Spoiler
ZEIT: Wie geht es in diesen Winter hinein?
Drosten: Kältere Temperaturen werden ohne Zweifel die Übertragung ankurbeln. Wie sehr, das hängt aber vor allem davon ab, welche Virusvarianten sich in den kommenden Wochen durchsetzen. Gerade nehmen gleich zwei Omikron-Varianten Anlauf: BF.7 und BQ.1.1. BF.7 wäre der bessere Fall, diese Variante ist BA.5 sehr ähnlich, gegen das ein Großteil der Bevölkerung bereits immun ist. Es käme dann eine sanfte Winterwelle.
ZEIT: Es wäre, anders als die bisherigen Omikron-Wellen, keine Welle mehr, die durch eine Anpassung des Virus, durch Immunflucht bedingt wird.
Drosten: Genau, sondern durch "Waning". So nennt man den Effekt, dass Menschen, die sich im Sommer infiziert haben, im Winter schon wieder ein bisschen empfänglicher sind. Das wäre dann keine pandemische Welle mehr: Wir wären mit BF.7 im endemischen Zustand angekommen. Bei BQ.1.1 wäre das noch nicht so klar festzustellen, denn hier gibt es zusätzliche Immunflucht. Und tatsächlich holt BQ.1.1 gerade in mehreren europäischen Ländern auf. Wenn es dominant wird, könnte der Winter noch einmal schwierig werden.
ZEIT: Das Virus mutiert gerade an den immer gleichen Stellen, Forscher nennen das eine konvergente Evolution. Was passiert da?
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 48/2022. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
Drosten: Dieses Virus hat sich jetzt auf eine Nische festgelegt. BA.1 und BA.2, die ersten Omikron-Varianten, hatten noch nicht perfekt auf die wachsende Bevölkerungsimmunität reagiert, und da hat das Virus noch mal einen Schwenk gemacht: in Richtung BA.2.75 und BA.5. Seitdem stammen eigentlich alle Varianten von diesen beiden ab. Die BA.5-Variante ist wohl die evolutionäre Anpassung des Erregers an eine Bevölkerung, die zusätzlich zur Impfung auch schon eine BA.1-Durchbruchinfektion hatte. Die BA.2.75-Variante wiederum passt zu einer Bevölkerung, die stark mit Delta konfrontiert war. Die Evolution der beiden Viruslinien – die der impfenden Länder und jene aus Indien nach der schrecklichen Delta-Welle – kommt jetzt zu sehr ähnlichen Lösungen, wie die Viren der Bevölkerungsimmunität entgehen können. Wahrscheinlich verfestigt sich dabei gerade ein neuer Serotyp, also eine länger gültige Immunvariante.
ZEIT: Ist es überhaupt noch wahrscheinlich, dass eine Variante auftauchen wird, die uns wirklich noch mal gefährlich wird?
Drosten: Kurzfristig glaube ich nicht, dass eine wirklich böse Überraschung kommt. Das Virus kann an vielen Stellen in seiner Evolution nicht mehr ohne Weiteres zurück. Es ist ein wenig festgefahren und optimiert gegenwärtig nur nach – wobei es, das traue ich mich jetzt zu sagen, in unmittelbarer Zukunft wahrscheinlich auch etwas von seiner Virulenz opfern muss.
"Wahrscheinlich wird das Virus erst mal beim jetzigen Serotyp bleiben"
Seine Sorge gilt momentan China, da sich das Virus besonders gut entwickeln kann, wenn es viele Infektionen gibt. © Gene Glover für DIE ZEIT
ZEIT: Das Virus ist in eine Sackgasse geraten? Eine wirklich neue Variante müsste von ganz unten aus dem Stammbaum des Virus kommen?
Drosten: Ja, genau, oder es bräuchte eine Art Revolution, durch erneute massive Verbreitung irgendwo auf der Welt, wo das jetzt noch möglich ist. So war es bei den vorherigen Varianten, die globale Wellen gestartet haben.
ZEIT: Zum Beispiel in Afrika oder Indien.
Drosten: Genau. Meine momentane Sorge gilt allerdings China, das in einer ganz besonderen Situation ist. Das Virus kann sich immer dann besonders gut entwickeln, wenn es sehr viele Infektionen gibt. Und das könnte in China bald der Fall sein. Weltweit ist die Immunität recht homogen verteilt, in Industrieländern durch Infektion auf dem Boden der Impfung, in ärmeren Ländern sogar durch mehrfache Infektion der Bevölkerung. In China jedoch ist das nicht der Fall. Ich würde nicht ausschließen, dass dort in puncto Evolution noch einmal ein Sprung passiert. Ich erwarte es aber nicht in nächster Zeit. Und es kann genauso gut sein, dass erst einmal gar nichts mehr passiert. Dass das Virus in seiner Ecke bleibt. Dann wird es im jetzigen Serotyp endemisch, wandert zwischen den Hemisphären im Winter hin und her und wird recht zahm.
ZEIT: Wir laufen in einen Alltag hinein, in dem wir uns wiederholt mit Corona infizieren werden. Was bleibt als Risiko?
Drosten: Die Risiken werden immer kleiner. Wenn ein neues Virus erstmals auf eine ungeschützte Erwachsenenbevölkerung trifft, kommt es zu unvorhersehbaren Immunreaktionen, wie wir sie bei Long Covid sehen. Bei endemischen Viren infiziert man sich erstmals in der Kindheit, da ist die Immunreaktion anders. Bald gilt das auch für Sars-CoV-2. Daten aus Katar zeigen, dass eine überstandene Infektion vor einer Neuinfektion mit dem gleichen Serotyp fast eineinhalb Jahre lang schützt und bei einem anderen Serotyp wenigstens sechs oder sieben Monate lang. Wahrscheinlich wird das Virus erst mal beim jetzigen Serotyp bleiben – und wir werden einen lang anhaltenden Schutz haben. Erwachsene stecken sich dann viel seltener an.
ZEIT: Die ersten vier Bundesländer heben die Isolationspflicht für Corona-Infizierte auf. Das scheint dann nur konsequent, oder?
Drosten: Wenn man konstatieren kann, dass Sars-CoV-2 ein endemisches Virus ist, dann werden wir damit so umgehen wie mit anderen Erkrankungen. Für Influenza gibt es ja auch keine Isolationspflicht. So geht die Logik der Politik. Und eigentlich sind wir sowieso schon längst dabei, die Isolationspflicht aufzuweichen. Die fünf Tage, die im Moment vorgeschrieben sind, reichen in Wirklichkeit nicht aus, um Infektionen zu verhindern. Solche Kompromisse sind nur in einer Übergangsphase sinnvoll.
ZEIT: Als die Impfstoffe auf den Markt kamen, war von Wirksamkeiten von über 90 Prozent gegen Ansteckungen die Rede. Dann aber schrumpfte der Impfschutz schnell zusammen. Wie gut waren die Impfstoffe wirklich?
Thema: Corona-Impfungen in Deutschland
Corona-Impfungen in Deutschland: So viele Menschen wurden bereits geimpft
Drosten: Vielleicht hat man bei den Zulassungsstudien ein bisschen zu schnell gefeiert, weil sich nach drei Monaten niemand mehr ansteckte. Es fehlte die Erfahrung. Und weil sich seit Omikron mehr Geimpfte ansteckten, entstand der Eindruck, dass die Impfstoffe nicht so gut wirken. Man muss aber eindeutig festhalten: Gegen eine schwere Infektion und den Tod schützen die Impfstoffe absolut und nachhaltig – auch bei Omikron. Omikron ist nicht mild, das ist ein großer Irrtum. Nicht ein weniger krank machendes Virus hat die Omikron-Welle so viel milder gemacht, sondern die Impfung. Das haben wir in Hongkong gesehen, wo es in einer ungeschützten Bevölkerung in der Omikron-BA.1-Welle viele, viele Tote gab – man musste aggressiv reingehen und das sofort stoppen. Darin liegt auch der Grund für das chinesische Dilemma: Xi Jinping weiß ganz genau, dass er das Virus nicht einfach so laufen lassen kann. Zunächst muss die chinesische Bevölkerung so gut geimpft werden wie bei uns.
ZEIT: Kommen denn noch bessere Impfstoffe?
Drosten: Es werden so lange angepasste Impfstoffe kommen, wie es nötig ist.
ZEIT: Und Impfstoffe, die über die Nase verabreicht werden oder inhaliert werden können? In Indien und China wurden solche Impfstoffe bereits zugelassen.
Drosten: Bisher gibt es nur kleine Studien zur Wirksamkeit von Nasensprays und noch keine großen Studien zu deren Nebenwirkungen in der breiten Bevölkerung. Firmen, die bereits einen Corona-Impfstoff zur Injektion auf dem Markt haben, müssen befürchten, dass sie ihr Produkt kaputt machen, wenn in solchen Studien irgendeine neue Nebenwirkung auftaucht, die die bisherige Gabe in den Muskel nicht hat. Darum wird es kaum dazu kommen, dass existierende Vakzinen jetzt für diese Anwendungen umgewidmet werden. Es braucht dafür grundsätzlich neue.
ZEIT: In Deutschland sind Nasenspray-Impfstoffe also nicht wirklich in Sicht?
Drosten: Nein, in dieser Pandemie werden sie keine Rolle mehr spielen. Aber ihr Potenzial ist auch nach der Pandemie groß. Und es gibt weitere Erkrankungen, gegen die man möglichst in die Nase impfen will. Wir wollen ja irgendwann auch einen breiten Erkältungsimpfstoff haben, der dafür sorgt, dass wir uns nicht ein paarmal im Jahr eine Woche lang mies fühlen.
"Gegen die Sars-Spezies ist die Menschheit jetzt immun"
ZEIT: Ihr Durchbruch bedeutet dann das Ende des Schnupfens?
Drosten: Zumindest eher das Ende des Schnupfens, als dass er Schutz gegen die nächste komplett unbekannte Coronavirus-Variante bedeuten würde.
ZEIT: Sars-CoV-3 werden wir also nicht mit einer Impfung vorbeugen?
Drosten: Sars-CoV-3 wird es eh nicht geben. Gegen die Sars-Spezies ist die Menschheit jetzt immun. Und auf etwas ganz Unbekanntes, auch ein ganz anderes Coronavirus, kann man sich nur schwer vorbereiten.
ZEIT: Warum haben wir es eigentlich nicht geschafft, eine einzige richtig gute klinische Studie in Deutschland hinzubekommen?
Drosten: Ich kann mich schon an gute publizierte Studien auch aus Deutschland erinnern. Aber die klinische Forschung etwa in England ist einfach deutlich besser. Klinische Forschung kann nur an Universitätskliniken stattfinden. In Deutschland wird aber die Hälfte der Forschungsförderung, bevor sie überhaupt eine Universität erreichen könnte, in die großen Forschungseinrichtungen investiert. Die haben keine Krankenhausbetten. Wir investieren in Deutschland einfach weniger in bettennahe Forschung.
ZEIT: Wir mussten in der Pandemie sehr schnell unterschiedliche Interessen abwägen: Wir wollten zuallererst Leben schützen. Dann haben wir gemerkt, wie hoch der Preis dafür sein kann: Wir realisierten, dass Kinder ein Recht auf Bildung behalten sollten, wenn wir nicht große soziale Verwerfungen in der Zukunft riskieren wollen. Haben wir in dieser Pandemie genug dazugelernt – oder tun wir es noch?
Drosten: Nach meinem Gefühl steht die Aufarbeitung erst am Anfang. Vielleicht ist das auf eine unbestimmte Zeit nach dem Krieg verschoben. Vielleicht wird es nie dazu kommen. Dabei bin ich mir sicher: Es gäbe noch viel zu diskutieren.
ZEIT: Wird der wissenschaftlichen Beratung und der Evaluation der politischen Maßnahmen genügend Aufmerksamkeit geschenkt?
Drosten: In Deutschland bekam die wissenschaftliche Beratung bestimmt nicht zu wenig Aufmerksamkeit. Manche Gremien wurden aber von der Politik besetzt, in solch einer Situation müssen Experten dann in stärkerem Maße selbst an ihre fachlichen Grenzen denken. Beratende Gremienarbeit findet in anderen Ländern professioneller statt, etwa in Großbritannien mit der Scientific Advisory Group for Emergencies.
ZEIT: Wir hatten den Sachverständigenausschuss, der die einzelnen Corona-Maßnahmen bewerten sollte und der nach einhelliger Meinung zu wenig Zeit und Ressourcen hatte. Das Ergebnis war unbefriedigend. Geht die Evaluation derzeit überhaupt weiter?
Drosten: Ich bin mir nicht sicher. Dazu müsste es, glaube ich, noch mal einen konkreten Auftrag aus der Politik geben – und entsprechende Ressourcen.
ZEIT: Den Expertenrat, dem Sie angehören, gibt es aber noch, oder?
Drosten: Da würde ich die Aufgabe aber nicht sehen. Wir arbeiten vorwärtsdenkend und sollten uns auf die nächste mögliche Problemsituation konzentrieren. Ich glaube, für den Blick zurück müsste man ein neues Gremium bilden. Und Geld in die Hand nehmen, weil dafür Recherche- und Forschungskapazitäten notwendig sind. Dabei sind übrigens nicht nur Epidemiologen und Virologen gefragt, Letztere vielleicht sogar am wenigsten. Schließlich geht es um die sozialen Auswirkungen von Interventionen.
ZEIT: Und wenn wir jetzt rasch Antworten haben wollen, woher kriegen wir die? Wie sind wir auf die nächste Pandemie vorbereitet? Wie genau wissen wir, welche Maßnahme wie sinnvoll war?
Drosten: Tja, da gibt es sicher weitere Fragezeichen. Am Anfang einer Pandemie mit einem Atemwegserreger sind – das wissen wir heute – zum Beispiel Masken sehr sinnvoll. Aber mit der Zeit sinkt ihre Effizienz, ihr Beitrag zum Schutz. Ganz einfach weil sie dann nur noch eine weitere Komponente zusätzlich zur Immunität sind.
"Unsere Maßnahmen waren wirksam"
ZEIT: Traut sich denn jemand, auch die Fehler im Umgang mit der Pandemie anzusprechen?
Drosten: Die Debatte darüber mündet tatsächlich immer wieder in so einer Art Blame-Game: Fehler werden zum Teil einzelnen Personen zugeschrieben. Das ist absurd. Die Richtschnur politischen Handelns war der Stand der Wissenschaft. Und der verändert sich. Der Zuwachs an Erkenntnissen wird zum Teil missbraucht, um im Nachhinein Schuldzuweisungen zu formulieren, oft aus Gründen der Selbstinszenierung: Das hat die Politik falsch entschieden, hier hat sich die Wissenschaft geirrt. Aber was hat man in Deutschland denn am Ende falsch entschieden? Mir fällt wenig ein.
ZEIT: Wir haben die Schulen lange geschlossen gehalten.
Drosten: Es gibt die Legende, in Deutschland seien die Schulen besonders lange geschlossen gewesen, was gar nicht nötig gewesen sei. Das lässt sich aber nicht belegen. Nach OECD-Analyse lag Deutschland bei den Schulschließungen 2020 und 2021 im Mittelfeld, danach gab es keine mehr. Zudem kann man belegen, dass der Schulbetrieb zum Infektionsgeschehen beitrug, die dort ergriffenen Kontrollmaßnahmen dann aber auch wirkten. Das Ziel der Pandemiebekämpfung war die Reduktion der gesamtgesellschaftlichen Übertragungen des Virus. Einige Länder haben dafür stärker auf Homeoffice-Regeln und Kontakte am Arbeitsplatz gesetzt, andere stärker auf Schulen. Das war jeweils eine politische Kompromissfindung. In Deutschland hat man im Schulbereich vermutlich weniger Widerstand erwartet als bei den Arbeitgebern. Und die Gewichtung der Wirtschaftssektoren erlaubt es Ländern mit mehr Dienstleistung und besseren Online-Strukturen, anders zu agieren als Deutschland, das mehr produzierende Industrie hat.
ZEIT: Im Nachhinein gibt es eine ganze Reihe von Stimmen, die sagen: Jetzt sieht man es ja, es war alles gar nicht so schlimm, und viele Maßnahmen wären nicht notwendig gewesen. Was antworten Sie?
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Drosten: Lassen wir doch mal Omikron in Hongkong frei laufen! Dann sehen wir sofort, was passiert. Unsere Maßnahmen waren wirksam, nur deshalb sind die Folgen einigermaßen übersichtlich – wenn auch in vielen Einzelfällen dramatisch. Wenn wir im Nachhinein über Notwendigkeiten debattieren, dann erliegen wir einem Präventionsparadox: Eben weil gehandelt wurde, passierte am Ende weniger, als anfangs zu Recht befürchtet werden musste! Man findet dennoch leicht Belege dafür, wie notwendig die Maßnahmen waren. Nehmen wir Südafrika, eines der wenigen ärmeren Länder mit guten Daten. Hier ist exakt die erwartete Zahl von Menschen in den verschiedenen Altersklassen gestorben, ganz wie vorhergesagt. Und das ganz einfach, weil sich da so viele Leute infiziert haben, bevor geimpft werden konnte. Die Maßnahmen bei uns dienten ja dazu, auf die Impfung zu warten, bevor man Infektionen zulässt.
ZEIT: In Summe und trotz vieler fehlender Daten: Wie hat Deutschland abgeschnitten?
Drosten: Unter den großen europäischen Ländern, die sich strukturell vergleichen lassen, also Frankreich, Spanien, England ... da ist Deutschland am besten durch die erste Welle gekommen. Die Politik in Deutschland war die erfolgreichste, sie hat am meisten Leben gerettet. Wir waren aber gleichzeitig das einzige dieser großen Länder, in dem die zweite Welle mehr Opfer gefordert hat als die erste. Die anderen Länder haben also offenbar gelernt. Und bei uns wurde die Politik durch die kontroverse Debatte im Herbst 2020 so verwirrt, dass sie nicht mehr wusste, was sie glauben sollte. Das Ergebnis ist erschreckend: 60.000 bis 70.000 Tote allein in der zweiten Welle.
ZEIT: Wie blicken Sie denn persönlich auf die zweieinhalb Jahre der Pandemie und Ihre Rolle darin zurück?
Drosten: Wenn man sich in die Öffentlichkeit begibt – das wusste ich –, wird das in der Wissenschaft meistens bestraft. Aber ich war mir auch bewusst, dass ich fachlich auf einigermaßen dickem Eis stehe und das wahrscheinlich aushalten kann. Ich konnte in der Zeit andere Dinge nicht machen, die für mein Institut und für die Charité wichtig gewesen wären. Die mache ich jetzt wieder. Es war für mich von vornherein eine professionelle Intervention, ein begrenztes Projekt, mit dem ich aufhöre, wenn ich nicht mehr gebraucht werde. Darum habe ich den Podcast nach der BA.2-Welle beendet. Da war die große gesellschaftliche Brisanz nicht mehr gegeben, da waren die Sterblichkeit und auch die Angst schon erheblich zurückgegangen.
ZEIT: Sind Sie mit sich im Reinen?
Drosten: Ich kann für mich persönlich kein eindeutiges Resümee ziehen. Ich habe Chancen liegen lassen, die andere genutzt haben. Immerhin bekomme ich aus der Wissenschaftscommunity kein negatives Feedback.
ZEIT: Finden Sie, Sie sind in der Öffentlichkeit hinreichend durchgedrungen?
Drosten: Ich bin da durchgedrungen, wo sich jemand die Zeit genommen hat, das zu hören oder zu lesen, was ich von mir gebe, im Podcast oder in großen Interviews wie diesem hier. Leider wurden immer wieder Aussagen von mir verkürzt, aus dem Kontext gerissen und bis zur Verfälschung zugespitzt. Aber von vielen Menschen, auch von Kollegen aus dem Ausland, höre ich, dass ich Orientierung vermitteln konnte.
"Die nächste Pandemie verhindert man durch Bildung"
ZEIT: Und bei der nächsten Pandemie – steigen Sie wieder ein?
Drosten: Wenn es eine gesellschaftliche Bedrohung gibt, bei der ich weiß, dass mein Wissen etwas ändern könnte, würde ich es natürlich machen. Aber ich erwarte nicht, dass das bis zu meiner Rente noch mal passiert.
ZEIT: Weil das nächste pandemische Großereignis doch eine Influenza sein wird?
Drosten: Influenza H2N2 wäre auf jeden Fall ein Kandidat. Und da gibt es in Deutschland ein paar Leute, die sich sehr viel besser auskennen als ich.
Die nächste Pandemie verhindert man durch Bildung. Das ist der Schlüssel zu allem
Christian Drosten
ZEIT: Sind wir auf die nächste Pandemie, global betrachtet, besser vorbereitet?
Drosten: Global ist ein gutes Stichwort. Eine Pandemie wird nicht verhindert, indem man Fledermäuse beprobt oder Grundlagenforschung im afrikanischen Regenwald betreibt. Die nächste Pandemie verhindert man durch Bildung. Das ist der Schlüssel zu allem: dass Länder des Globalen Südens auf Bildung setzen, von der Schule bis in die Universitäten, dass Irrglaube und Unmündigkeit verschwinden und Wissenschaftler in ihren Heimatländern arbeiten können. Da kann auch Forschungsförderung und Entwicklungszusammenarbeit ansetzen. Es würde sich auch für Deutschland lohnen, da mehr zu investieren.
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ZEIT: Und in Deutschland selbst?
Drosten: Die Antwort auf eine Pandemie wird immer besser sein, wenn man bessere Daten hat. Dazu braucht man aber den entsprechenden Zugang und effiziente Strukturen. Da ist Deutschland eindeutig zu schwach: Die Data-Science, die Wissenschaft, haben wir zwar, uns fehlt jedoch der Zugang zu den Daten.
ZEIT: Zugang, das ist ein entscheidendes Stichwort: Wichtig für die Bekämpfung von Sars-CoV-2 war unter anderem, dass die Sequenz des Virus relativ früh aus China über die wissenschaftlichen Kommunikationskanäle verbreitet wurde. Jetzt droht wieder die Bildung politischer Blöcke. Können wir weiterhin darauf setzen, dass jenseits der politischen Ebene die Wissenschaft immer miteinander spricht?
Drosten: Darauf kann man sich nicht verlassen. Beispiel Russland: Wir haben lange Jahre mit einer Institution in Moskau zusammengearbeitet. Wissenschaftler haben Proben von Wildtieren, von Insekten, von Menschen genommen, und wir haben bei der Auswertung unterstützt. Damit hatten wir auch ein Radar für Infektionserreger in Russland. Dieser Teil des Bildschirms ist jetzt dunkel. Und diese Form der Pandemievorsorge wird jetzt sicherlich auch mit China schwieriger.
Virus in der Sackgasse
In diesem Jahr gab es in Deutschland bisher vier Omikron-Wellen. Sie brechen immer schneller, das ist ein gutes Zeichen: Das Ende der Pandemie kommt. © ZEIT-Grafik
ZEIT: Sie selbst sind seit einiger Zeit nicht mehr öffentlich aufgetreten. Ihr letztes großes Interview ist einige Monate her. Merken Sie das in Ihrem Alltag? Können Sie sich freier bewegen?
Drosten: Die Öffentlichkeit hat ein kurzes Gedächtnis. Zum Glück. Ich finde das angenehm. Ein längeres Gedächtnis haben die Menschen, denen ich offenbar geholfen habe. Wenn ich jetzt angesprochen werde, ist das meistens positiv.
ZEIT: Das gilt im echten Leben und im digitalen Raum? Sie waren auf Twitter sehr aktiv.
Drosten: Das digitale Leben interessiert mich nicht mehr. Ich habe in Twitter seit Monaten gar nicht mehr reingeguckt.
ZEIT: Und was lesen Sie jetzt?
Drosten: Ich habe drei Zeitungen abonniert, die lese ich regelmäßig – natürlich online. Ich genieße diesen journalistischen Filter sehr.