Bei so etwas ist man nur noch fassungslos.
Fassungslosigkeit alleine hilft aber nicht weiter. Schließlich ist die Medizin die Wissenschaft mit dem meisten Graustufen, also ein Buch mit hunderten von Siegeln für Leute, die die Welt nur in dualen Kategorien erfassen können. Das und die Tatsache, daß die Krebstherapie ihre wichtigsten Fortschritte erst gemacht hat, nachdem dem Exilanten die Approbation entzogen wurde, sollte man sich vergegenwärtigen, wenn man das Phänomen "Hamer" irgendwie erfassen (ich vermeide mit Absicht das Wort "verstehen") will.
Nehmen wir als Beispiel das Mammakarzinom. Im seinem
"Armamentarium Chirurgicum bipartitum"*, welches als erstes Handbuch der Chirurgie aus Deutschland gilt, dürfte
Johannes Scultetus (1595-1645) mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wenigstens einen Fall einer Brustkrebspatientin beschrieben haben. Aber erst
George Thomas Beatson (1848-1933) stolperte eher zufällig über die Tatsache, daß
einige Arten dieser Krebszellen empfindlich auf den Entzug der Östrogene reagieren, offenbar ohne, daß er die Zusammenhänge vollständig verstehen konnte. Er hatte in den neunziger Jahren ein paar Frauen mit weit fortgeschrittenem Brustkrebs mittels Ovariektomie behandelt, wovon die Mehrzahl genas, aber eine dennoch starb, weshalb er diese Behandlungen selbst nicht wieder vornahm. Und erst lange nach dem zweiten Weltkrieg stand mit der Kombination aus
Cyclophosphamid,
Methotrexat und
5-Fluorouracil (CMF) die erste medikamentöse Therapie zur Verfügung.
Prof. Dr. Klaus Thomsen (1915-1992) traute sich Anfang der achtziger Jahre erstmals, brusterhaltend zu operieren, was damals auf das Schärfste verurteilt wurde. Das von ihm zu der Zeit empfohlene CMF-Medikationsschema kann heute kaum noch ein Gynäkologe nachvollziehen, auch wenn er diese Medikamente einsetzen würde - inzwischen gibt es einen ganzen Strauß weiterer Chemotherapien, mit denen sich die Ärzte auf den speziellen Krebstyp einstellen können. Und während man deren Verträglichkeit deutlich verbessern konnte, steigt immer noch ein beträchtlicher Teil der Frauen aus der fünfjährigen Hormontherapie aus: Manche vertragen die nur mit Hilfe von Sachen, die man in jedem gut sortierten Reformhaus kaufen kann. Zur interdisziplinären Mannschaft eines Brustzentrums sollten heute ganz selbstverständlich auch Naturmediziner gehören.
Hamers Pudeln ist also nicht nur schlicht ihre Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, sondern vor allem, die Entwicklung der Medizin in den letzten fünfunddreißig Jahren (im Vergleich zu den drei Jahrhunderten zuvor drei Ewigkeiten) komplett verschlafen zu haben.
*Ein Originalexemplar befand sich auch im Bestand der ehemaligen
Bibliothek des Ärztlichen Vereines Hamburg