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Lucien Scherrer
27.06.2021, 05.30 Uhr
Wer mit dem vielleicht bekanntesten und umstrittensten Gefängnisinsassen Deutschlands sprechen will, erhält klare Anweisungen. «Sie haben dreissig Minuten», sagt die Sprecherin der Justizvollzugsanstalt Münster. Und natürlich werde sie das Gespräch mithören. Dann meldet sich ein Mann in ruhigem Tonfall und mit leichtem osteuropäischem Akzent am Telefon: «Hallo, Georg Thiel hier.»
Thiel, von Beruf CAD-Zeichner und in der freien Welt in der Denkmalpflege tätig, beschäftigt seit Wochen Gerichte, Politiker und Medien. Denn der 53-Jährige sitzt seit Ende Februar in sogenannter Erzwingungshaft, weil er weder die Gebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bezahlen noch mit den Behörden kooperieren will.
«Ist dieser Mann ein Held?», so fragt sich das Magazin «Cicero», während ihn seine Anhänger bereits mit Jesus und Gandhi vergleichen. Für andere ist er bloss ein Querulant oder gar ein Extremist, der sich um Gesetze foutiert. Dem Westdeutschen Rundfunk (WDR), dem Thiel insgesamt rund 1800 Euro schuldet, ist der Fall peinlich – allerdings will man auch nicht auf die Forderungen verzichten.
Im Gegensatz zu anderen Gebührenverweigerern kann Thiel damit nicht mit vorzeitiger Entlassung rechnen – und der deutsche Staat darf säumige Gebühren- und Bussenzahler immerhin sechs Monate in Erzwingungshaft behalten. Als ihn die NZZ anruft, hat er gerade seinen Freigang beendet.
Herr Thiel, draussen ist herrliches Sommerwetter. Sie aber sitzen seit über 120 Tagen im Gefängnis und haben gerade einen Hungerstreik hinter sich. Weshalb tun Sie sich das an?
Weil es einen Haftbefehl gegen mich gibt und irgendwelche Richter, die behaupten, dass ich hier sechs Monate absitzen muss (lacht).
Wenn Sie den Behörden Ihre Vermögensverhältnisse offenlegen würden, wären Sie sofort frei, weil die Behörden dann wüssten, ob und wie man Sie pfänden könnte.
Ja, dazu wollten sie mich nach der Verhaftung zwingen. Wenn man Leute wegen nicht bezahlter Knöllchen (Bussen, Rd.) verhaftet, ist das wohl in Ordnung. Aber dass man diese Wunderwaffe auch gegen Leute richtet, die den Rundfunkbeitrag nicht bezahlen, ist doch überzogen. Ich werde in keinem Fall Vermögensauskünfte geben, weil ich den sogenannten Rundfunkstaatsvertrag rechtswidrig finde. Das, was ich hier mache, ist eine Protestaktion, ne. Ich möchte ein Zeichen setzen, damit die Politik vielleicht etwas ändert.
Ihr Protest richtet sich, wie Sie es einmal ausgedrückt haben, gegen die «schändliche GEZ-Gebühr». Der Rundfunkstaatsvertrag ist jedoch von den Landesparlamenten legitimiert, und mehrere Gerichte haben festgehalten, dass die Verweigerung des Rundfunkbeitrags unsolidarisch sei.
Genau, das mit der Solidarität ist auch so eine Wunderwaffe. Dabei steht im Rundfunkstaatsvertrag nirgends, dass es um eine Solidarabgabe geht. Es ist doch nicht gerecht, wenn Geringverdiener und Rentner genau gleich viel bezahlen wie Richter, Politiker und Spitzenverdiener, nämlich 17 Euro 50 im Monat. In vielen Ländern wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus Steuermitteln bezahlt. In Holland zum Beispiel haben sie die Pauschalbeiträge bereits im Jahr 2000 abgeschafft, und die dortigen Anstalten brauchen auch nicht 8 Milliarden Euro im Jahr wie hier. Über die Inhalte will ich jetzt gar nicht erst reden.
Nach eigenen Angaben besitzen Sie seit 2010 weder Radio- noch Fernsehgeräte. Schauen Sie wirklich nie fern?
Eigentlich hatte ich nie einen eigenen Fernseher, aber in der technischen Schule gab es eine Glotze in der Wohngemeinschaft. Das war vor zwanzig Jahren, und das Einzige, was ich da gerne gesehen habe, war Montagskino. Mein Megamedium ist das Internet, wo man mitdiskutieren kann, Daumen hoch, Daumen runter. Was die öffentlich-rechtlichen Sender liefern, ist Einbahnstrasse, da wird man blockiert, oder sie gehen gar nicht auf die Kommentare ein. Die sind einfach altmodisch.
Sie sind als Sohn schlesischer Eltern in Polen aufgewachsen und während der Wende als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen. Haben Sie deshalb Schwierigkeiten mit dem deutschen Rechtssystem, wie Ihnen unterstellt wurde?
Hören Sie, ich bin jetzt seit über 25 Jahren hier, ich zahle meine Müllgebühr, ich zahle meine Steuern und die Krankenversicherung, habe keine Schulden, keine Punkte in Flensburg. Aber die Rundfunkgebühr werde ich nie als Schuld akzeptieren! Daher ist es Schwachsinn, dass ich das deutsche System nicht anerkenne.
Mittlerweile sind Sie ein Politikum. Vor allem die AfD versucht, Ihren Fall gegen die öffentlich-rechtlichen Sender zu instrumentalisieren. Unter anderem verbreitet die Partei Bilder von Ihnen, auf denen Sie wie einstige RAF-Entführungsopfer eine Tafel mit der Unterschrift «Seit 3 Monaten Gefangener des WDR» in die Kamera halten. Stört Sie das?
Ich bin politisch neutral und in keiner Partei. Die AfD ist die einzige Partei, die mich unterstützt, und ich habe mir gesagt: Warum sollen die das nicht machen? Mal schauen, was sie draufhaben. Sie haben mich im Gefängnis besucht, und in ihren Fragen konnte ich nichts Rechtsradikales erkennen. Das waren ganz normale, nette Menschen. Aber dass da Bildmontagen gemacht werden oder dass der Abgeordnete Sven Tritschler ohne Genehmigung einen Brief von mir auf Facebook veröffentlicht hat, gefällt mir gar nicht.
War Ihre Protestaktion mit politischen Kreisen abgesprochen?
Nein, das habe ich ganz alleine durchgezogen. Ich habe ja schon lange nicht mehr bezahlt, die Zwangsvollstreckung hat bereits 2016 angefangen, ich wurde aber nicht verhaftet, obwohl es einen Haftbefehl gab. Da ist man ein bisschen unsicher, man weiss nie, wann sie einen abholen. Ich bin dann selber zur Polizei gegangen und habe gefragt: «Warum verhaftet ihr mich nicht?»
Im Ernst, Sie haben um Ihre Verhaftung gebeten?
Ja, warum nicht, wenn es doch einen Haftbefehl gegen mich gibt. Dann sitze ich das ab, und dann habe ich meine Ruhe.
Im Gefängnis sitzen Sie nun mit Leuten zusammen, die zum Teil schwere Verbrechen begangen haben. Wie haben die auf Sie reagiert?
Da ich seit zwei Monaten in einer Einzelzelle bin, habe ich eher wenig Kontakt mit anderen Gefangenen, da sieht man sich höchstens in der Freistunde oder unter der Dusche. Aber da werden meist keine Gespräche geführt, auch weil man die Leute nicht kennt. Am Anfang, in der Gemeinschaftszelle, war das anders, da machten alle grosse Augen, was ich hier suche. Eigentlich standen alle hinter mir, auch die meisten JVA-Mitarbeiter schütteln den Kopf. Was die anderen Insassen verbrochen haben, will ich eigentlich gar nicht wissen. Einige haben offenbar psychische Probleme, sie schreien oder knallen die Türe zu. Aber ich habe gehört, das sei normal im Gefängnis.
Nach exakt 29 Minuten gibt die Gefängnissprecherin Georg Thiel einen Wink, dass er das Gespräch langsam beenden solle. «Ich muss Ende machen», sagt Thiel, und schickt «schöne Grüsse in die Schweiz».