Spoiler
Über diese Sicht seiner bisherigen Regierungszeit gibt es deutlich divergierende Wahrnehmungen, die zunehmend hitzig diskutiert werden. Positive Nachrichten gab es in Großbritannien in den letzten Wochen wenige. Die anhaltende Benzin- und Versorgungskrise, verursacht durch die durch den Brexit erzwungene Abwanderung Zehntausender Arbeitskräfte im Logistikbereich, wird als so schmerzhaft wie peinlich empfunden. Doch Premierminister Johnson beharrt darauf, die aktuelle Krise habe nichts mit dem Brexit zu tun.
In Großbritannien fehlen derzeit Schätzungen zufolge etwa 100.000 Lastwagenfahrer, die Versorgung mit Kraftstoff und Lebensmitteln stockt vielerorts. Auch in anderen Branchen, beispielsweise in der Fleischindustrie, gibt es einen erheblichen Mangel an Fachkräften – ganze Branchen kommen zum Stillstand. Arbeitnehmer aus den östlichen EU-Staaten sind seit dem Brexit in großer Zahl abgewandert.
Dass deshalb inzwischen auch Ärzte mit Lkw-Fahrererlaubnis und deutsche Einwanderer mit altem Führerschein, der zumindest das Fahren von 7,5-Tonnen-Vehikeln erlaubte, angeschrieben wurden, gilt als Realsatire in Brexit-Zeiten – rund eine Million entsprechende Bittbriefe soll die britische Regierung verschickt haben.
Aber all das bedeute keineswegs, dass seine Regierung deshalb plane, die Einwanderungsregeln wieder zu lockern, ließ Boris Johnson am Samstag wissen: »Was wir nicht wollen, ist zurückzukehren zu einer Situation, in der die Logistikbranche sich auf eine Menge Einwanderung günstiger Arbeitskräfte stützt«, sagte Johnson beim Besuch eines Krankenhauses in Leeds. Das habe nämlich zur Folge, »dass die Gehälter nicht steigen und die Qualität der Arbeitsplätze nicht zunimmt«.
Die britische Wirtschaft müsse ihre Abhängigkeit von schlecht bezahlten ausländischen Arbeitskräften beenden, um eine »gut bezahlte, gut ausgebildete, hochproduktive Volkswirtschaft« zu werden. Deshalb gelte weiterhin: Ausländische Arbeitskräfte wolle er gar nicht.
Ausländer? Als Lückenfüller gern
Was nicht die ganze Wahrheit ist. Zur Bewältigung der aktuellen Krise setzt Johnsons Regierung durchaus auf den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte – aber nur als Notmaßnahme und nicht permanent. Kurzfristig will London die Fristen für bereits geplante Arbeitsvisa verlängern, um den Kraftstoffmangel in den Griff zu bekommen. So sollen Visa für 300 Tanklastfahrer umgehend ausgestellt werden und bis März gelten.
Insgesamt sollen von Ende Oktober an 5000 ausländische Fernfahrer für eine befristete Dauer ins Land gelockt werden. Statt bis Weihnachten sollen sie nun bis Februar bleiben können. Ob dieses befristete Angebot bei polnischen und anderen osteuropäischen Fahrern auf Interesse stößt, wird von Verbänden auf dem Kontinent jedoch stark bezweifelt. Bereits von Montag an sollen etwa 200 britische Militärangehörige, darunter 100 Lkw-Fahrer, beim Verteilen von Kraftstoff helfen.
Ob das alles reicht, die aktuelle Krise zu beenden, wird quer durch die politischen Lager bezweifelt, die Kritik wächst. Bereits am Samstag versammelten sich Demonstranten in der Nähe des Konferenzortes in Manchester. »Korrupte Tory-Regierung. Lügner, Betrüger, Scharlatane. Raus mit ihnen«, hieß es auf einem Transparent. Und für Andrew Rawnsley, Chefkommentator des liberalen »Observer«, steht Johnsons Optimismus im krassen Gegensatz zu den beobachtbaren Realitäten: »Das hochtrabende Geschwätz von der ›Nivellierung nach oben‹ wird besonders hohl klingen, wenn der Lebensstandard von Millionen von Menschen nach unten gedrückt wird«, kommentierte er am Wochenende.
Solche Kritik kommt nicht nur vonseiten der Opposition. Auch in den Reihen der Tories wächst der Unmut. Hinter vorgehaltener Hand beklagen vor allem Abgeordnete aus dem Norden des Landes eine Privilegierung des Südens. Offene Kritik kommt von der sogenannten »Northern Research Group«, in der sich rund 50 Abgeordnete aus dem Norden organisiert haben. Selbst David Davis, von 2016 bis 2018 als Brexit-Minister einer der Manager des EU-Austritts, findet deutliche Worte der Kritik am Johnson-Kurs der versprochenen »Nivellierung nach oben«: »Man erhöht nicht das Niveau, indem man die Steuern und Lebenshaltungskosten für die Arbeiterklasse erhöht.«
Möglich, dass sein Auftritt in Manchester nicht der Triumph wird, den sich Johnson erhofft: Die Kraftstoffkrise droht, die Tory-Konferenz zu überschatten.
pat/AFP/dpa