ich hab sowieso nie verstanden aus welchem Grund sie sich überhaupt diesen Schuh angezogen hat. Ist regieren wirklich so geil, wie Joschka Fischer das einstmals behauptet hat, daß man guten Gewissens eine Politik verfolgen kann die der eigenen Meinung diametral gegenüberstehen?
@Fatzke Nein, man will regieren, weil man "die anderen" für noch bescheuerter hält, als sich selber und die eigenen Leute.
Aber wenn du wirklich wissen willst, wie das ist, dann musst du es selber tun. Oder folgende Zeilen lesen.
Die Mechanismen sind im Kleinen wie im Großen nahezu gleich. Aber zur Sache:
Du beziehst dich vermutlich direkt auf die Regierung, also die Minister bzw. den Regierungschef.
Spoiler: Ja, regieren ist schon nicht schlecht.
Vor jeder Regierungsübernahme steht immer eine Wahl - die musst du erstmal gewinnen - bzw. deine Partei. Dann musst du irgendwas können. Irgendwas reicht eigentlich, wenn die Partei will, wird man dich nach deinen Fähigkeiten einsetzen. Kannst du was, aber keiner kann dich leiden, hast du in der Regel nicht die Möglichkeit, an ein herausragendes Amt zu kommen, es sei denn, du bist der Einzige, der im gefragten Fachgebiet irgendwas kann. Natürlich muss man sich auch selber ins Spiel bringen - das geht aber nur durch Engagement und Zuverlässigkeit, oder durch gute Rhetorik.
Alsdann musst du dir selber klar sein, ob du bereit bist, die zugedachte Verantwortung zu übernehmen. Zum Beispiel die Gesamtverantwortung für die Finanzen. Sagen wir mal "Ja".
Hat man dieses Stadium erreicht, muss man unbedingt abwägen, ob man die nötigen zeitlichen Ressourcen dafür hat. Da ist man meist hinterher schlauer... - nein, hat man nicht. Nie. Nimmt man seinen Job ernst, ist man 24/7 in Aktion. Aber es gehört auch einfach der Mut dazu, zu sagen: "Ja, ich versuch´s!" Mit diesem Ansatz tritt man vor das Parlament und wird schließlich gewählt - Herzlichen Glückwunsch - oder besser: Herzliches Beileid!" - denn jetzt hat man die ganze ♥♥♥ am Hals, auch wenn man das vielleicht noch nicht realisiert.
Es folgt sodann das Briefing durch die Verwaltung. Man bekommt Informationen, bei denen man anfängt zu toben. Während du noch von gar nichts eine Ahnung hast, kommen die ersten Anforderungen von ganz speziellen Entscheidungen, regelmäßig mit rechtlichem Hintergrund, all das gerne umgeben von unzähligen Klagedrohungen. Das ist der Moment, in welchem du dich fragst: "Warum in aller Welt geb´ ich mir diesen Scheiß?!?" Naja, du bekommst etwas Geld dafür. Viel weniger als in der freien Wirtschaft, Kündigungsschutz und Arbeitnehmerrechte gibt´s auch nicht, dafür aber ´ne 60-80-Stunden-Woche. Es ist nicht so, dass man die ganze Zeit wirklich arbeitet, viele Stunden sind auch einfach Telefonate, Sitzungen oder lesen. Es kommt aber auch auf das Amt an, nicht überall ist gleich viel zu tun. Doch auch Telefonate und Sitzungen sind anstrengend, weil man dabei denken muss.
Einen wesentlichen Teil deiner Arbeitszeit nimmt das operative Geschäft ein. Also Verwaltungskram. Man ist ja schließlich Leiter von einer Behörde. Die einfachen Sachen arbeitet man schnell ab nach Schema F, das hat man schnell drauf. Interessant werden die Ermessensentscheidungen. Ja huch, Ermessen - das bedeutet, man trifft Entscheidungen. Täglich und viele. Ja, auch Sonntags. Übt man Ermessen aus, muss man seine Entscheidung begründen - was auch mal Stunden dauern kann.
Daneben hat man noch seine Agenda, das, was man politisch erreichen will. Immer wieder sucht man nach Fenstern, in denen man Zeit hat, seine Agenda auszuformulieren, unter die Leute zu bringen und um Zustimmung zu werben. Je nach Leistungsfähigkeit deiner Behörde hast du mehr oder weniger Zeit dafür. Das stellt dich dann vor das nächste Problem: Dein Personal. Die Zusammenarbeit muss schon klappen zwischen dir und deiner Behörde. Dementsprechend ist es schon hilfreich, wenn du ungefähr die Regeln der guten Zusammenarbeit beherrschst - sonst scheiterst du direkt an deiner Verwaltung, weil die nicht machen, was du ihnen sagst. Du musst wissen: Jede Verwaltung hat ihre ganz eigenen Interessen, die du erst mit der Zeit herausfindest.
Aber du weißt noch eines: Du bist jetzt der mit der Entscheidungsbefugnis. Du hast eigene gesetzliche Rechte, die du auch durchsetzen kannst, zum Beispiel, indem du deine Unterschrift verweigerst, wenn Schwachsinn laufen soll. Denn ohne deine Unterschrift läuft kein Cent über den Tisch. Das ist die berühmt-berüchtigte "Macht". Und du bist jederzeit redeberechtigt. Das ist auch nett. "Aber Macht ist doch böse!" sagst du schätzungsweise jetzt. Nein, das ist sie nicht, wenn sie gesetzmäßig und moralisch eingesetzt wird. Es hilft doch nichts: Irgendwer muss die Entscheidungen treffen, denn sonst passiert halt einfach gar nichts.
Im operativen Verwaltungsgeschäft kannst du es aber halt schon weitgehend so laufen lassen, wie du das gerne hättest, um mal den Rückbezug zu Joschka Fischers Aussage zu führen.
Wer darauf steht, eine gewisse Kontrolle über Abläufe zu haben, kann sich im Falle von seiner Meinung diametral entgegenstehenden Entscheidungen damit trösten, dass er sagen kann: "Naja, aber ansonsten passt das schon - und wer weiß, vielleicht kann man die "schlechte" Entscheidung später noch zum aus seiner Sicht Positiven verändern. Aber: Man muss sich bewusst sein, dass man auch selber total falsch liegen kann. In dem Fall muss man auch bereit sein die Konsequenzen zu ziehen und seine Meinung fallen zu lassen. Stur wie ein alter Esel zu sagen: "Nööö, ich will aber nicht, mimimi, alle doof außer mich!", führt zu recht schnellem Amtsverlust... Das heißt aber nicht, dass es nicht auch vorkommen kann, dass man als Einziger recht hat und die anderen es erst später merken. Dann muss man durchhalten und erklären. Jedem einzeln 3x. Sowas ist schlimm.
Macht heißt auch, dass du fördern und bremsen kannst. Jeder vernunftbegabte Mensch fördert diejenigen Projekte, die ihm sinnvoll erscheinen und bremst die aus, die seiner Ansicht nach Unsinn sind. Welch Überraschung: Man wurde ja als Repräsentant gewählt, wenn man nun auch tatsächlich Entscheidungsgewalt hat, übt man sie selbstnatürlich so aus, wie sie einem für richtig erscheint, respektive wofür man zur Wahl angetreten ist. Ja, insofern ist es "geil" zu regieren. Und sogar befriedigend, wenn man tatsächlich Erfolge seines Handelns sehen kann. Im Kleinen mag das eine gut gelungene Veranstaltung sein, eine hilfreiche Rechtsänderung im Großen, ein Punkt seiner eigenen Agenda durchgesetzt sehen - all sowas ist schon nett. Dann nimmt man auf der anderen Seite auch mal zähneknirschend hin, dass es woanders halt nicht geklappt hat mit den eigenen Vorstellungen.
Informationen. Für Leute mit allumfassender Neugier ist ein Regierungsamt großartig. Wissen war schon immer Macht. Und man kommt an Wissen ran, was man sich nicht ausdenken kann. Und plötzlich ist für andere interessant, was du machst und sie versuchen, an deinem Wissen teilzuhaben - also die umgekehrte Situation zum sog. "einfachen Bürger". Auch das ist recht nett.
Aber dann ist da ja noch die ganze Sch..., die man am Hals hat. Unklarheiten. Renitenz. Gemeinheiten. Bürger. Ich weiß nicht, was davon das Schlimmste ist. Naja, Unklarheiten kann man beseitigen durch Entscheidungen - soll doch wer gegen klagen - tun sie eh. Renitenz nervt. Sehr. Ständig Macht direkt anzuwenden macht wenig Freude, weil man sich damit unbeliebt macht und in einen Teufelskreis gerät, der im Burnout endet. Gemeinheiten, insbesondere solche unter Kollegen - damit muss man klarkommen, ist überall gleich. Bürger - wertvolle Hinweise, aber auch zügellose Beleidigungen und Tiraden. Also "geil" ist sowas so gar nicht. Warum gibt man sich den Mist trotzdem? Man muss drauf stehen und an einem Helfersyndrom leiden.
In den ehrlichen Gesprächen unter Alkoholeinfluss sind - sorry - jedenfalls die Koalitionskollegen und die Bürger gleichermaßen das Allerschlimmste. Und ob du es glaubt oder nicht: Kaum ein paar Sätze später geht es wieder darum, was man denn gerne für den Bürger rausholen würde, oder wo man gegen Verarschung des Bürgers aufklären oder sie gar abstellen könnte. "Haben wir nicht eben noch über die Bürger geschimpft?" "Ähm... ja..., aber..."
Es ist ein blödes Vorurteil, dass es Politikern darum geht, sich möglichst viel Geld in die eigene Tasche zu stopfen. Kann man gar nicht ohne Korruption. "Ja, aber die sind doch alle korrupt!" - Nein, sind sie nicht. Ok, einige schon. Das lernt man mit der Zeit und passt idealerweise auf, dass diese Leute keine Posten bekommen. Leider kann man da manchmal nichts machen, besonders wenn genug andere noch nichts von der Bestechlichkeit wissen. Oder wenn sie es wissen und sich Vorteile erhoffen. Wenn man selber nicht korrupt ist, ist das teilweise echt hart. Aber soll man es ganz den Korrupten überlassen, oder soll man versuchen, diese Leute plattzumachen? Wer es ernst meint, wählt Zweiteres. Kleiner Hinweis für den Alltag: Wer am Lautesten schreit, ist meist auch sehr korrupt. Gefährlich sind auch die Stillen und die besonders Netten.
Opposition ist Mist, da hat Müntefering recht. Du siehst die (aus deiner Sicht) galoppierende Inkompetenz deiner Nachfolger und denkst dir: "Der darf um Gotten Willen im Interesse aller nicht im Amt bleiben!" - und darum trittst du doch irgendwann wieder an. Immerhin bist du mit dem Gedanken nie alleine, denn genau das denkt dein Nachfolger über dich auch. Naturgesetz.
Zusammengefasst geht man in die Regierung, weil man etwas bewegen will. Wenigstens irgendwas. Um etwas bewegen zu können, braucht man Macht oder viel Geld. Besser ist aber Macht, Geld stinkt.