Winterthur
Staatsverweigerer im Gerichtssaal
Ein harmloser Fall am Bezirksgericht wurde am Freitag von einer Gruppe Verschwörungstheoretiker gestört. Sie zweifelten offen die Legitimität von Staat und Gericht an. Zuletzt war ein Polizeieinsatz nötig.
Die Verhandlung am Freitagnachmittag verspricht eine kurze Sache zu werden. Ein Rosenkrieg. Die Angeklagte soll einer Bekannten erzählt haben, ihr Noch-Ehemann habe die gemeinsame Tochter missbraucht und sei ausserdem drogensüchtig. Dies obwohl sie gewusst habe, dass beides nicht stimmt. Die Anklage lautet auf Verleumdung und üble Nachrede, gefordert ist eine bedingte Geldstrafe.
Normalerweise kommen solche Fälle gar nicht erst vors Gericht, sondern die Eheleute einigen sich auf einen Vergleich. Doch in diesem Fall ist gar nichts normal. Das wird schon klar, bevor sich die schwere Holztür des Bezirksgebäudes öffnet.
Wer sind all diese sonderbaren Leute?
Auf dem Vorplatz hat sich eine zehnköpfige Menschengruppe versammelt, die äusserlich auf keinen Nenner zu bringen ist: Ein blasser Jüngling in Zehenschuhen. Eine blonde Lady im Business-Anzug.
Ein krausköpfiger Mittvierziger, von Kopf bis Fuss in enge hellblaue Wanderkleidung gehüllt. Eine uralte Frau, die sich am Stock die Gerichtstreppe hochquält. Ein Deutscher mit Daunenjacke. Wer sind all diese Leute?
«Sie haben dem Jungen nichts zu sagen, er ist ein Mensch!»Zwischenruf aus dem Publikum
Eins sind sie jedenfalls nicht: die leibliche Familie der Angeklagten. Deren echte Verwandte müssen den Gerichtssaal gleich zu Beginn verlassen, da der Teenager-Sohn noch keine sechzehn Jahre alt ist.
Als die Ersatzrichterin ihn auffordert zu gehen, wird es das erste Mal laut in den Zuschauerrängen. «Sie haben dem Jungen überhaupt nichts anzuordnen», poltert der lockige, rundliche Mann in Hellblau. «Er ist ein Mensch!» «Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gefragt», donnert die junge Ersatzrichterin zurück.
Sie erinnert an die Regeln für Zuschauer vor Gericht. Keine Fotos, keine Tonaufnahmen und vor allem: kein Mucks.
Hämisches Lachen und Kopfschütteln
Der Polterer gibt sich uneinsichtig und wird verwarnt. Bei der nächsten Störung müsse er den Saal verlassen und könne gebüsst werden. Er bleibt und die Gruppe beschränkt sich auf heftiges Tuscheln, hämisches Lachen und Kopfschütteln.
Meine Sitznachbarin, eine nervöse Frau mit strähnigem Haar schreibt zunächst atemlos jedes Wort auf einen Notizblock und verfällt später darauf, ihren Kopf flach auf die Tischplatte zu legen und genervte Laute auszustossen, um ihr Missfallen auszudrücken.
Dass die Staatsanwaltschaft und der Kläger nicht erschienen sind – durchaus üblich bei so banalen Fällen – weckt besonders viel Misstrauen. «Wo ist er?», zischen die Zaungäste im Chor, jedes Mal wenn der Name des Klägers genannt wird.
Eskalation um Unterschriften
Die zwei Richterinnen und die Gerichtsschreiberin, alles junge Frauen, versuchen, sich nicht allzusehr irritieren zu lassen. Während 40 Minuten gelingt das ganz gut. Dann kommen die Zuschauer zum Schluss, dass der Prozess nicht wie gewünscht läuft, und sie sich einbringen mussen.
«Die Unterschriften!», zischt meine Sitznachbarin der Angeklagten zu. «Sie hört dich nicht», sagt der Herr in Blau laut, steht auf, tritt nach vorne, und legt der Angeklagten ein Büschel Briefe aufs Pult.
«So einen Zirkus habe ich noch nie erlebt»Pflichtverteidiger der Angeklagten
«Geben Sie mir das!» Die Richterin ist inzwischen aufgestanden und schnappt sich die Zettel. «Sie haben hier überhaupt nichts einzureichen. Setzen Sie sich an Ihren Platz. Überhaupt, ich habe Sie bereits mehrfach verwarnt, verlassen Sie den Saal!»
«Ich bleibe», sagt der Herr in Blau und verschränkte die Arme vor seinem Kugelbauch. «Sie können mir nichts befehlen. Ich bin ein Mensch.»
«Dann unterbreche ich jetzt die Verhandlung», antwortete die Richterin. «In zwanzig Minuten ist die Kantonspolizei da.»
«So einen Zirkus habe ich noch nie erlebt», sagt der Pflichtverteidiger der Angeklagten kopfschüttelnd. Er hatte vergeblich gehofft, seine Mandantin von einem Vergleich zu überzeugen.
Eine riesige Verschwörung
Erklärungsversuche vor der Tür. «Dieser Prozess ist nur ein kleiner Teil einer viel grösseren Sache», erklärt mir die Businesslady. «Das kann ich Ihnen in fünf Minuten nicht erklären. In der ganzen Schweiz wurden Prozesse gegen Unschuldige angestrengt.»
Von wem denn? «Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir wissen natürlich mehr.» Natürlich. Deshalb reisten diese Menschen, die einander aus dem Internet kennen, an einem Arbeitstag nach Winterthur. Es geht um ganz viel, wenn nicht um alles.
Doch was hat es mit den Unterschriften auf sich? «Es geht um mehrfachen jahrelangen Unterschriftendiebstahl», sagt die Businesslady und kramt in ihrer Tasche. «Sehen Sie diese Briefe?
Sie stammen aus verschiedenen Jahren, aber die Unterschrift ist immer absolut identisch. Sie können sie übereinanderlegen.» Auch die Ermächtigung zur Klage müsse also eine Fälschung sein. Höchstwahrscheinlich wisse der Mann nichtmal, dass in seinem Namen geklagt werde. Ich frage nach.
«Haben Sie ihn das gefragt?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Es ist erwiesen.»
«Fragen Sie ihn doch trotzdem.»
«Es ist unmöglich, an ihn heranzukommen.»
«Seine Telefonnummer steht auf dem Briefkopf. Zu dieser Zeit ist er wohl in der Praxis.»
«Ich muss das nicht. Es ist erwiesen.»
«Soll ich ihn selbst anrufen?»
«Nein.»Was passiert hier? Gehören die Besucher zu einer Sekte? Jein – alle Hinweise deuten auf Personen aus dem Reichsbürger-Milieu hin. Also Personen, die überzeugt sind, dass unser Staatswesen in Wahrheit kein legitimer Staat ist, sondern eine Firma oder ein Verein, dessen Gesetze für sie nicht gelten. «Das Gericht kann nur über Personen befinden, nicht über Menschen», erklärt mir einer der Zuschauer.
Der Staat, nur ein Verein
Reichsbürger bilden darum oft eigene Gerichte (Common Law Courts) die sich auf ein «Naturrecht» berufen. Manche stellen selbst «offizielle» Dokumente wie Pässe oder Autokennzeichen aus.
Aus der Tasche eines Zuschauers blitzen solche selbstgemachten Urkunden: Fingerabdrücke in roter Tinte, unterzeichnet mit dem Vornamen in Kleinbuchstaben. In den USA, der Hochburg der Bewegung, wird die Zahl der «Sovereign Citizens» auf 100 000 geschätzt.
Harmlose Spinner? Nicht immer. Im Oktober 2016 wurde in Bayern ein Polizist von einem Reichsbürger erschossen und im Oktober stand der ehemalige Mister Germany Adrian Ursache in Halle vor Gericht, weil er auf einen Polizisten geschossen hatte. Das FBI stuft die «Sovereign Citizens» als terroristische Vereinigung ein.
Der Reichsbürger spielt den Helden
Inzwischen sind vier Kantonspolizisten eingetroffen. Der verbannte Störenfried nimmt wieder im Saal Platz. Die Richterin erklärt ihm, er müsse sich ausweisen, damit die Busse zugestellt werden kann. Er weigert sich. Ein breitschultriger Polizist in Schutzweste beugt sich über ihn und zitiert die Gesetze, nach denen er berechtigt ist, die Identität festzustellen.
Der Reichsbürger will den Helden spielen. «Ich bin ein Mensch!» schreit er, als die Polizisten ihn zu zweit aus dem Gerichtssaal zerren. Aus dem Foyer hört man Schreie und Gepolter. Statt einer simplen Busse von 200 Franken hat der Mann nun ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft wegen Hinderung einer Amtshandlung und Nichtbefolgen polizeilicher Anweisungen am Hals.
Der Rest des Prozesses verläuft in geordneten Bahnen. Am Ende beschwert sich eine füllige Dame mit grauen Locken bei der Richterin darüber, dass zwei Polizisten im Saal blieben. «Einschüchternd und völlig unnötig» sei das gewesen. Es ist die Psychiaterin Regina Möckli aus Andelfingen, die auf Youtube gerne gegen Berufskollegen schimpft und psychiatrische Kliniken mit «Vernichtungslagern» vergleicht.
Das Urteil wird den Parteien schriftlich zugestellt.
(Der Landbote)
Erstellt: 18.04.2018, 17:55 Uhr