Es scheint sich allerdings nicht um seit Jahrzehnten vernachlässigte Ermittlungen zu handeln:
Spoiler
Als die Polizei am Donnerstagmorgen im Seniorenheim in Quickborn bei Hamburg klingelte, war Irmgard F. schon weg. Stundenlang war die 96-Jährige, der die Staatsanwaltschaft Beihilfe zum Mord in mehreren tausend Fällen im KZ Stutthof vorwirft, auf der Flucht. Am späten Mittag wurde sie schließlich festgenommen. Wo und wie war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Ein Arzt soll nun die Haftfähigkeit der Frau prüfen. Die Polizei werde Irmgard F. dem Gericht vorführen, sagte eine Sprecherin des Itzehoer Landgerichts am Donnerstag. Die Kammer werde prüfen, ob die Haft vollstreckt oder die 96-Jährige davon verschont werde.
Die Polizei hatte bis zum Mittag nach der ehemaligen SS-Helferin gefahndet, das Gericht hat einen Haftbefehl gegen Irmgard F. ausgestellt. Die Angeklagte hatte frühmorgens vor Prozessbeginn nach Angaben des Gerichts das Seniorenheim verlassen, in dem sie lebte, und sich in ein Taxi gesetzt. Dann ließ sie sich zum U-Bahnhof Norderstedt fahren. Dort verlor sich zunächst ihre Spur. Ob sie auf eigene Faust geflohen war oder Komplizen hatte, ist noch unklar.
Irmgard F. hatte Flucht angekündigt
Völlig überraschend war ihr Nicht-Erscheinen nicht gewesen. Denn die Frau hatte dem Gericht in einem klar strukturierten, handgeschriebenen Brief bereits am 8. September mitgeteilt, dem Prozess fern bleiben zu wollen, teilte sie dem „sehr geehrten Richter“ mit.
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Die frühere KZ-Sekretärin Irmgard F. war einfach nicht vor Gericht erschienen
Quelle: dpa/Markus Schreiber
„Aufgrund meines Alters und körperlicher Einschränkungen werde ich die Gerichtstermine nicht wahrnehmen und bitte den Herrn Verteidiger, mich zu vertreten“, schrieb sie an das Landgericht Itzehoe in einem Brief, der WELT vorliegt und verwies auf zahlreiche Erkrankungen. „Diese Peinlichkeiten möchte ich mir ersparen und mich nicht zum Gespött der Menschheit machen.“
Dass sie nun aber ernsthaft vor dem Prozess fliehen würde, ahnte wohl keiner der Beteiligten. Zumal der Vorsitzende Richter, Dominik Groß, der Beschuldigten geantwortet hatte und sie dabei auf die Konsequenzen aufmerksam machte, wenn sie der Verhandlung fern bleiben sollte. Das teilte die Sprecherin des Gerichts am Verhandlungstag mit.
Der Verteidiger von Irmgard F., Wolf Molkentin, wollte sich zum Nicht-Erscheinen seiner Mandantin nicht äußern. Offenbar war er in den Brief nicht eingeweiht gewesen, denn Irmgard F. bat das Gericht darum, ihren Brief auch an den Anwalt weiterzuleiten.
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Mehrere Dutzend Journalisten aus Deutschland und Europa sind angereist, um über den wohl letzten Stutthof-Prozess zu berichten. Stattdessen musste die Gerichtssprecherin bekanntgeben, dass die Beschuldigte die Flucht angetreten hatte – bevor die Polizei sie abholen konnte.
Da es vermutlich einer der letzten großen Nazi-Prozesse sein wird, sind viele Journalisten angereist
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Quelle: AFP/AXEL HEIMKEN
Um 12.36 Uhr eröffnete Richter Groß das Verfahren kurz, um es gleich wieder zu unterbrechen. „Ohne Angeklagte können wir nicht verhandeln“, sagt er, und schickte alle wieder nach Hause. Zugleich wurde der Prozess auf den 19. Oktober vertagt. Das Gericht gehe selbstverständlich davon aus, dass die Angeklagte beim nächsten Termin dabei sei. „Irgendwie werden wir das schon hinkriegen.“
Wut bei Nebenklägern und Auschwitz-Komitee
Der Vizepräsident des Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, hatte das Landgericht jedoch kritisiert. Die Justiz habe das Verfahren „nicht ernst genommen“, sagt er WELT. „Das Gericht hätte veranlassen müssen, dass in den zwei Tagen vor dem Prozess ein Polizeiauto vor dem Heim steht, um Präsenz zu zeigen. So hat sich die Justiz vor den Augen der Weltöffentlichkeit völlig blamiert“, sagte Heubner.
Auch der Nebenklage-Vertreter Thomas Walther, der alle jüngeren NS-Verfahren in der Nebenklage vertreten hat, zeigte sich ebenfalls entsetzt vom Gericht. „Die Justiz hat das Verfahren jahrelang systematisch verzögert. Diese verzweifelte Flucht einer 96 Jahre alten Frau sind auch das Ergebnis einer mangelnden Sorgfalt des Gerichts, das die Umstände des Verfahrens nicht angemessen berücksichtigt hat“, sagte Walther zu WELT.
Die Sprecherin des Gerichts verteidigte ihre Behörde. „Angesichts der Gebrechlichkeit und des Alters der Beschuldigten war nicht damit zu rechnen, dass sie sich dem Verfahren entzieht“, so die Juristin.
Anklage in mehr als 11.000 Fällen
Irmgard F. hätte im Falle einer Verurteilung eine Haftstrafe zu befürchten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, als Sekretärin von 1943 bis 1945 das Mordgeschehen im KZ Stutthof gefördert zu haben, in dem sie täglich Berichte über abgehende Transporte ins Vernichtungslager Auschwitz absetzte und Listen über Tötungen in Stutthof geführt haben soll. Dort starben während des Zweiten Weltkriegs schätzungsweise 65.000 Gefangene, darunter viele Juden. Das Lager bei Danzig erlangte traurige Bekanntheit für die von der SS bewusst in Kauf genommene katastrophale Versorgung der Insassen, die vor allem an Entkräftung und Krankheiten starben. Es gab dort aber unter anderem auch eine Gaskammer und eine Genickschussanlage für Massentötungen.
Als typische „Schreibtischtäterin“ gilt sie für die Staatsanwaltschaft als „Rädchen im Getriebe“, ohne den der industriell organisierte Massenmord nicht zu leisten gewesen wäre. Vor dem Landgericht Itzhoe muss sie sich daher wegen Beihilfe zum Mord in mehr als elftausend Fällen und einigen Fällen von Beihilfe zu versuchtem Mord verantworten.
Da sie zur Tatzeit aber noch als Heranwachsende galt, ist eine Jugendkammer für die zuständig. In ihrem Brief an den Richter hatte sie bereits geschrieben: „Als 18/19-Jährige habe ich nichts getan, wofür ich mich als 96-Jährige verantworten soll.“ Um die greise Beschuldigte kümmert sich die Justiz wie um einen Teenager. Ein Platz im Saal ist mit einem Schild reserviert mit der Aufschrift: „Jugendgerichtshilfe“.