Ich hole das mal wieder hervor, denn auf "Übermedien" hat das jemand sich mal näher angesehen.
Spoiler
Wahnsinn ohne Widerspruch
12. Januar 2021
Corona-Recht ohne Mundschutz: Der „Nordkurier“ lässt einen Anwalt querdenken
von Hendrik Wieduwilt
Wer viele Paragrafen aufsagen kann und dabei ein kleines Juristenhämmerchen schwingt, kann relativ lang unbemerkt den allergrößten Unsinn erzählen. Wir wissen nicht, ob der Hamburger Anwalt Rolf Karpenstein in seinem durch und durch schwindelerregenden Interview mit dem „Nordkurier“ ein Hämmerchen geschwungen hat – aber sonst stimmt’s auch in diesem Fall.
Karpenstein meint: „Der Lockdown verstößt gegen EU-Recht“, was noch klingt wie ein Beitrag für ein Fachblatt. Doch dann wird es knallbunter als die „Neue Juristische Wochenschrift“ je sein könnte: Die Beschränkungen „werden von Großkonzernen und Politik genutzt, um dauerhaft Freiheitsrechte auszuhebeln“, weil es sich dann – huch Moment, ist das hier eine Telegramgruppe? – „bequemer herrschen“ lasse. Die Beschränkungen seien „heuchlerisch“ und Spahn ein „Pharmalobbyist“ und so geht das weiter. Und während sich Karpenstein in Rage wendlert, rührt die interviewende Textchefin vom „Nordkurier“, vermuten wir, mit vor Bewunderung geweiteten Augen in ihrem Kakao – und widerspricht mit keinem Wort.
Warum nicht? Hat Karpenstein Recht? Er ist doch immerhin Jurist, ein Organ der Rechtspflege?
Karpenstein sagt, er habe sich im Februar 2020 alles genauer angesehen und komme nun, auch wegen „globaler Verknüpfungen“, zum Schluss, „dass keine einzige der auf Corona gestützten Beschränkungen mit dem vorrangigen Unionsrecht vereinbar ist“. Das gelte jedenfalls für „symptomlose, also gesunde Menschen“.
Ach so ist das: Gesund ist, wer keine Symptome hat – und wir machen hier so ein Tamtam mit PCR-Test diesdas!
Der „Nordkurier“, komplett unirritiert:
„Können Sie das näher ausführen?“
Er kann: Karpenstein ist Europarechtler und deshalb kennt er natürlich viele, viele Paragrafen – und er nennt Normen, ganz nebenbei, als wüssten der „Nordkurier“ und seine Leser natürlich, dass „Art. 21 AEUV“ für „Artikel 21 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ steht.
„Im Anwendungsbereich des Unionsrechts sind vor allem die Freizügigkeit (Art. 21 AEUV), der freie Dienstleistungsverkehr (Art. 56 AEUV), die im Wesentlichen inhaltsgleiche Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und der freie Warenverkehr (Art. 28 AEUV) von Bedeutung für die vom Lockdown betroffenen Wirtschaftsteilnehmer in Deutschland.“
Die Deutschen lieben Paragrafen im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), aber das kann man trotz Freude schöner Götterfunken nun wirklich nicht vom AEUV behaupten. Es erklärt aber vielleicht, warum der „Nordkurier“ in ehrfürchtige Schockstarre verfallen ist.
Alles Heuchelei
Karpensteins These lautet, schlicht gesagt: In Europa gelten Grundfreiheiten, die Bundesregierung schränkt sie ein. Zwar dürften die Staaten für den Gesundheitssschutz Maßnahmen ergreifen – aber es gebe rechtliche Voraussetzungen. Soweit, so normal.
Dann führt der Anwalt aus, der Staat müsse es wirklich ernst meinen, er dürfe nicht heucheln. Und das sei ja meist nicht der Fall, wenn es um „Geld und Macht“ gehe.
Karpenstein formuliert das wirklich so:
„Nach der Rechtsprechung des EuGH muss mit der Beschränkung ‚wirklich‘ (im Sinne von wahrhaftig und nicht lediglich heuchlerisch) das Ziel des Allgemeininteresses verfolgt werden, auf welches sich die Behörde beruft. Dies ist, sobald es um Geld und Macht geht, meist nicht der Fall.“
Geld und Macht, Teufel noch eins! Cui bono?
Karpenstein hat noch etwas entdeckt, Werbung nämlich. „Werbung braucht eine Regierung nur, wenn sie keine Argumente hat“, entlarvt der Jurist das Regime Merkel. Damit „ein Großteil der (Welt-)Bevölkerung freiwillig die Freiheitsrechte aufgibt – denn dann lässt es sich bequemer herrschen – werden Werbung und Propaganda vorgenommen“, öffnet der Topjurist der Textchefin vom „Nordkurier“ die Augen.
Doch, Moment, Journalismus – kritisch nachfragen! Also:
„Aber es gibt doch in so gut wie allen EU-Staaten Beschränkungen der Freiheitsrechte, die mit Corona begründet werden. Halten Sie die alle für unbegründet?“
Grundsätzlich ja, sagt Karpenstein – und führt das dann über viele, sehr, sehr viele Zeilen aus, kommt auf Reiner Fuellmich (bekannt aus KenFM) zu sprechen, das „Großkapital“, das Riesenthema „Wer regiert denn die Welt?“, „globalistische Motive“ und so weiter und so fort.
Ziemlicher Quatsch
Die Textchefin vom „Nordkurier“, vermuten wir, lauscht, nickt, gießt die Zimmerpflanzen, lauscht weiter, abonniert ein paar Telegram-Kanäle – jedenfalls hat sie eines nicht gemacht: Ihn unterbrochen mit etwa den Worten: „Ja danke, wir schauen dann mal, ob und wann wir das bringen.“ Sie hat auch keine andere Rechtsmeinung gegenübergestellt, um den Wahnsinn einmal zu prüfen, rauszufinden, ob womöglich auch der juristische Anteil in Karpensteins Ausführungen ziemlicher Quatsch ist.
Der juristische Anteil in Karpensteins Ausführungen ist nämlich ziemlicher Quatsch.
Natürlich kann man klagen, wenn man das EU-Recht verletzt sieht. Natürlich könnten Corona-Maßnahmen EU-rechtswidrig sein – wobei es immer noch ein grenzüberschreitendes Moment geben muss.
Diese Voraussetzungen benennt Karpenstein. Dann führt der Jurist den „Nordkurier“ auf einen Spaziergang in das schlammige Gebiet der subtilen EU-Kritik: Er führt aus, die EU-Normen stünden, oh weia, über „jedem deutschen Recht, gleichgültig ob es in einem Gesetz, in einer Verordnung, in einem Verwaltungsakt oder in einem Realakt einer staatlichen Stelle besteht“.
„Über jedem Recht“ ist falsch, denn das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht haben da schon noch mitzureden, wie man etwa in den zahlreichen lautstarken Streitigkeiten über Zentralbank-Befugnisse erleben konnte – aber wer zählt schon genau nach, nicht jedenfalls ein Anwalt, der mit seinem Hämmerchen ein paar EU-Ressentiments in die Köpfe schlagen will: Das übermächtige Brüssel mal wieder.
Richtig ist: EU-Recht geht dem nationalen Recht in aller Regel vor – und deshalb ist es richtig, dass sich die Corona-Beschränkungen der Mitgliedstaaten am EU-Recht messen müssen, sobald es um grenzüberschreitende Zusammenhänge geht. Richtig ist ebenfalls, dass ein Staat nicht beliebig gesundheitliche Gründe vorschieben kann, um den eigenen Markt zu schützen. Allerdings haben die Mitgliedstaaten einen Einschätzungsspielraum im Hinblick auf einschränkende Maßnahmen. Sie müssen eine Gesundheitsgefahr objektiv und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen belegen.
Und eben das ist es, was Karpenstein bestreitet: wissenschaftliche Belege für eine Gesundheitsgefahr. Er hat also nicht einen findigen juristischen Kniff gefunden – er hat nur eine handelsübliche Querdenker-These herausgehauen und mit allerlei Jura-Lametta geschmückt.
Keine Anstiftung zum offenen Rechtsbruch
Hat der „Nordkurier“ einfach nicht hingehört? War er eingeschüchtert von AEUV und der zitierten Rechtsprechung zu dänischen Bienen, die auf den Fall Corona ungefähr so gut passt wie eine unzerteilte Ananas in einen Eierbecher (und zudem 20 Jahre alt ist)?
Oder wisperte die Textchefin „endlich sagt’s einer“, bevor sie die Sache ohne jede Gegenrede auf die Seite feuerte? Wie erklärt man sich dieses simultane Punktversagen von Journalismus und Anwaltschaft? Was werden beide mit diesem Interview bei den Querdenkern auslösen?
In den Kommentierungen heißt es: „Wir machen auf“, „Großartige Artikel“, „Liest sich schön“; eine kritische Stimme wird so beantwortet: „Na hat man Sie kleinen Nichtsnutz Wieder aus der Anstalt des betreuten Denkens entlassen?“
Apropos Querdenker: Ein bisschen Restgewissen schien sich bei der Journalistin und dem Anwalt doch noch zu regen. Karpenstein sagt zwar, Unternehmen müssten sich „letztlich nicht an die deutschen Beschränkungen gegenüber Nicht-Kranken“ halten. Er habe aber versichert, schreibt der „Nordkurier“ beschwichtigend, niemanden zum offenen Rechtsbruch anstiften zu wollen. Nichts sagen die Zeitung und das Organ der Rechtspflege zu freilich zu verdeckten Rechtsbrüchen.
Wohl ein Versehen.
Im Grunde ist das aber eher simpel: Der ganze Schwachfug basiert auf der Annahme des Fehlens wissenschaftlicher Belege für eine Gesundheitsgefahr. "Er hat also nicht einen findigen juristischen Kniff gefunden – er hat nur eine handelsübliche Querdenker-These herausgehauen und mit allerlei Jura-Lametta geschmückt". Wenn man Coronaleugner ist, dann sind alle Maßnahmen natürlich rechtswidrig. Sie verstoßen gegen einfaches Recht (IfSG), Verfassungsrecht und (vielleicht) auch Unionsrecht. Irgendeine sensationelle Entdeckung, dass das Europarecht für sich genommen den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung entgegensteht, ist damit nicht verbunden. Vielmehr lässt das Europarecht willkürfreie Einschränkungen etwa der Dienstleistungsfreiheit aus Gründen des Gesundheitsschutzes und in Erfüllung der auch in der GrCh verankerten grundrechtlichen Schutzpflichten natürlich zu. Wieso der "Nordkurier" diesen Quatsch unkommentiert veröffentlicht, bleibt rätselhaft.