Prozessbericht:
.... das Chaos hatte versagt - einmal mehr. Schon früh war ihm bewusst, dass es nicht rechtzeitig aus den Federn kommen würde - morgens nicht und auch nicht am Nachmittag.
Schon früh musste eine Lösung gefunden werden, denn der Bericht war versprochen, der Prozess musste beobachtet werden.
Der erste Tag
Melzer zeigte sich genervt, als er den Auftrag bekam, im Grunde war er jedoch froh; es war seine Stadt, es war sein Gericht, jedenfalls war er dort ausgebildet worden und hatte damals mit gebrochenem Kiefer sein erstes Plädoyer als Staatsanwalt gehalten.
"...geh' möglichst früh" hatte der Chef gesagt, der Wichtigtuer, "wegen der Einlasskontrollen. Du weißt doch, wie das bei diesen Reichsdeppenprozessen zugeht." Melzer hatte dem nicht geglaubt, war aber aus wehmütiger Vorerwartung, die frühere Wirkungsstätte wieder zu sehen, weit vor er Zeit aufgebrochen. Und tatsächlich, den Eingang belagerte eine unübersehbare Menge von Leuten, hart rauchende Männer mit Aufnahmegeräten welche das Zeichen des staatlichen Rundfunks trugen. Melzer war erstaunt, verstimmt, dass der Chef, wieder einmal, recht hatte. Die Stimmung hellte sich schlagartig auf, als Melzer auf Nachfrage erfuhr, dass die Meute nicht dem kleinen Mann aus dem Osten galt, sondern einer nicht viel größeren Frau, ebenfalls aus dem Osten die mit scheußlichen Mordtaten die Welt gegen sich aufbringt. Der Dienstausweis Melzers schützte ihn nicht - er war lange abgelaufen; Melzer wurde untersucht. Gründlich.
Vor dem Saal des zu beobachtenden Prozesses: Leere. Die zuerst erscheinende Gestalt erschreckte Melzer sehr: Peter Frühwald, mit zwei riesigen Aktenkoffern strebte mit wehenden Mantelschößen auf den Gerichtssaal zu. Was wollte der? H. verteidigen? Ja, wollte er, wie Melzer später erfuhr, jetzt aber, beim Eindringen Peters in den Bereich der noch nicht vom Alter getrübten Sicht Melzers, sah dieser dass sich die Gestalt Frühwalds zugunsten der eines jüngeren, glatteren Herren auflöste, der später von der Vorsitzenden der Kammer als Pflichtverteidiger W. angesprochen werden sollte.
Zunächst füllte sich aber der Vorplatz mit Uniformierten des bayerischen Justizvollzugsdienstes, sechs bis sieben von ihnen, geschlechtsbezogen gleichmäßig verteilt, legten Absperrung und Durchsuchungsbesteck bereit. Bereits vorher war vor dem Gerichtssaal ein großer Anschlag mit der Verfügung der Vorsitzenden aufgefallen, welch den Zugang der Zuschauer in den Gerichtssaal nicht nur von einer neuerlichen Durchsuchung,sondern darüber hinaus von der Abgabe sämtlicher Habe, bis auf das was man unmittelbar am Leibe trug, abhängig machte. So geschah es, dass Melzer sich hemdsärmelig auf den harten Zuschauerstühlen der bayerischen Strafjustiz wieder fand, da wo er bisher selten gesessen war. Einen mitgebrachten Oktavblock verbot man ihm später unter Hinweis auf das Hausrecht der Vorsitzenden zu beschreiben.
Und nun kam er; H. selbst. Man kannte ihn bisher nur von den wenigen Bildern aus seiner Jugend. Melzer erkannte ihn deshalb kaum; ein kleiner hagerer Kopf, der aussah, als wollte er kleiner werden und sich in den stämmigen Hals zurückziehen, was nur durch die übergroße Nase verhindert wurde, die aus dem Gesicht hervorstach. Ansonsten: knabenhaft schlanke Figur, unauffälliges Benehmen; Melzer irritierte nur ein zeitweiliges Grinsen, unvermutet auch auf ihn, Melzer gerichtet.
Wenn man nun erwartet hatte, dass der Gerichtssaal gefüllt gewesen wäre von den einschlägigen Gestalten, wie dies auch dem Gericht schwante, so wurde man enttäuscht. Melzer sah sich mit drei bis vier Familienmitgliedern M.s, den zwei bis drei immer anwesenden Justizrentnern und zwei aus Franken angereisten Justizkritikern alleine. Jetzt tat er im leid, der H. Er hatte all seine Freunde in den virtuellen Weiten eingeladen, seine Schützlinge, seine "Mandanten"; keiner war gekommen.
Man war vollzählig: der Angeklagte, sein Wahl-Pflichtverteidiger W. (der Pseudo-Frühwald), die Vorsitzende H., eine reifere, blonde Dame, die modisch in die Komparserie eines Edgar-Wallace-Filmes gepasst hätte und deren urbayerische Herkunft bei ansonsten tadellosen Deutsch immer wieder hervorblitzte. Sie wurde flankiert von zwei ältlichen Laienrichtern beiderlei Geschlechts. Der Staatsanwalt, eher jung als alt mit glatt rasiertem Kopf und modischer Brille saß rechts und rechter noch der Sachverständige, dem man während der Verhandlung das Unverständnis darüber ansah, warum man ihn geladen hatte.
Prozessbeginn. Immergleiches Ritual der Verhandlung. Aufnahme der Personalien. Hier blitzte sie zum ersten Male auf, aber kurz und kraftlos, die Kernkompetenz, das Markenzeichen H.s, sein Kampf um den Namen. Was vom Gericht als Vor- und Nachnahme aktenkundig war, sei falsch, man schriebe ihm von weit und nah unter anderem Namen an; zwischen den als Vor- und Nachnahmen notierten Worten wolle er ein "aus dem Hause" eingefügt wissen. Nun zeigte die Vorsitzende zum ersten Male das, was sie gleichmäßig das Verfahren hindurch dem H. entgegenzusetzen entschlossen war: ruhige Bestimmtheit; mit der verwehrte sie dem neuen Namen H.s den Eingang ins Protokoll, wie auch die zaghaft vorgetragene Forderung des Angeklagten, vor Prozessbeginn die Garantie des Gerichtes zu protokollieren, dass es nach Menschenrecht verfahren würde, nicht barsch aber kurz verweigert wurde.
Nun erfuhr man erst, worum es ging: H. war am 13. August 2014 verurteilt worden, weil er in insgesamt 15 Fällen bei Behörden und Gerichten angerufen und die jeweiligen Gesprächspartner dabei mehr oder weniger schwer beleidigt haben soll, wobei zuweilen das Wort "Nazi" gefallen sein soll. So geführte Telefonate habe er digital aufgezeichnet und mehrfach über das Internet verbreitet. Solches Tun war dem Münchner Amtsrichter der ersten Instanz eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten wert, die er gerade noch zur Bewährung aussetzte. Weder der Angeklagte noch die Staatsanwaltschaft waren mit diesem Spruch zufrieden, weshalb man sich hier und heute zur Berufungsverhandlung traf.
Nachdem die Vorsitzende unterschwelligem Maulen sowie schon lauterem Protest des Angeklagten, welche irgendwie Menschenrechtsverletzungen zum unverständlichen Gegenstand hatten, nun schon resoluter begegnete, begann sie nun lang und breit die Untaten H.s, 15 an der Zahl zu verlesen. Melzer langweilte sich, das kannte er alles schon; lange bevor die bayerische Justiz ihr träges Auge auf den Thüringer Eiferer geworfen hatte, waren ihm die mitgeschnittenen Telefonate immer und immer wieder vom Chef vorgespielt worden, wobei dieser mit eiferroten Bäckchen und stechendem Zeigefinger fiepte: "Das bricht ihm das Genick, das bricht ihm das Genick!". Melzer wendete sich augenrollend ab, das waren im Grunde doch Kindereien.
Jetzt wurde getreu der Leitschnur der Prozessführung der Angeklagte gefragt ob er sich einlassen wolle. Nun war der Augenblick gekommen, in dem H. sein ganzes Wissen ausspielen konnte, seine Prozesstaktik zum Zuge kam, und sein Kampf gegen das Unrecht der Justiz den Höhepunkt erreichen würde. Er forderte erneut mit seiner dunklen wohltönenden Stimme, das Verfahren gemäß dem sechsten Artikel der Konvention der Menschenrechte Europas geführt werde. Als nun der Vorsitzenden dieser flammende Appell nicht mehr als eine eher beiläufige Versicherung, dass die angewandte Prozessordnung auf jeden Fall der zitierten Konvention entspreche, wert war, sah der Angeklagte den Zeitpunkt für ein schnelles Ende des Verfahrens gekommen, er lehnte wahlweise das Gericht und/oder die Vorsitzende ab. Da eine solche Ablehnung eine ernste Sache ist, die wohl beantragt und beschlossen sein will, fragte die Vorsitzende zweifelnd bei dem bis dahin schweigend und sichtlich geplagt vor sich hinschauenden Wahl-Pflichtverteidiger nach, ob ein solcher Antrag, der sorgfältigster Ausführung und Begründung zum Erfolge bedarf, auch wirklich gestellt werden sollte. Der zur Verteidigung verpflichtete hub an den Kopf stumm zu schütteln, wurde aber vom halblaut aber empört vorgetragenen Einspruch des Angeklagten daran gehindert. Das Gericht unterbrach nun, damit der Verteidiger den Antrag formulieren könne, was diesem in aller Kürze und nach Melzers Geschmack und Wissen nicht gut - ja schlecht geriet. Dem Gericht machte die Abweisung nach kurzer Beratung keine Mühe.
Die nun folgende Beweisaufnahme wurde von der Aussage des kriminalpolizeilichen Sachbearbeiters eröffnet, welcher das vielgliedrige Werk des Angeklagten auszuwerten hatte, eine Aufgabe um die er, wie aus seinen Ausführungen zu entnehmen war, nicht beneidet werden konnte. Melzer war schon nach den zwei, drei Filmchen H.s, die er sich angetan hatte genervt, der Beamte musste 165 Proben digitalen Unsinns über sich ergehen lassen.
Nun war das Verfahren in ein Stadium eingetreten, das Melzer immer gehasst hatte. Man stand am Fusse des Faktenberges, der in jedem Strafverfahren überwunden werden muss. Da die Vorsitzende das genau so sah und auch den Berg nicht unbedingt besteigen wollte, machte sie dem Angeklagten das Angebot, die Strafe, selbstverständlich mit Zustimmung der Anklage auf ein Jahr und drei Monate zu reduzieren, wenn er den Prozessbeteiligten das Verfahren, das auf mehr als sechs Verhandlungstage angesetzt war, durch ein Geständnis ersparen würde.
Nach kurzer Beratung lehnte der Angeklagte ab.
Melzer verließ die Verhandlung, die für heute beendet war, angewidert; auf keinen Fall würde er sich bereit erklären auch die restlichen Verhandlungstage zu beobachten, da konnte ihn der Chef strafversetzen wie er wollte.
Am liebsten hätte er ihm auch das nicht erzählt, was ihn wohl am meisten aus dem Häuschen brachte, diesen Wichtigtuer:
An einem Punkt der Beweisaufnahme zitierte der Staatsanwalt aus einem "Wiki des sog. Sonnenstaatlandes" die Biographie des Angeklagten. Weniger hätte dem Chef aber das gefallen, was der Kriminaler auf die Frage des Gerichts antwortete, ob man diesem "Sonnenstaat" nachermittelt habe und um was es sich dabei handele. Der Beamte antwortete bescheiden: Das sei Zeitverschwendung. Das gefiel Melzer und er trat den Heimweg in der Gewissheit an, dass sein Gericht, seine Justiz die Sache schon regeln werde.