Bericht vom heutigen Prozesstag, der der Einvernahme der Zeugen diente.
Ich schicke gleich voraus, dass ich den Prozess wegen eines anderen Termins nur bis zur Pause um 12:45 verfolgen konnte.
Anwesende:
3 Richter
2 Staatsanwältinnen
1 Generalstaatsanwalt
2 Sachverständige
1 Verteidiger
Angeklagter
2 Zeugen (beteiligte Polizisten)
rund 12 Zuschauer. Einer davon, soweit ich das richtig gesehen habe, Presse. Geht aber frühzeitig.
Der Angeklagte kommt mit rund einer viertel Stunde Verspätung. Natürlich unverschuldet.
Prozess beginnt, Zeuge S. wird herein gerufen. Er war zusammen mit seinem Kollegen W. in der Tatnacht an der Verfolgung des Angeklagten beteiligt.
S. und W. sind also Polizisten.
Das Geschehen schildert er so, dass ein anderes Polizeifahrzeug mit dem Kollegen V. (Geschädigter) und er (S. und Beifahrer W.) selbst hinter dem Verdächtigen her fuhren. Über Funk hatten sie die Information erhalten, dass im Bereich Efringen-Kirchen ein verdächtiges Fahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs sei und sich der vermutlich angetrunkene Fahrer der Kontrolle entzieht. Kollegen S. und W. sollten sich an einer bestimmten Stelle in der Nähe der Wohnung des Verdächtigen bereit halten und zugreifen, falls er dort auftaucht. Es gab auch zu diesem Zeitpunkt die Information, dass der Verdächtige der Reichsbürgerbewegung zuzuordnen sei.
Die Stelle, an der die beiden warteten, bot wohl eine gute Übersicht über die Umgebung, als sie das verdächtige Fahrzeug wahrnahmen und die Verfolgung aufnahmen. Der Verdächtige fuhr nicht zu seiner Wohnung, sondern in anderer Richtung weiter. Die Polizisten S. und W. nahmen also die Verfolgung auf und stießen zum Fluchtfahrzeug, an dem bereits eine weitere Streife dran war. Auf einer Landstraße setzte die 1. Streife (mit Polizist V.) dann zum Überholen an, überholte das Fluchtfahrzeug und stellte sich in größerer Entfernung quer auf den rechten Fahrstreifen. Der Angeklagte vollzog während des Überholvorgangs eine Vollbremsung, die von der zweiten Streife noch rechtzeitig wahrgenommen wurde. Diese vollzog ebenfalls eine Vollbremsung und kam zwischen einem halben und einem Meter hinter dem Flüchtenden zum Stehen.
Beide Polizisten verharrten kurz im Fahrzeug um, wie die Ausbildung das vorsieht, abzuwarten, was weiter geschehen würde, stiegen dann aus um den Fahrer zu kontrollieren. Polizist W. ging als Beifahrer rechts neben das Fluchtfahrzeug, leuchtete hinein um sich zu versichern, ob weitere Personen oder Waffen im Fahrzeug sind. Als er die Beifahrertür des Fluchtfahrzeugs öffnen wollte, stieß der Angeklagte zurück, rumpelte gegen das Polizeifahrzeug und gab dann wieder Gas um seine Flucht fortzusetzen. Der Rumpler wurde vom Zeugen S. als nicht schlimmer als ein Parkrempler beschrieben.
Weiter vorne (Abstand nicht ganz klar) stand das Fahrzeug des Polizisten V. mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht quer auf dem rechten Fahrstreifen. Das Heck ragte laut Rekonstruktion leicht in die Gegenfahrspur.
Polizist V. stieg aus dem Fahrzeug aus, ging um es herum und lief dann etwas in Richtung auf das nun auf ihn zufahrende Fluchtfahrzeug zu, das aber vom Angeklagten nicht gestoppt wurde, sondern auf den Polizisten V. zuhielt. V wurde auf die Motorhaube geschleudert, einige Meter mitgenommen und stürzte dann auf die Fahrbahn, wo er schwer verletzt liegen blieb. Bevor der Angeklagte ihn auf die Motorhabe nahm, gab V. mindestens zwei Schüsse auf das Fahrzeug ab, die den Angeklagten aber wohl nicht trafen.
Während der Angeklagte auf V. zuhielt und weiter flüchtete, entleerte Polizist S. von hinten auf das Heck des Fluchtfahrzeugs ein Magazin mit 14 Schuss.
An dieser Stelle komme ich gedanklich etwas ins Schleudern. Polizist V. schießt von vorn auf das Fluchtfahrzeug, obwohl im Hintergrund Kollegen stehen. Polizist S. Schießt von hinten auf das Fluchtfahrzeug, obwohl Kollege V. in gleicher Richtung steht.
Merkwürdig ist auch, und das sagt der Zeuge W. (beifahrender Kollege des S.) aus, dass Kollege V. seltsamerweise alleine im Fahrzeug unterwegs war. Das ist eigentlich nicht Standard. Streifen sind immer zu zweit unterwegs. Auch sagte W. aus, dass er in dem Moment gar nicht wusste, wo Kollege V. plötzlich her kam.
Hierzu wird sicher am heutigen Nachmittag noch Klärung beigetragen worden sein, wen der Zeuge V. als Geschädigter einvernommen wird.
Da stellt sich sicher auch nicht zuletzt für den Verteidiger die Frage, warum Polizist V., a) alleine unterwegs war, und b) so schnell geschossen hat. Auch er hatte vermutlich die Information, dass es sich beim Verdächtigen um einen Reichsbürger handelt. Die Information, dass der sich bereits mehreren Versuchen der Kontrolle entzogen hat, war da auch schon per Funk durchgegeben worden.
Da könnte also Raum für Spekulationen bleiben.
Die Kollegen S. und W. konnten jedenfalls keine Aussage darüber machen, wann Kollege V. die Waffe gezogen hat. Meine Einschätzung: er kann die Waffe bereits in der Hand gehabt haben, als das Fluchtfahrzeug noch weit genug entfernt war, also als er aus seinem Dienstfahrzeug gerade ausgestiegen war und wahrnehmen konnte, dass der Angeklagte, sich wieder der Kontrolle entzieht. Man kann ja die Dienstwaffe auch ziehen ohne die Absicht zu haben, sie auch einzusetzen.
Zuvor war bei der Verfolgung ein drittes Fahrzeug der Polizei beteiligt, das aber bei dem Bremsmanöver des Angeklagten mit so hoher Geschwindigkeit unterwegs war, dass es an den anderen beteiligten Dienstfahrzeugen vorbei schoss und erst viel später zu stehen kam. Warum diese Kollegen, die Situation nicht rechtzeitig erkannten, kam am heutigen Vormittag nicht zur Sprache.
Nachdem V. schwer verletzt auf der Straße liegen geblieben war, eilten die Kollegen S. und W. zu ihm. W. stellte noch das Martinshorn in Vs. Fahrzeug ab, während Kollege S. den Schwerverletzten auf seine Knie stützte und anzusprechen versuchte. V. war aber da nicht ansprechbar und zeigte keine Regungen. Er kam erst nach und nach zu sich, konnte sich aber nicht ertikulieren. Es war auch von einer Blutlache die Rede. V. hatte schwere Kopfverletzungen.
Beide Zeugen sagten noch aus, dass sie in weiter Ferne weitere Schüsse hörten. Sie setzten ihre Fahrt fort, als weitere Kollegen die Versorgung des schwerverletzten V. übernahmen.
Die Aussage des Polizisten W. unterschied sich in einigen Punkten leicht von der vorangegangenen Aussage des Kollegen S.
So sagte S. aus, V. sei eng um sein Dienstfahrzeug herum gegangen, während W. gesehen haben wollte, dass er in einem etwas größeren Abstand um sein Dienstfahrzeug herum auf die Gegenfahrbahn ging. Bei Entfernungsangaben konnten sie auch keine sehr genauen Angaben machen, was ich aber auf die gesamte Situation zurück führe.
Es war dunkel, die Szenerie nur vom Scheinwerferlicht der Fahrzeuge und blinkenden Blaulichtern beleuchtet. Beide Polizisten hatten auf die Szene eine leicht unterschiedliche Perspektive. Außerdem war die ganze Situation extrem stressgeladen.
Manche Fragen der Verteidigung schienen mir daher etwas unpassend, aber das ist in Prozessen wohl so.
Als S. und W. schließlich bei den anderen Kollegen ankamen, die kurz zuvor noch an der ganzen Szenerie vorbeigeschossen waren, war die Festnahme bereits erfolgt. Auch diese Kollegen hatten auf das Fluchtfahrzeug geschossen und es schließlich zum Stehen gebracht.
Richter fragt, ob Polizist V. trotz Dunkelheit gut sichtbar war.
Wird bestätigt, da er eine Warnjacke trug, die stark reflektiert.
Richter fragt auch nach Abständen von V. zum Dienstfahrzeug und meint, dass es zwischen erster Aussage des Zeugen S. und heute einige Differenzen gibt.
Zeuge S. gibt zu, dass Diskrepanzen bestehen können, da die ganze Szene sich sehr schnell, bei schlechter Beleuchtung und unter Stress abspielte.
(Anmerkung von mir: Man kann sich nicht alle Details in so einer Situation einprägen)
S. sagt auch aus, dass er bei der ersten Schussabgabe durch Kollegen V. nicht wusste, von wem die Schüsse kamen. Es hätte theoretisch auch der Flüchtende sein können.
Dann diskutieren Richter, Zeuge und Verteidiger über die Frage, in welcher Weise der Angeklagte auf den Polizisten V. zugefahren sei, etwa ob er Ausweichmanöver gemacht habe, ob er hätte ausweichen können.
Auch hier gibt es zwischen den Aussagen des Zeugen S. und W. leichte Abweichungen. S. will keine Ausweichmanöver und auch keine abrupten Lenkbewegungen gesehen haben, während W. sagt, er habe einen leichten Schlenker wahrgenommen.
Zeuge S. meint, dem Angeklagten hätten mehrere Möglichkeiten offen gestanden, den Unfall zu verhindern. Er hätte links oder rechts an V. vorbei fahren oder auch bremsen können. Tat er aber nicht, sondern fuhr auf V. zu und fuhr auch weiter, nachdem V. auf die Straße stützte.
Allerdings ergibt sich für mein Dafürhalten aus den späteren Videos, die durch die Kripo gefertigt wurden um das Tatgeschehen zu rekonstruieren, dass zwischen Polizist V. und der Leitplanke neben der Fahrspur nicht so viel Platz war. Auch der Raum zwischen V. und dessen Dienstfahrzeug schien mir knapp zu sein, aber noch ausreichend für ein Fahrzeug, wie es der Angeklagte fuhr.
Es besteht aber eigentlich kein Zweifel, dass der Angeklagte, diese Tat hätte verhindern können. Er hätte bremsen können, wenn kein Platz ist.
Außerdem gibt es ja auch Aussagen aus anderen Quellen, dass er Polizisten als Söldner des Systems betrachtet. Gut möglich also, dass er den Polizisten V. vollabsichtlich niedergefahren hat.
Vor den Videos der Kripo werden noch Lichtbilder gesichtet.
Richter kämpft mit der Technik und findet die Bilder nicht gleich in seinem Rechner. Bilder sind anscheinend auch von schlechter Qualität, weshalb er von der Kripo welche mit besserer Auflösung anforderte (die er jetzt aber erst suchen muss).
Digitales Neuland …
Der Angeklagte Jenne sagt während des Vormittags kein einziges Wort, macht sich aber eifrig Notizen.
Richter fragen weiter Details zu Distanzen, Positionen der Polizisten, Fahrverhalten ab.
Sachverständiger meldet sich unaufgefordert und meint, dass Angaben zu einem Abstand nicht stimmen können.
Verteidiger ist mit dieser Diskussion zum aktuellen Zeitpunkt nicht einverstanden und will vollständige Vernehmung der Zeugen abwarten.
Richter stimmt zu.
Weitere Lichtbilder werden gezeigt.
Zeuge S. erklärt anhand der Lichtbilder den Hergang.
Richter 2 hakt nach, ob es dem Angeklagten möglich gewesen wäre, Polizist V. auszuweichen.
Zeuge merkt an, dass die Fotos die Abstände nicht korrekt wiedergeben, betont aber, dass Angeklagter hätte ausweichen können.
Es folgt dann noch eine Diskussion über die Lage von Geschosshülsen auf der Straße, die Auskunft über die Positionen während der Schussabgabe geben könnten. Zeuge S, weist darauf hin, dass ja inzwischen (bis zur Spurensicherung) Verkehr gewesen sei, die Lage der Geschosshülsen also nicht exakte Auskunft liefern könne.
Weitere Bilder.
Es folgen noch eigentlich unwichtige Fragen, wie die, ob Hunde im Einsatz gewesen seien, da Zeuge S. Angehöriger der Hundestaffel sei. Hunde seien im Fahrzeug gewesen, aber nicht zum Einsatz gekommen.
Richter will wissen ob die Hunde angeschlagen haben und der Angeklagte dies hätte hören können.
Zeuge S. sagt, dass sie nicht angeschlagen hätten und der Angeklagte dies wegen geschlossener Fenster an allen Fahrzeugen und den Martinshörnern auch nicht hätte hören können.
Richter 2 hakt nach ob der Kollege V. den Unfall hätte verhindern können, etwa indem er zur Seite springt.
Zeuge S.: Nein.
Fragen zum Zustand des Kollegen V. werden noch gestellt.
Richter will dann wissen, welchen Eindruck der Angeklagte bei seiner Festnahme vermittelt habe.
Zeuge S. sagt aus, dass die Festnahme bereits vollzogen war als er und Kollege W. dort ankamen und der Angeklagte einen „konsternierten“ Eindruck machte.
Dann noch Fragen vom Richtertisch, ob Polizist V. etwas gerufen habe, bevor er niedergefahren wurde, was Zeuge S. aber aufgrund der Situation, die herrschte, nicht bestätigen kann.
Weitere Bilder und Diskussionen über Positionen von Fahrzeugen, Zeugen, usw.
Fragen ob Zeuge S. gesehen habe, ob er bei seiner Schussabgabe getroffen habe. Immerhin ja ein ganzes Magazin mit 14 Schuss.
Zeuge S.: Heckscheibe des Fluchtfahrzeugs sei zersplittert.
Weitere, meiner Meinung nach nebensächliche Fragen, wie etwa, ob der Kollege W. bei der Kontrolle an die Scheibe des Fluchtfahrzeugs geklopft habe.
Richter fragt, ob Zeuge bei der Kontrolle daran dachte, dass die Schusswaffe eingesetzt werden müsste.
Zeuge S.: Nein
Dann kommt der Kollege W. als Zeuge an die Reihe.
Im Wesentlichen bestätigt er die Vorgänge zum Tatgeschehen mit leichten Abweichungen zu z. B. Distanzen.
Auch wollte er eine leichte Bewegung des Fluchtfahrzeugs nach links vernommen haben.
Details Details Details ...
Der Verteidiger hakt nach weil er den „Tathergang noch nicht verstanden“ habe, wird aber dann von Richter 3 darüber aufgeklärt, dass Zeuge W. dazu bereits ausführte.
Dann kommen die Videos der Kripo auf den Monitor, die am nächsten Tag für die Rekonstruktion des Tatherganges angefertigt wurden. Ziemlich langatmig und sehr exakt mit etlichem Nachfragen und Korrekturen bei Positionen und Distanzen. Die ganze Szenerie wird vor Ort auf der Straße nachgestellt. Ständig sind auch Drohnen zu hören.
In all der Zeit macht der Angeklagte Jenne Notizen, bleibt aber ruhig und ohne auffällige Regung.
Fazit:
Laut Aufzeichnungen ergibt sich für mich die kuriose Situation, dass die beteiligten Polizisten gegenseitig in Schusslinie standen. Meiner Auffassung nach hätte der Polizist V. seine Kollgen im Hintergrund treffen können, da sich das auf ihn zufahrende Fluchtfahrzeug und zumindest der Kollege S. in fast gleicher Linie befanden. Gleiches gilt umgekehrt aus Sicht das Polizisten S. der aber zum Zeitpunkt der Schussabgabe den auf der Motorhaube geworfenen Kollegen nicht sehen konnte.
Zeuge W. sagt noch aus, dass sich aus den Funk-Infos ergab, dass es eine Trunkenheitsfahrt war, bei der sich der Fahrer der Kontrolle entzieht, sich aber eigentlich aufgrund dieser Infos kein Grund für eine „Ballerei“ ergab.
Er selbst hatte auch nicht geschossen. Dafür ging das ganze auch viel zu schnell.
Merkwürdig kam ihm, wie eingangs erwähnt, vor, dass der Kollege V. alleine im Fahrzeug unterwegs war. Das entspricht jedenfalls nicht den Einsatzplänen oder Vorschriften. Auch war ihm nicht klar, warum der Kollege bei dieser Sache involviert war.
Genaues kann ich dazu nicht berichten, aber für mich hörte es sich so an, dass zumindest der Zeuge W. nicht erwartet hatte, dass der Kollege V. an der Verfolgung beteiligt ist. Von anderen Kollegen wusste er wohl über Funk.
Für den Nachmittag – es ist nun immerhin schon etwa 12:30 – wird die Einvernahme des geschädigten Kollegen V. vorgesehen.
Der Verteidiger merkt an, dass er es nicht für gut halte, wenn hier geschädigter Zeuge und Angeklagter aufeinander treffen.
Generalstaatsanwalt sieht das auch so. Aber aus Sicht für den Geschädigten.
Allerdings scheint der Verteidiger auch um seinen Mandanten besorgt, wobei die Richter anmerken, dass es in anderen Verhandlungen ja auch so ist, dass Täter und Opfer aufeinander treffen und die StPo für einen solchen Fall nicht vorsieht, dass wohl der Geschädigte, nicht aber der Angeklagte geschützt werden müsse.
12:45 Uhr. Pause bis 13:30 Uhr. Ich muss aber wegen eines anderen Termins gehen. Außerdem kann ich wegen Rücken kaum sitzen.