Nochmal zum 100-jährigen Wachmann.
Offenbar kann ihm der Gutachter sogar den freiwilligen Eintritt in die SS nachweisen:
Spoiler
Er habe „überhaupt nichts getan“
Als Klement bei der Verlesung der Anklage von den sowjetischen Kriegsgefangenen berichtet, die jeden Monat zu Hunderten ermordet wurden, regt sich etwas im Angeklagten. Josef Sch. blickt zu Boden, schaut zur Seite, nestelt an seinen Ärmeln, bewegt die Hände. Es lässt ihn anscheinend nicht kalt, was Klement vorliest. Vielleicht denkt er an damals, an die Zeit von Dezember 1941 bis Januar 1945, als er SS-Mann war und im KZ Menschen bewachte, die ermordet werden sollten.
Jahrzehntelang hat er über diese Periode in seinem Leben geschwiegen, und jahrzehntelang wollte auch niemand etwas davon hören, jedenfalls keine Staatsanwaltschaft, ob nun in der DDR oder in der Bundesrepublik.
Und dann sitzt da, lange vor Beginn der Verhandlung, Leon Schwarzbaum, 100 Jahre alt, in einem Rollstuhl in der Turnhalle. Schwarzbaum ist aus Berlin angereist, er hat mehrere KZ überlebt, darunter das Vernichtungslager Auschwitz. In Sachsenhausen war er auch, aber nach der Dienstzeit des Angeklagten. „Es ist der letzte Prozess für meine Freunde, Bekannten und meine Lieben, die ermordet worden sind, bei dem der letzte Schuldige noch verurteilt wird, hoffentlich“, sagt Schwarzbaum vor der Verhandlung.
Der Holocaust-Überlebende Leon Schwarzbaum besuchte den NS-Prozess
Der, der im Lager irgendwann getötet werden sollte, berichtet den Umstehenden vom Leben und Sterben seiner Familie, während der, der die Gefangenen jahrelang bewachte und alles mitansah, nicht mit seiner Vergangenheit konfrontiert werden will – und später im Prozess behauptet, er sei unschuldig und habe „überhaupt nichts getan“.
Die Staatsanwaltschaft hat andere Erkenntnisse. Ihren Ermittlungen zufolge ist Josef Sch. freiwillig in die SS eingetreten und war ab Dezember 1941 Teil der Wachmannschaften. Das ergebe sich aus mehreren erhaltenen Dokumenten. Seine Behauptung, er habe das Lager nie betreten, entbehre „jeder Grundlage“, heißt es in den Akten, die WELT AM SONNTAG einsehen konnte.
Die Schnittstelle zum Massenmord
Danach trat Josef Sch. seinen Dienst zu einer Zeit an, in der die Brutalität im Lager zunahm. Zunächst prägte der Lagerkommandant Hans Loritz das Klima innerhalb der SS im KZ Sachsenhausen entscheidend. Loritz war wegen seiner Grausamkeit berüchtigt. Für seine federführende Rolle bei der Ermordung von mehr als 12.000 sowjetischen Kriegsgefangenen in Sachsenhausen wurde ihm das Kriegsverdienstkreuz 1.Klasse mit Schwertern verliehen. Er war es auch, der „Genickschussanlagen“ zur Ermordung von sowjetischen Kriegsgefangenen in den Konzentrationslagern einführte.
Von September 1942 bis April 1945 war Anton Kaindl Kommandant des KZ Sachsenhausen. Das massenhafte Sterben und Töten setzte sich unter dem neuen und zugleich letzten Lagerkommandanten Kaindl kontinuierlich fort, schreibt Staatsanwalt Klement. Der Kommandant sei wesentlich für die Mangel- und Unterversorgung im KZ-System zuständig gewesen.
Klement verließ sich bei seinen Ermittlungen auch auf das historische Gutachten, das der Sachverständige Dr. Stefan Hördler anfertigte. Hördler gehört zu den renommiertesten Historikern im Forschungsbereich der KZ-Wachmannschaften und zivilen Angestellten. Er geht davon aus, dass das Umfeld der besonders rücksichtslos agierenden Vorgesetzten auch den SS-Mann Sch. als Wachmann über mehrere Jahre an diese „Schnittstelle von Gefangenenbewachung, Gewalt, Unterversorgung, Massensterben und Massenmord“ brachte.
Als die SS zum Baden fuhr, begann der Aufstand
Dem Angeklagten, so der Historiker Hördler, konnten die verschiedenen Dimensionen der Verbrechen im KZ Sachsenhausen nicht nur nicht verborgen bleiben. Vielmehr liege eine „direkte Mitwirkung seiner Einheit an den noch weiter auszuführenden Handlungen, auch den hier angeklagten systematischen Tötungshandlungen nahe“, heißt es im Gutachten. Hördler soll sein Gutachten am 28. Oktober vorstellen.
Doch von Gräueltaten und Barbareien will Josef Sch. vor Gericht nichts berichten. In einer kurzen Einlassung erzählt er am Freitag von seinem Leben. Die Zeit in Sachsenhausen spart er dabei aus. Durch die Halle weht seine ostpreußisch gefärbte Sprache wie eine Erinnerung an eine versunkene Zeit. Er nannte sich „Josi“, berichtet von seiner Kriegsgefangenschaft in Sibirien von 1945 bis 1947, erzählt von seiner Hochzeit 1956 und von seinen „scheenen Mädels“, den beiden Töchtern. Der Kontakt zu den Kindern ist wohl im Zuge der Ermittlungen abgerissen, deutet er an. Nach dem Krieg arbeitete er in einer LPG als Schlosser.
Nach der Erklärung berichten die Söhne zweier ermordeter Gefangener, wie sehr das Fehlen der Väter ihr Leben beeinflusst hat. Der 79-jährige französische Architekt Antoine Grumbach, Sohn eines in Sachsenhausen ermordeten Widerstandskämpfers und Nebenkläger in dem Verfahren, äußert sich bestürzt. „Das ist die Amnesie“, sagt er. Selbst wenn der Angeklagte nichts zu den Vorwürfen sagen sollte, sei er für ihn „der absolute Komplize dieser Todesmaschinerie“ in Sachsenhausen.
Die Frage nach dem Gewissen des Angeklagten
Der 84-jährige Chris Heijer, Sohn eines niederländischen Widerstandskämpfers, der in Sachsenhausen erschossen wurde, meint, Mord sei „kein Schicksal, sondern ein Verbrechen“. Heijer besuchte seinen Vater als Sechsjähriger zweimal im Gefängnis, in das die Deutschen seinen Vater noch in den Niederlanden steckten. Dann deportierten sie ihn über ein Zwischenlager nach Sachsenhausen. Dort wurde er am 1. Mai 1942 ermordet.
Der Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler erklärt, dass die Aussagen belegen würden, wie traumatisiert die Familien nach dem Krieg durch den Verlust der Väter gewesen seien – und wie sehr das Leid über die Generationen weitergegeben werde. „Das hört nie auf“, so Daimagüler. Der Angeklagte dagegen habe sein Leben in aller Ruhe leben können.
Chris Heijer richtet zum Schluss seiner Aussage das Wort an Josef Sch.: „Wie konnten Sie nach dem Krieg ruhig schlafen, wo so viel auf Ihrem Gewissen lastete? Haben Sie denn nie gefühlt, wie viel Unrecht Sie getan haben? Haben Sie eine Seele und Gefühle?“
Der Angeklagte verharrt regungslos, es wird nicht klar, ob er zuhört. Heijer beantwortet die Fragen, auf die er keine Reaktion erhält, selbst. „Ich glaube nicht.“
„Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen“ ist ein Märchen: Dem letzten Kommandanten von Sachsenhausen, Kaindl, wurde 1947 der Prozess gemacht. Nach acht Tagen Prozessdauer wurden Kaindl und zwölf weitere Mitangeklagte am 1. November 1947 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Er wurde zunächst im zentralen sowjetischen Untersuchungsgefängnis in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert und vier Wochen später in den Gulag in Workuta nahe dem Polarmeer zur Zwangsarbeit in einer Kohlenmine verbracht. In diesem Arbeitslager starb Kaindl am 31. August 1948.
Sein Vorgänger Hans Loritz wurde ebenfalls inhaftiert und beging am 31. Januar 1946 in Neumünster in der Haftzelle Suizid.
Feige waren die Anführer nämlich schon auch.