befassen musste. Sie wird auch in praktisch keinem juristischen Verfassungskommentar diskutiert. "Ich hab' das für Quatsch und vollkommen irrelevant gehalten", sagt ein Staatsrechtler, der an solchen Kommentaren mitgeschrieben hat. Was also, wenn Ramelow dem Kemmerich-Makel entgehen wollte und im Plenarsaal erklären würde: "Frau Präsidentin, ich nehme die Wahl nicht an."
Der Kandidat, der soeben seine Wahl abgelehnt hat, dürfte wieder antreten
Im Erfurter Landtag haben die Juristen darüber nachgedacht. Fried Dahmen, der Sprecher des Parlaments, teilt auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung deren Ergebnis mit: "Dann wird der Wahlgang wiederholt." Das heißt, man würde nicht in den zweiten Wahlgang gehen, sondern erneut in den ersten. Der Kandidat, der soeben seine Wahl abgelehnt hat, dürfte wieder antreten; auch wenn dies widersinnig klingt. Hört man sich unter Staatsrechtlern um, so bekommt man zur Antwort: Diese Auffassung sei plausibel. Ein Wahlgang sei erst mit der Annahme durch den siegreichen Kandidaten beendet. Das Problem dabei: Auf diese Weise würde der Landtag womöglich nie einen zweiten und folglich auch keinen dritten Wahlgang erreichen. In dem jedoch würden Ramelow gemäß der Landesverfassung die 42 Stimmen von Rot-Rot-Grün genügen - sofern die Thüringer Christdemokraten bei ihrem am vorigen Wochenende gemachten Angebot bleiben, im dritten Wahlgang 21 Enthaltungen zu liefern.
Es gibt unter Juristen jedoch auch andere Auffassungen. Wie sich aus der Situation herauskommen ließe, sagte neulich der Düsseldorfer Parteienrechtler Martin Morlok auf faz.net. Der Landesverfassung gehe es doch darum, neue Anläufe zu ermöglichen, wenn die Wahl des Ministerpräsidenten, aus welchen Gründen auch immer, nicht gelinge. Eine Wahl, die der Sieger nicht annehme, sei gescheitert. Deshalb halte er den Sprung in den nächsten Wahlgang "für systemgerecht", sagte Morlok. Der spätere Bundespräsident Roman Herzog befasste sich einst als Kommentator des Grundgesetzes mit der Kanzlerwahl. Mit der Ablehnung der Wahl durch den Gewählten sei der Wahlgang beendet, fand Herzog; es finde dann "der nächste" statt.
Wie man in die Situation gar nicht erst hineinkommt, darüber hat ein junger Jurist nachgedacht, Michael Meier, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht der Universität Potsdam. Wenn Rot-Rot-Grün sowie mindestens vier CDU- und FDP-Abgeordnete sich in den beiden ersten Wahlgängen enthielten, käme dort für Ramelow keine absolute Mehrheit zustande. Zugleich wären beide Wahlgänge damit verfassungsrechtlich eindeutig abgeschlossen, und man würde den dritten Wahlgang erreichen. "Das setzt natürlich ein gewisses Vertrauen zwischen Rot-Rot-Grün und bürgerlicher Opposition voraus", sagt Meier. Und eine abstruse Form einer Ministerpräsidentenwahl wäre es gewiss. Aber wenigstens würde Rot-Rot-Grün aus sehr anderen Motiven als neulich die AfD ihrem Kandidaten zunächst die Stimme verweigern.