Autor Thema: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt  (Gelesen 18440 mal)

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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #15 am: 22. Oktober 2019, 14:03:49 »
Was in den KL/KZ passierte war gerüchtemäßig allgemein bekannt, mit KL/KZ wurde eingeschüchtert, gedroht. Schliesslich wurden ab 33 schon allerhand andere Gruppen verschwundengelassen, Gegner wurden auf offener Straße gedemütigt, geschlagen, entwürdigt, ermordet. Die "wilden" KL/KZ der ersten Jahre waren nicht versteckt/abgelegen. Darüber hinaus wurden Häftlinge als Wegwerfarbeitskräfte im öffentlichen wie privaten Bereich "genutzt", genauso wie während des Krieges zahllose "Fremdarbeiter" (idR Zwangsarbeiter, nur ein Bruchteil wurde "angeworben") ins Reichsgebiet kamen. Schon allein die Tatsache, dass Krupp für "seine Fremdarbeiter" ein eigenes Aufpäppel- und Erholungslager brauchte spricht Bände. Darüber hinaus wurden im Krieg Kriegsgefangene und Häftlinge im Luftschutz zum "Aufräumen" eingesetzt, aufgrund von Fliegerbomben mit Zeitzündern ein Selbstmordkommando.

Was die Nazis auf höchster Ebene absolut vermieden (geheimgehalten) haben: Schriftliche Befehle. Jeder in der Partei wusste, was "Endlösung" bedeutete, aber es gibt bis heute keinen "Führerbefehl Holocaust". Umso freigiebiger war man mit Erfolgsmeldungen ("Polen saniert") oder den Zahlenspielen zu Deportationen (Wannsee-Konferenz). Darin liegt das Perfide, alle wussten was und alle haben mitgemacht. In diesem Kontext ist die massive Unterdrückung jeder Opposition durch die SA in den ersten Jahren meiner Meinung das am meisten unterschätzte Element der Herrschaft der Nazis: Man hat damit jeden Kristallationspunkt (politische, religiöse, kulturelle, etcpp) für einen moralischen Widerstand im wahrsten Sinne des Wortes niedergeknüppelt. Die "Reste" organisierten Zusammenlebens hat man gleichzeitig gleichgeschaltet, womit keine organisierte Opposition mehr blieb.
 
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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #16 am: 22. Oktober 2019, 14:13:15 »
Die ändert in meinen Augen nicht viel, denn er spricht davon, er habe dort seinen Wehrdienst ableisten müssen.

Die Erklärung findet sich im Artikel aus er "Welt".

Zitat
Wurde er nicht zum Dienst im Lager gezwungen, als er Anfang 1944 wegen eines Herzfehlers von der Wehrmacht zur SS überstellt worden war, ohne dass er gefragt wurde?

Er wurde Anfang 1944 gemustert. Da wird jemand ein Stethoskop auf die Brust gehalten und ein Herzgeräusch festgestellt haben. Ich bezweifle, das das 1944 weiter untersucht wurde. Damit wäre er in den 30ern vermutlich untauglich gewesen, 1944 halt "frontuntauglich". Deshalb auch sein Wunsch nach Versetzung in die Etappe. ( Der ist 93. Den Herzfehler hätte ich auch gern...)
Nur
1. Nach den katastrophalen Verlusten der Wehrmacht zwischen Juni und August 1944 ( Operation Bagration in Weissrussland und die Schlacht in der Normandie ( Kessel von Falaise)) war "frontuntauglich" sicher relativ. Kurz, hätte er um Versetzung an die Front gebeten, hätte man dem sicher stattgegeben.
2. Der Angeklagte war von August 1944 bis Kriegsende bei den Wachmannschaften. Das ist recht lange. Der Versetzungsantrag von ihm riecht doch stark nach einem Feigenblatt. Der wird sich dort eingerichtet haben. Das er nicht geschossen hat, glaube ich ihm sogar.

Danach hat er halt das gemacht, was alle gemacht haben. Es verdrängt. Hat ja auch lange geklappt.
Klappt halt nur nicht immer, bzw bis zum Tod. 
Und jetzt kommt die Quittung.
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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #17 am: 22. Oktober 2019, 14:18:27 »
Wieso ist das nachweislich falsch?

Weil er von müssen spricht.

Aus diesem Grund habe ich das schon einmal halbfett hervorgehoben.

Objektiv mußte er nämlich nicht, subjektiv hatte er vielleicht den Eindruck, auch das habe ich ja bereits thematisiert.

Wenn er sagt
Zitat
„Ich war mir bewusst, dass ich vielleicht auch im Stacheldrahtzaun gelandet wäre, wenn das herauskommt, dass ich Häftlingen helfe.“

[...]
„Das wusste man“
dann ist das eben jener unterschwellige Druck, den totalitäre Regimes erzeugen.
Man guckt sich als 17-jähriger etwas von den "Kameraden" ab ohne nachzufragen.
Das macht ihm auch keiner zum Vorwurf.

Dennoch befreit solch ein Gruppendruck nicht von individueller Schuld, das haben die Verfahren gegen Demjanjuk und Gröning ganz klar ergeben, auch die früheren Verfahren (vor allem Auschwitz, aber eben auch 2 für Stutthof).

Auf den Befehlsnotstand kann man sich eben nicht mehr herausreden.

Das hat aber nichts mit scheinbarer moralischer Überlegenheit zu tun.

Er zeigt nur, daß er sich nicht damit befaßt, sondern verdrängt hat.

Auch seit 2016, als das Verfahren näherrückte, hat er sich nicht damit befaßt.

Er hatte wieder 3 Jahre Zeit. Er hat einfach gar nichts gemacht.
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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #18 am: 22. Oktober 2019, 14:40:17 »
Zitat
Nicht in allen Einzelheiten, aber mehr als genug. Er sagte später, wer nichts gewußt habe, der habe nichts wissen wollen.

Das deckt sich mit dem, was meine Großeltern immer erzählt haben. Meine Großmutter hat mir oft erzählt, dass eine ganz "normale Drohung" für unartige Kinder z.B. war: "Paß auf, sonst kommst Du nach "auch da". Man hat öffentlich allerdings oft nicht gewagt das Wort Dachau und die dort stattfindenden Grauskamkeiten zu nennen.

Auch sie sagte immer wieder: Wer behauptet er hätte nichts gewusst oder bemerkt, der wollte nichts wissen.

Auch die Industriebosse wussten ganz genau wie mit ihren "Zwangsarbeitern" außerhalb der Fabrikhallen verfahren wurde. Es gab welche, die zumindest versucht haben den Leuten einigermaßen ausreichende Nahrungsmittel zukommen zu lassen, das konnte allerdings sehr böse enden, z.B. in einer "Irrenanstalt" weil man dem Befehl des Führers eben nicht gefolgt ist. Auch wenn das keine KZs waren, hinterher war man auf jeden Fall gebrochen.

Hätten mehr so gehandelt bzw. ihr handeln öffentlich gemacht und nicht so viele geschwiegen, weggesehen und einfach von "nichts nichts gewusst", dann wäre es wahrscheinlich nie so weit gekommen. Diese Situation, angefangen damit, dass man versucht die Presse auszuschalten, haben wir heute wieder. 20 % rennen den Führern hinterher und der große Rest (nicht alle) ziehen es vor zu schweigen, zuzusehen oder von nichts nichts zu wissen. Irgendwie wird sich das ja hoffentlich ganz von alleine lösen und wenn nicht... ::) ::) ::)

Zitat
Das die wenigsten Täter/Helfer hinterher über die Taten gesprochen haben, wird mit großer Sicherheit auch dem Verdrängungsprinzip zuzusprechen sein.

Nun, das lag zum einen daran, dass die Täter auch hinterher wieder in den oberen/obersten Positionen zu finden waren und durchaus wussten, wie sie die (ich nenne es jetzt mal so) "kleinen Leute" mundtot machen konnten. Du kannst davon ausgehen, dass die, denen es nach dem Krieg am Schnellsten wieder richtig gut ging, am dicksten ihre "schmutzigen Pfoten" im Geschäft hatten und vor-, während- und nachher ordentlich verdient haben. Gerüchten zu Folge sollen einige sogar Ministerposten erhalten haben oder große Geschäftsmänner (Arbeitgeber) bzw. "Banker" geworden sein.

Mit guten Taten wiederum brüstet man sich nicht, das ist kein guter Stil.
Ich habe erst Jahrzehnte später, nicht von meiner Großmutter, sondern von dem Geretteten selbst, erfahren, das eben sie mit ein paar anderen aus dem Viertel den "Judenjungen" gerettet und abwechselnd wohnen lassen bzw. versorgt haben. Darauf angesprochen meinte sie nur zu mir: Das war doch ein anständiger, lieber, fleissiger Junge, Der hat niemand was getan, da musste man doch helfen. Sonst nichts.

Die Schule auf die ich ging hat hunderte jüdischer Mädchen "katholiziert" und geretten bzw. ins Ausland verbracht (die Synagoge war gleich um die Ecke). Kein Wort haben die Nonnen darüber verloren, Pressearteikel dazu hätten sie am liebsten vermieden. Das war nämlich selbstverständlich. Auch im Unterricht wurde darüber nicht berichtet, nicht mal, wenn man nachgebohrt hat. "Nächstenliebe", Verantwortung", "Menschenliebe" oder einfach "Ehre" nennt sich so etwas. Damit geht man nicht hausieren, das hat man, oder man hat es nicht.
« Letzte Änderung: 22. Oktober 2019, 14:51:03 von Gutemine »
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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #19 am: 22. Oktober 2019, 14:53:05 »
Meine Großmutter hat mir oft erzählt, dass eine ganz "normale Drohung" für unartige Kinder z.B. war: "Paß auf, sonst kommst Du nach "auch da". Man hat öffentlich allerdings oft nicht gewagt das Wort Dachau und die dort stattfindenden Grauskamkeiten zu nennen.

In meinem Heimatdorf war die Drohung "Sei brav, sonscht komsch auf Dachau" noch in den 60ern gang und gäbe.

Das Dorf liegt etwa 100 km von Dachau entfernt.
Was dort genau vorging, konnten die Leute nicht wissen, denn wer rausgelassen wurde, hatte einen Revers zu unterschreiben, nichts zu sagen. Andernfalls wäre er wieder ins KL/KZ gekommen.

Man wußte, "daß dort fürchterliche Dinge passieren", wie die älteren immer erzählten. Die Leute, die zurückkamen, waren grün und blau geschlagen, ihnen fehlten Körperteile, die Nasen waren zerschlagen, sie konnten nicht mehr richtig laufen etc.

Das waren deutliche Anzeichen. Und Dachau war "nur" ein KZ! Dessen Existenz als "Umerziehungslager" schon 1933 in allen Zeitungen bekanntgemacht wurde.

Lies mal im Urteil, was Gröning aus Gesprächen mit seinen Kameraden so erfahren hat! Und lies auch, was ihm das Gericht zugute gehalten hat:

Zitat
61
3. Zugunsten des Angeklagten war zu berücksichtigen, dass er unbestraft und geständig war und dass er sich über viele Jahre, spätestens seit dem „SPIEGEL“-Interview von 2005 auch öffentlich, zu seiner Tätigkeit und den Vorgängen in Auschwitz bekannt hat. Seine Angaben in der Hauptverhandlung waren von großer, teils schonungsloser Offenheit geprägt. Die wiederholte Verwendung des damals üblichen „SS-Jargons“ ermöglichte der Kammer wichtige Erkenntnisse über seine innere Einstellung bei Begehung der Tat. Dies hebt ihn deutlich aus der Masse ehemaliger SS-Männer heraus, die Zeit ihres Lebens die von ihnen begangenen Taten entweder verschwiegen, bestritten oder beschönigt haben. Für ihn spricht außerdem, dass er sich dem Verfahren unter Anspannung sämtlicher geistiger und körperlicher Kräfte gestellt und insbesondere von den Aussagen der als Zeugen vernommenen Nebenkläger erkennbar beeindruckt war. Er hat sich - wenngleich er nur von einer moralischen, nicht aber einer strafrechtlichen Schuld ausging - von Anfang an ausdrücklich zu seiner Verantwortung bekannt und erklärte im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, in „Demut und Reue vor den Opfern zu stehen“. Eine Bitte um Vergebung „stehe ihm nicht zu“, um Vergebung könne er nur „seinen Herrgott bitten“. Ferner war zu berücksichtigen, dass die Taten mehr als 70 Jahre zurückliegen und es im Hinblick auf das hohe Alters des Angeklagten einer spezialpräventiven Einwirkung auf ihn nicht mehr bedarf. Schließlich war - losgelöst von der Frage der Haftfähigkeit, deren Prüfung der Kammer nicht obliegt - seine besondere Haftempfindlichkeit zu bedenken und nicht zuletzt auch darauf Bedacht zu nehmen, dass er mit Blick auf die in Artikel 1 GG verbürgte Menschenwürde zwar nicht die Gewissheit, aber doch zumindest die Chance haben muss, zu Lebzeiten aus der Haft entlassen zu werden (BGH, 27.04.2006, 4 StR 572/05, zitiert nach juris).
http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc.id=KORE221452015&st=null&showdoccase=1

Die Revisionsentscheidung des BGH:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=76632&pos=0&anz=1

Kurzzusammenfassung in der Pressemitteilung:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&anz=1&pos=0&nr=76630&linked=pm&Blank=1
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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #20 am: 22. Oktober 2019, 15:01:29 »
Mit guten Taten wiederum brüstet man sich nicht, das ist kein guter Stil.

In den 50er und 60er Jahren war das auch aus Karrieregründen keine gute Idee.

Schliesslich war man für alle, die mitgemacht oder zumindest weggesehen haben, das lebende Beispiel, dass es auch anders ging.

Der alte Deutsche Spiessbürgerreflex : Ich will nicht, also dürfen andere auch nicht!

Wie lange das Denken in den Köpfen steckt, kann man bei der Bundestagsdebatte über die Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren sehen. und das war 1998 bzw. 2002

Zitat
1998 beschloss daraufhin der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur Rehabilitierung der Deserteure und eine symbolische Entschädigung der Überlebenden und ihrer Angehörigen. Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege sah jedoch zunächst – im Unterschied zu anderen Opfergruppen – eine Einzelfallprüfung vor. Erst 2002 wurde das Gesetz in der Weise geändert, dass nun auch die Urteile der Militärgerichte gegen Deserteure der Wehrmacht pauschal aufgehoben wurden.[18] Der Bundestagsabgeordnete Norbert Geis (CSU) bezeichnete die „pauschale Aufhebung der Urteile gegen Deserteure im Zweiten Weltkrieg“ nach der ersten Lesung des Gesetzes am 28. Februar 2002 als eine „Schande“.
Stimmt, Eine Schande, das es so lange gedauert hat.

P. S.
Österreich war da nicht besser

Zitat
Ähnlich gestaltete sich die Rehabilitierung in Österreich: Der erste entsprechende Antrag wurde 1999 im Österreichischen Nationalrat behandelt.[20] Im Jahr 2005 folgte unter der Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ ein erstes Aufhebungsgesetz (BGBl. I Nr. 86/2005), das mehrere inhaltliche und juristische Lücken aufwies. 2009 folgte das „Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz“ (BGBl. I Nr. 110/2009), das pauschal sämtliche Urteile ohne Einzelfallprüfung aufhob. Explizit sprach „die Republik Österreich“ allen Deserteuren, Kriegsverrätern und sonstigen von der NS-Militärjustiz verfolgten Personen „ihre Achtung“ (§ 4) aus.

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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #21 am: 22. Oktober 2019, 17:55:57 »
Off-Topic:
@mork77

Das war bei den Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten aber genauso. Man schaue sich nur an, wann das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (Erbgesundheitsgesetz) aufgehoben wurde.

https://www.deutschlandfunk.de/ex-bez-geschaeftsfuehrerin-margret-hamm-in-eine-reihe-mit.1295.de.html?dram:article_id=457567

https://www.euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de/

Spoiler
Ein Gesetz mit langer Wirkung, oder: Kampf um Anerkennung und Entschädigung.

Herzing: Es sind zwei Stichtage, die für die Arbeit beim BEZ eine große Rolle spielen, das ist einmal der 14. Juli 1933, der Tag, an dem das sogenannte Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen wurde, und dann der 1. September 1939, das Datum, das der sogenannte Euthanasieerlass trägt, mit dem Hitler die NS-Euthanasiemorde eingeleitet hat. Beides hat sich auf jeweils hunderttausende von Menschen ausgewirkt: Sie wurden zwangssterilisiert oder ermordet. 1945, könnte man denken, war dieses Gesetz, der Erlass und auch die Ideologie dahinter eigentlich Makulatur – aber das war nicht so, oder?

Hamm: Nein, das war leider nicht so. Das lässt sich eigentlich abbilden an dieser Entschädigungsdiskussion, dass diese Dinge sich fortgesetzt haben in der Bundesrepublik.

Herzing: Warum wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 1945 nicht automatisch null und nichtig? Was für ein Nachleben hat dieses Gesetz gehabt?

Hamm: Ein ziemlich langes. Erst 2007 hat man es im Prinzip aufgehoben, im Prinzip. Dieses Gesetz ist nach 45, nach der Nazizeit, in den verschiedenen Alliiertenzonen … Unterschiedlich ist man damit umgegangen, und dann später in den verschiedenen Bundesländern auch. Und es ist eigentlich nur in Bayern aufgehoben worden direkt nach dem Krieg, und direkt nach dem Krieg, also ich glaube, 45, 46 war das, im gesamten sowjetischen Bereich. Und in allen anderen Ländern, die es damals gab, hat man unterschiedliche Gründe gefunden, um mit ihnen weiter zu arbeiten, so zum Beispiel in der englischen Zone, dass man das noch mal benutzen können wollte. Und 1974, wurde ja oft gesagt, seit der Zeit gibt es das nicht mehr, das ist aber nicht richtig, denn es wurde damals nur außer Kraft gesetzt, und ein Gesetz, was man außer Kraft setzt, kann man auch wieder in Kraft setzen.

Herzing: Aber es wurde ja in der Nachkriegszeit nicht mehr zwangssterilisiert. Wie hat sich dieser Fortbestand des Gesetzes ausgewirkt?

Hamm: Es gab ganz lange – und deshalb waren auch diese Bestrebungen zu diesem späteren Betreuungsgesetz –, es gab so eine Dunkelzone, wo immer noch sterilisiert worden ist. Das wurde dann geregelt endlich, als dieses neue Betreuungsgesetz dann verabschiedet worden ist. Aber einer der Gründe, warum das auch so weiter lief, das war jetzt nicht nur die unterschiedliche Handhabung in den unterschiedlichen Zonen und späteren Bundesländern, sondern auch die Kontinuität der Täter in den Funktionen, die Beeinflussung gemacht haben.

Als das erste Mal über Entschädigung für Zwangssterilisierte diskutiert worden ist, das war ein Ausschuss 1961, wo Leute als Gutachter eingeladen worden sind, und von den sieben geladenen Gutachtern waren drei NS-Täter, das war Herr Fillinger, Herr Nachtshalm und Herr Ehrhardt, und alle drei waren in diesen Bereichen tätig. Herr Fillinger hat ungefähr 1700 Menschen in Bethel angezeigt zur Zwangssterilisation, hat später als T4-Gutachter die Menschen selektiert für die Euthanasie und war dann in der Bundesrepublik später hoch angesehen, der Herr Nachtsheim hat an epileptischen Kindern geforscht, und der Herr Ehrhardt, der saß im Erbgesundheitsgericht und Erbgesundheitsobergericht und hat die Urteile gefällt.

Und diesem Herrn Professor Ehrhardt sind wir immer noch begegnet, nachdem der BEZ gegründet war, und das hat mich absolut erschrocken, dass der immer noch 1987 vom Bundestag eingeladen worden ist, um als Gutachter zu sprechen. Der hat genau das Gleiche abgelassen, was er 1961 auch schon gesagt hat, dass das alles so rechtens gewesen sei und dass man nichts machen könne, und damals, 61, sprachen sie von Entschädigungsneurosen. Und aufgrund dieser Gutachtertätigkeit 61 sind diese Opfer aus dem BEG ausgeschlossen gewesen.

Herzing: Aus dem Bundesentschädigungsgesetz, das in der Nachkriegszeit eingerichtet wurde, um die Opfer des NS-Regimes zu entschädigen, also finanziell zu entschädigen.

Hamm: Ja.
...
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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #22 am: 23. Oktober 2019, 10:17:10 »
Hatten wir den Artikel des Tagesspiegel eiegentlich schon mit einigen Angaben zu dem Angeklagten?

https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/einer-der-letzten-ns-prozesse-beginnt-wie-viel-schuld-traegt-bruno-d-/25119456.html
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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #23 am: 23. Oktober 2019, 11:20:57 »
Hatten wir den Artikel des Tagesspiegel eiegentlich schon mit einigen Angaben zu dem Angeklagten?

https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/einer-der-letzten-ns-prozesse-beginnt-wie-viel-schuld-traegt-bruno-d-/25119456.html

Zitat
Nach Überzeugung der Staatsanwälte hätte er jederzeit um Versetzung an die Front bitten können. Dadurch hätte sich im Lager aber nichts geändert, wendet Bruno D. ein. „Ich hätte niemandem geholfen. Niemandem. Ich hätt’ nur mir selber geschadet.“

Einmal mehr, er hat eine Entscheidung getroffen und muss nun die Konsequenzen tragen. Das sollte Auch mit 93 noch nachvollziehbar sein. Gut, überzeugter Nazi war er wohl nicht.

Leider steht im Artikel nicht, was denn mit dem Angeklagten zwischen Januar und Mai 1945 passiert ist. Was geschah nach der Räumung von Stutthof? Hat er sich verdrückt? oder hat er einen der Todesmärsche begleitet?
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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #24 am: 23. Oktober 2019, 11:46:37 »
Die Nachkriegslegende "wir haben von nichts gewuss" taugt nicht zur Exkulpation, allein wenn man bedenkt, wieviele von Instanzen jenseits der SS mit den Deportationen befasst waren oder wenn man sich anschaut, wer alles von der Arisierung herrenlos gewordenen Eigentums profitierte. Schaut man sich die Auktionshäuser aus den 1940ern an, wird man in den Versteigerungskatalogen oft den Hinweis finden "aus jüdischem Eigentum." Das Auktionshaus Klemm z.B. aus Leipzig hat deutschlandweit Zeitungsanzeigen geschaltet, in denen ebenfalls ein solcher Hinweis explizit aufgeführt wurde. Jeder Käufer wusste also zumindest woher die erworbenen Möbel oder Kunstgegenstände kamen und konnten zumindest ahnen, wieso diese Güter versteigert wurden. Das Wissen um die Endlösung in all ihren Formen -Deportationen, Sklavenarbeit, Erschießungen, Vergasungen- dürfte deutlich weiter verbreitet gewesen sein, als allgemein angenommen. Bei den Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen 1941 haben sich immer wieder Wehrmachtsangehörige freiwillig gemeldet, so dass sich die Militärs genötigt sahen dies via Befehl zu verbieten, auch wurden viel fotografiert und die Fotos mit Feldpost an die Angehörigen verschickt.

Was ich ein wenig verwunderlich finde, Bruno D. kam aus der Nähe von Danzig, Stutthof liegt keine 40 Kilometer davon entfernt, ein Mitspracherecht, wo oder wie er verwendet wird hatte er wohl kaum, aber ein Versetzungsantrag sollte jederzeit möglich gewesen sein. Es mag nach 1943 noch Freiwilligenmeldungen für die W-SS gegeben haben, die allermeisten wurden allerdings regulär eingezogen, es gibt eine Reihe von belegten Fällen, wo ganze Schulklassen gezwungen wurden, sich "freiwillig zu melden." Kann jemand erklären, wieso Bruno D. nicht befördert wurde? Er war doch mindestens für 1 1/2 Jahre bei der SS wird aber nur als Schütze geführt.
Hirsche nicht aufs Sofa!
 
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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #25 am: 23. Oktober 2019, 12:01:58 »
Was ich ein wenig verwunderlich finde, Bruno D. kam aus der Nähe von Danzig, Stutthof liegt keine 40 Kilometer davon entfernt, ein Mitspracherecht, wo oder wie er verwendet wird hatte er wohl kaum, aber ein Versetzungsantrag sollte jederzeit möglich gewesen sein. Es mag nach 1943 noch Freiwilligenmeldungen für die W-SS gegeben haben, die allermeisten wurden allerdings regulär eingezogen, es gibt eine Reihe von belegten Fällen, wo ganze Schulklassen gezwungen wurden, sich "freiwillig zu melden." Kann jemand erklären, wieso Bruno D. nicht befördert wurde? Er war doch mindestens für 1 1/2 Jahre bei der SS wird aber nur als Schütze geführt.

Der überwiegende Teil der Wachmannschaft von Stutthoff wurde aus der Danziger SS-Heimwehr rekrutiert. Bei dem Angeklagten wird man ihn wahrscheinlich heimatnah eingesetzt haben. Gemuster wurde er Anfang 1944, war danach aber krank und erst ab August 1944 im Einsatz in Stutthoff. Krankheit, "Herzfehler" und , wenn es denn stimmt, eher "Dienst nach Vorschrift" machten ihn wahrscheinlich nicht zu einem geeigneten Kandidaten für eine Beförderung. In der Wehrmacht war die Beförderung zum Gefreiten nicht zwangsläufig, in der Waffen-SS somit vermutlich auch nicht.
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Offline A.R.Schkrampe

Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #26 am: 27. Oktober 2019, 13:32:40 »
Er traf eine Entscheidung, nämlich sich nicht für die Front zu melden.
Im Gegenteil scheint es so gewesen zu sein, daß er von der Wehrmacht zur SS kam und dann ins Vernichtungslager Stutthof (warum auch die ZEIT verharmlosend von einem KZ spricht, ist mir nicht klar)..

Die als Gutachter täten Historiker werden darlegen, was sie dazu herausgefunden haben, die Stammkarten der SS sind ja oft erhalten. Zur SS ging man freiwillig.

Man wird derzeit vorsichtig folgern dürfen, er habe ein gefährliches Leben an der Front mit einem ruhigen im Hinterland vertauschen wollen.

Die Feststellung, er habe überwiegend Mitleid mit sich selbst, dürfte wohl zutreffen.

Es wurde niemand gezwungen, Dienst im KZ zu tun.

Als mein Opa 1943 schwerverwundet und nicht mehr fronttauglich aus Rußland zurückkam, bot man ihm ein Führungsposten in der Verwaltung des KZ Stutthof an.

Auf sein:
"Danke für das Angebot, aber das ist nichts für mich"

kam als Antwort:
"Gut, dann eben nicht. Wir dachten, wir tun Ihnen ein Gefallen, wenn wir Sie heimatnah einsetzen."

- und damit war die Sache erledigt.

Wobei mein Opa nicht bei der SS war, sondern einstmaliger Berufssoldat der Reichswehr in der Wehrmacht.
Die Reichswehr-Vergangenheit war ihm wichtig. Bis weit in die Kriegszeit hinein war die Frage "Vor oder nach dem 20.August 1934" intern sehr bedeutsam.
 
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Offline kairo

Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #27 am: 27. Oktober 2019, 17:19:51 »
Bis weit in die Kriegszeit hinein war die Frage "Vor oder nach dem 20.August 1934" intern sehr bedeutsam.

Ist da zufällig der 2. August gemeint? An diesem Tag wurde die Reichswehr nach dem Tod Hindenburgs auf Hitler vereidigt.
 

Offline A.R.Schkrampe

Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #28 am: 27. Oktober 2019, 20:04:36 »
Bis weit in die Kriegszeit hinein war die Frage "Vor oder nach dem 20.August 1934" intern sehr bedeutsam.
Ist da zufällig der 2. August gemeint? An diesem Tag wurde die Reichswehr nach dem Tod Hindenburgs auf Hitler vereidigt.

Ja, der Tag, an dem der Fahneneid geändert wurde.

 :think: dann habe ich den 20.August von irgendwo falsch übernommen.
 

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Re: Prozess gegen Aufseher im KZ Stutthof beginnt
« Antwort #29 am: 28. Oktober 2019, 16:26:02 »
Nicht nur in Auschwitz, sondern auch in Stutthof wußten die Häftlinge von den Gaskammer der Aussage eines zeugen nach.
Und ein Wachmann will nichts gewußt haben? Obwohl er schon ausgesagt hatte, tote Häftlinge gesehen zu haben?



Zitat
Stutthof-Prozess: Gaskammern ein "offenes Geheimnis"

Marek Dunin-Wasowicz, Überlebender des KZ Stutthof, sitzt als Zeuge und Nebenkläger im Landgericht Hamburg. © dpa Foto: Christian Charisius

1944 war Marek Dunin-Wąsowicz als politischer Gefangener ins KZ Stutthof bei Danzig gekommen.

Im Hamburger Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann im KZ Stutthof hat am Montag ein polnischer Überlebender als Zeuge ausgesagt. Der 93-jährige Marek Dunin-Wasowicz erklärte, dass er zusammen mit seinem Bruder am 25. Mai 1944 in das Lager bei Danzig gebracht worden sei. Dass Menschen in der Gaskammer von Stutthof getötet wurden, sei unter den Häftlingen ein "offenes Geheimnis" gewesen.

"Ich habe die Gaskammer gesehen"
"Ich habe die Gaskammer gesehen, aber direkt habe ich das nicht gesehen", sagte er nach den Worten einer Dolmetscherin über die Mordaktionen der SS. "Wenn die Häftlinge von den SS-Leuten abgeholt wurden, von der Arbeit oder der Baracke, und sie nie wieder aufgetaucht sind, dann war es klar, dass sie ermordet worden sind", sagte der Zeuge.
https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Stutthof-Prozess-Gaskammern-ein-offenes-Geheimnis,stutthof140.html
Merke: Es genügt natürlich nicht, dämlich zu sein. Es soll schon auch jeder davon wissen!

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