Am 15. März wurde im Internet die "Gemeinsame Erklärung" publiziert, versehen mit den Unterschriften von 34 Erstunterzeichnern. Sie enthielt nur zwei Sätze: "Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird."
Nach wenigen Tagen hatten sich der Erklärung 2018 Unterzeichner angeschlossen. Fortan hieß sie "Gemeinsame Erklärung 2018", und die Erstunterzeichner, darunter Vera Lengsfeld, Henryk M. Broder, Frank Böckelmann, Uwe Tellkamp, Thilo Sarrazin, Matthias Matussek, gaben bekannt: "Bisher war diese Erklärung auf Autoren, Publizisten, Künstler, Wissenschaftler und andere Akademiker begrenzt. Mit dem 2018. Unterzeichner schließen wir die Liste - und öffnen sie auf vielfachen Wunsch für alle."
Die damit aufgehobene Akademikerklausel war nicht sehr rigoros gewesen. Henryk M. Broder hat sein Studium nie abgeschlossen und dürfte das durch seine Hyperaktivität in der "Achse des Guten" kompensiert haben; der Schauspieler Uwe Steimle ist weniger durch akademische Laufbahnschriften bekannt geworden als durch seine Kommissarrolle im "Polizeiruf 110" und sein Talent als Honecker-Imitator. Dennoch war die symbolische Geste bedeutsam. Sie zeigte in wünschenswerter Deutlichkeit: Top-down ist wieder in.
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Ein Club öffnet seine Pforten für alle und kündigt an, seine zunächst exklusive "Erklärung" in eine Massenpetition an den Deutschen Bundestag zu verwandeln - und schon kommen die Massen. Schnell war die Marke von 50 000 Unterzeichnern erreicht, gut 70 000 dürften es an diesem Donnerstag sein. Da sie ihre Berufe und Titel angeben, ist unübersehbar, dass zur hier versammelten Masse wie zum ursprünglichen Club überdurchschnittlich viele "Publizisten, Künstler, Wissenschaftler und andere Akademiker" gehören.
Soziologisch gesehen, wird diese Massenpetition also von Leuten getragen, die eher der "Elite" und dem "Establishment" nahestehen als dem "kleinen Mann" und dem "Volk", in dessen Namen die Fundamentalkritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung so häufig erfolgt. Es sind Kulturwissenschaftler und Philologen, Autoren und Bibliothekare, Psychologen und Psychoanalytiker, erfolgreiche Schauspieler, Naturwissenschaftler, ehemalige oder aktuelle Moderatoren und Redakteure der öffentlich-rechtlichen Sender, Philosophen, Ärzte, Filmemacher, Historiker.
Hier zerbricht eine Illusion, die im liberalen politischen Spektrum weit verbreitet ist
Beim Erfolg der "Gemeinsamen Erklärung 2018" sind die Titel und akademischen Berufsschilder keine quantité néglieable. Sie zerstören eine Illusion, die im liberalen politischen Spektrum weit verbreitet ist, die Illusion, dass Leute, die mit Büchern zu tun haben, Leute, die ihrem Beruf als Psychologen oder Philologen als Virtuosen hermeneutischen Verstehens nachgehen, Leute, die chemische Lösungen oder physikalische Modelle analysieren, in politischen Dingen feinsinniger, differenzierter seien als Leute mit geringerem Bildungsgrad. Ihre prägnanteste - und zugleich politisch naivste - Formel hat diese Illusion in dem Satz gefunden: "Der Geist steht links."
Die Unterzeichner der "Gemeinsamen Erklärung 2018" versammeln sich hinter der Petition an den Deutschen Bundestag, die zweierlei verlangt. Erstens, "dass die von Recht und Verfassung vorgesehene Kontrolle der Grenzen gegen das illegale Betreten des deutschen Staatsgebietes wiederhergestellt wird". Und zweitens die Einsetzung einer Kommission, die der Bundesregierung Vorschläge unterbreiten soll, "wie der durch die schrankenlose Migration eingetretene Kontrollverlust im Inneren des Landes beendet werden und wirksame Hilfe für die tatsächlich von politischer Verfolgung und Krieg Bedrohten organisiert werden kann und wo dies idealerweise geschehen sollte".
Es ist gut, dass die "Gemeinsame Erklärung 2018" ihren Weg in den Bundestag findet
Wie die Zweisatzerklärung lebt die Petition von Voraussetzungen, die sie nicht begründet. Sie unterstellt, dass es derzeit, im Frühjahr 2018, eine Masseneinwanderung in die Bundesrepublik Deutschland gibt, dass diese "illegal" erfolgt und dass dieser Rechtsbruch von der Regierung geduldet, wenn nicht gar gefördert wird. Das sind sehr steile Behauptungen, denn sie suggerieren, die Bundesrepublik befinde sich im Ausnahmezustand der Rechtlosigkeit, sowohl an den Grenzen wie im Inneren. In begleitenden Interviews haben die Initiatoren der Erklärung, etwa Vera Lengsfeld, diese Rhetorik des Ausnahmezustandes ausdrücklich auf die nahe Zukunft ausgedehnt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD besiegele die Fortsetzung der Politik der "Rechtlosigkeit".
Es ist sehr gut, dass die "Gemeinsame Erklärung 2018" den Weg in den Petitionsausschuss des Bundestages finden wird. Und hoffentlich auch als Diskussionsgegenstand in das Plenum des Bundestages. Denn der Petitionsausschuss, in dem die Petitenten Rederecht haben, ist nicht nur, wie es seine Selbstbeschreibung will, ein "Seismograf, der die Stimmung der Bevölkerung aufzeichnet". Er ist zugleich eine Schleuse, der diese Stimmungen in den Raum der diskursiven politischen Auseinandersetzung überführt.
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Es ist ein Raum, in dem die Club-Regel der "Gemeinsamen Erklärung" nicht gilt, die bekanntlich besagt: Du sollst keine anderen Rechtsgelehrten konsultieren als den Richter Udo Di Fabio, der ein kritisches Gutachten zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung vorgelegt hat. Es ist ein Raum, in dem die Leute wissen, was im Koalitionsvertrag steht, der im Kapitel VIII ("Zuwanderung steuern - Integration fordern und unterstützen") die restriktive Linie der vergangenen zwei Jahre fortsetzt, die Zuwanderung von Flüchtlingen insgesamt auf "die Spanne von jährlich 180 000 bis 220 000" und den derzeit ausgesetzten Familiennachzug nach dem 1. August 2018 auf 1000 Personen pro Monat begrenzt.
Lange konnten die Deutschen angesichts der Migration in der Zuschauerposition verharren
Und diese Sphäre der politischen Auseinandersetzung ist ein Raum, in dem angesichts von Krisenregionen wie Syrien und Afghanistan die Neigung der Initiatoren der "Gemeinsamen Erklärung" auf Widerstand stoßen wird, möglichst wenig von Asylsuchenden und möglichst viel von Migranten zu sprechen und das Wort "Asylparagraf" vor allem in den Mund zu nehmen, um ihm sogleich das Wort "Missbrauch" folgen zu lassen. Wenn Vera Lengsfeld auf ihrer Website schreibt, "dass der Asylparagraf des Grundgesetzes als Einwanderungsvehikel missbraucht wird", sagt sie dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nichts Neues. Aber eben deshalb gibt es im Asylverfahren die Einzelfallprüfung.
Vor allem aber ist der politische Diskurs eine Sphäre, in der über die Hintergrundvoraussetzungen konkreter politischer Entscheidungen und Initiativen gestritten werden kann. Darum wäre eine Debatte über die "Gemeinsame Erklärung 2018" für die von ihr attackierte Bundeskanzlerin eine Chance, die Leerstelle zu füllen, die sie seit dem Herbst 2015 hat entstehen lassen. Diese Leerstelle ist, knapp gesagt, dadurch entstanden, dass die Kanzlerin ihre Flüchtlingspolitik primär als humanitäres Projekt legitimiert hat, ohne sie zugleich als rationales politisches Handeln erscheinen zu lassen.
Das aber wäre dringend nötig gewesen. Einer deutschen Öffentlichkeit, aus der die Erinnerung an die Balkankriege der Neunzigerjahre noch nicht ganz entschwunden ist, hätte sich das außenpolitische Motiv, eine neuerliche Destabilisierung des Balkan durch einen Flüchtlingsrückstau zu vermeiden, plausibel machen lassen. Die Massenpetition fordert die Kanzlerin heraus, die Leerstelle einer zusammenhängenden Erzählung und Erklärung ihrer Flüchtlingspolitik zu füllen. Nur so kann sie das beliebte Klischee, sie sei der "Gesinnungsethik" auf Kosten der "Verantwortungsethik" gefolgt, entkräften.
In einem lesenswerten Interview mit der NZZ hat der Philosoph Peter Sloterdijk, angesprochen auf die Ressentiments und das Unbehagen in Gesellschaften wie der Bundesrepublik, gesagt: "Freud hat das Unbehagen in der Kultur durch den Triebverzicht erklärt. Mir scheint, heute sei das Unbehagen eher damit verbunden, dass man das Zuschauerprivileg verliert." Lange lebten die Deutschen in der Illusion, angesichts der globalen Migrationsbewegungen in der Zuschauerposition verharren zu können. Die Gründe, aus denen sie mehr und mehr zu ihrem Schauplatz geworden sind, können sie nicht abwählen.
Nicht zuletzt führt übrigens die Schleuse des Petitionsausschusses in einen Raum, in dem es sich nicht jeder gefallen lässt, von Leuten über den "Kontrollverlust im Inneren des Landes" belehrt zu werden, die keine Sorge um den Rechtsstaat erkennen ließen, als der NSU unter ungeklärter Beteiligung von Verfassungsschutzorganen die Republik mit einer Terrorwelle überzog.
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