Ansonsten eben etwas Hintergrund.
Spoiler
Angefangen hat alles zu der Zeit, als Birgit Mayer*, 66, Rollläden für ihre Fenster kaufte. Sie sitzt in ihrem Esszimmer auf einer Eckbank und schaut über verschneite Hügel auf die Skifahrer, im Hintergrund surren die Gondeln der Hörnerbahn den Hang hinauf. Birgit Mayer hat ihre Rollläden noch nie heruntergelassen, sagt sie. Sie hätte auch nicht gedacht, dass sie mal welche brauchen würde, hier oben auf dem Berg, weit weg von der Welt. Bolsterlang im Allgäu, Ferienhäuser, ein Sportgeschäft, ein paar Höfe, ein Dorfladen, eine Feuerwehr, eine Bushaltestelle.
Als aber die Bürgermeisterin erklärte, die Flüchtlinge kommen – später hieß es sogar, sie würden in den "Hirschen" ziehen, das älteste Wirtshaus am Ort –, kamen Fragen auf. Etwa, ob Kinder und Frauen im Dunkeln noch sicher seien. Einige aus dem Dorf überlegten, sich zum Schutz vor "den Fremden" Waffen zu besorgen. Andere wollten gleich ganz auswandern oder eben zumindest ihre Fenster verrammeln. Das war vor zwei Jahren.
Die Bürgermeisterin soll in Bolsterlang ein "Reichsbürgertreffen" organisiert haben
Heute steht Bolsterlang im Visier des Verfassungsschutzes. Vier Gemeinderatsmitglieder sind zurückgetreten, und gegen Bürgermeisterin Monika Zeller, 56, läuft ein Disziplinarverfahren. Sie soll in Bolsterlang ein "Reichsbürgertreffen" organisiert und daran teilgenommen haben.
Zudem hat sich Zeller, wie jene vier Gemeinderäte, beim Landratsamt den "gelben Schein" besorgt: den "Staatsangehörigkeitsausweis", ein Dokument, das selten Verwendung findet, bei Reichsbürgern aber als eine Art Personalausweis des Deutschen Reiches gilt. Ein gelbes DIN-A4-Blatt, oben prangt der deutsche Adler.
Verschwörungstheoretiker, Rechtsradikale, Rassisten, Königstreue – Reichsbürger sind eine schwer zu fassende Gruppe, die aber eines verbindet: Sie erkennen die Bundesrepublik Deutschland als Staat nicht an, für sie besteht das Deutsche Reich fort – was eine problematische Haltung für eine Bürgermeisterin wäre. In Bayern gibt es besonders viele Reichsbürger, und in Zeiten von Flüchtlings- und Vertrauenskrisen werden es immer mehr, mit bizarren Folgen wie nun in Bolsterlang.
Die Ereignisse haben das einst friedliche Dorf tief gespalten. Das ominöse Reichsbürgertreffen, die steigende Zahl von Waffenscheinen. Die Gerüchte über angeblich bevorstehende Grundstücksenteignungen durch die "BRD". Gemeinderäte sollen von Tür zu Tür gegangen sein, vor allem zu den alten Bauern, und sie ermahnt haben, sich den "gelben Schein" zu besorgen. Haus und Hof seien in Gefahr.
Einige Bewohner waren daraufhin mit Trillerpfeifen durchs Dorf gelaufen und hatten eine Ratssitzung gestürmt. Man wolle keine Reichsbürger in Bolsterlang, hatten sie gerufen, diese ganze "Angstmacherei" solle aufhören! Zeitungen berichteten über Bolsterlang als "Reichsbürgernest". Dann besann man sich im Dorf, wollte dem Ort mit seinen Fremdenzimmern, Skiliften und gewalzten Winterwanderwegen nicht weiter schaden. Wollte die Ermittlungen der Landesanwaltschaft im Disziplinarverfahren erst mal abwarten. Ein Jahr haben die gedauert, nun sind sie abgeschlossen, das Ergebnis wird bald präsentiert. Im Dorf herrscht angespannte Ruhe.
Wie genau es zu der "Reichsbürgersache" kam, kann Birgit Mayer nicht mehr sagen. Es habe aber mit den Flüchtlingen zu tun. Das Haus eines der Gemeinderäte jedenfalls, der später zurücktrat, liegt gleich gegenüber dem "Hirschen". Mit einem "Brettl" könnten die Flüchtlinge von Balkon zu Balkon steigen, wütete er damals, daran erinnert sich Birgit Mayer. Zu der Zeitbegann sie sich mit Rollläden zu befassen.
"A Zuagroaste"
Da gab es dieses Treffen im Gemeindehaus, im März 2016, kurz nachdem es überall geheißen hatte: Die Flüchtlinge kommen! Bürgermeisterin Zeller soll den Raum persönlich aufgeschlossen haben. Etwa 30 Menschen sollen gekommen sein. Ein Referent war extra aus Baden-Württemberg angereist: Markus Hailer, ein "freier beseelter Mensch aus Fleisch und Blut, selbst denkend und verwaltend und nicht verschollen", wie es auf seiner Homepage heißt. Als das Seminar in Bolsterlang stattfand, war dort auch zu lesen: "Das System wankt. Es ist nicht die Frage, ob es kippt, sondern nur noch WANN!"
Im Nachhinein will kaum einer aus dem Dorf an dem Treffen teilgenommen haben. Man wisse nur, dass "bestimmte Leute" eingeladen waren. Die Gemeinderäte aus Bolsterlang. Und auch welche von unten, aus dem Tal, ein wenig näher an der Welt. Einige hätten den Saal aber mittags wieder verlassen. Ungeheuer sei manchen der Mann aus Baden-Württemberg vorgekommen. Von giftigen Kondensstreifen habe er an diesem Tag gesprochen. Über eine eigene Währung und eigene Regeln für Bolsterlang. Und über den gelben Schein, das einzige Dokument, welches das Eigentum schützen könne.
Im Grunde hätte die Welt gar nichts von alldem erfahren müssen. Man hätte die Sache im Dorf belassen, unter sich klären können, "wär'n dierat ned mit Trillerpfeifen umanander g'loffen", sagt ein Mann, Schneeschuhe, Vollbart, im Vorbeigehen. Doch nachdem die Demonstranten den Gemeindesaal gestürmt hatten, rief jemand die Polizei, bat um Hilfe wegen rebellierender Bürger und Boykotts einer Sitzung. Womit alles seinen Lauf nahm. Die Ermittlungen, die Rücktritte, die Zeitungsberichte, das Disziplinarverfahren.
Ein paar Wochen später, nach der Demo und dem Anruf bei der Polizei, als längst die ersten Fernsehkameras in Bolsterlang auftauchten, wuchs doch die allgemeine Einsicht. Bei einer Bürgerveranstaltung, zu der fast das ganze Dorf gekommen war und in deren Verlauf die vier Gemeinderäte ihren Rücktritt bekannt gaben, um den Ort "vor größerem Schaden zu bewahren", beschloss man kollektives Stillschweigen.
Barbara Charles, kurzes braunes Haar, lebt schon seit 40 Jahren in Bolsterlang. Sie sei aber keine "Hiesige", sondern "a Zuagroaste", wie in Bolsterlang all jene heißen, die nicht im Dorf geboren sind. Wer nicht von hier ist, hat es schwer. Vor allem, wenn er erfolgreich ist. Barbara Charles' Unternehmen vermietet ein Dutzend Ferienhäuser allein in Bolsterlang. Ihre Schwester war eine der Initiatorinnen der Demo. Auch die beiden haben im Sinne des Dorffriedens versprochen, nichts mehr "zu der Sache" zu sagen.
Nur eines. Eine E-Mail sei ihr kurz nach der Demo anonym per Post zugestellt worden, sagt Charles. Die E-Mail hatte ein Bolsterlanger Ratsmitglied kurz nach dem ominösen Seminar verschickt. Sie ist einer der wenigen handfesten Beweise, dass die Gerüchte um Reichsbürger im Bolsterlanger Rathaus nicht frei erfunden sind. Barbara Charles hat die Mail auf der Bürgerveranstaltung, nach der das Dorf in Schweigen fiel, laut vorgelesen. "Ihr seid gewählt und seht offenen Auges zu, wie unsere Welt untergeht", hatte der Bolsterlanger Gemeinderat an alle Bürgermeister der umliegenden Dörfer geschrieben. "Ihr werdet leere Regale vorfinden, es wird keinen Strom mehr geben, und wir werden Haus und Hof verlieren."
Geburtsort "Königreich Bayern, Deutschland als Ganzes"
Alois Ried, Bürgermeister im benachbarten Ofterschwang, bestätigt, eine solche E-Mail bekommen zu haben. Er habe sie gleich gelöscht, so ein Unfug habe darin gestanden. Und Beschimpfungen. "Keinen Arsch in der Hose" hätten sie, sollten allesamt zurücktreten, weil sie vor allem keine Ahnung von Asylpolitik hätten, erinnert sich Ried. Und ja, auch "so krudes Zeug" wie: Deutschland werde untergehen.
Monika Zeller blieb im Amt, trotz ihres "gelben Scheins" und alledem. Rund 3000 Euro beträgt die "Aufwandsentschädigung" für eine ehrenamtliche Bürgermeisterin in Bayern. Und tritt sie nicht zurück, kann sie nach zehn Jahren sogar einen lebenslangen Ehrensold beantragen.
Viele Bolsterlanger wollen nicht, dass ihre Bürgermeisterin wegen "diesa Reichsbürgersach" aufgibt. Sie werde durchhalten, hatte Zeller auf der Bürgerveranstaltung gerufen. Und das mit dem gelben Schein sei Privatsache, sie könne damit Kinder aus dem Ausland adoptieren. Mit Reichsbürgern habe das nichts zu tun. Auch wenn bei den Ermittlungen herausgekommen war, dass Zeller bei der Beantragung des Scheins als Geburtsort "Königreich Bayern, Deutschland als Ganzes" angegeben hatte.
Eine Lappalie, meint ein freundlich blickender Mann, der aus der Tür seiner Werkstatt lugt. Er gibt an, auf dem Seminar gewesen zu sein. An den Inhalt könne er sich nicht erinnern. Auch will er seinen Namen nicht nennen. Er sagt, man müsse erst definieren, was ein "richtiger Reichsbürger" sei. In jedem Dorf gebe es mindesten einen, "der solche Dinge glaubt".
Tatsächlich ist im Oberallgäu die Zahl der Bürger, die einen gelben Schein beantragten, von 41 im Jahr 2015 innerhalb eines Jahres auf 104 gestiegen. Unter ihnen vier Beamte oder Beschäftigte der Gemeinden, worunter wahrscheinlich auch die Bolsterlanger Bürgermeisterin ist. In Bayern wurden mindestens zehn Staatsbeamte wegen Kontakten zur Szene suspendiert – mehr als in jedem anderen Bundesland.
Nicht alle Bolsterlanger finden Veränderungen gut. Einst war im Wirtshaus "Goldbach" der Stammtisch, "Musi" wurde aufgespielt. Dann kam der Kitzebichl, ein modernes Gemeindehaus am Rande des Dorfes. Der "Goldbach" ist inzwischen zu einem Pflegezentrum umfunktioniert worden, der "Hirsch" seit zwei Jahren eine Flüchtlingsunterkunft. Der Stammtisch findet jetzt privat statt, bei der Schwägerin der Bürgermeisterin in der Küche.
Für den Ehrensold hat es schon gereicht
"Im Dorf hält ma zam" gegen die Fremden, sagt Birgit Mayer. Die sind willkommen, sofern sie Geld bringen und dann wieder gehen. Dabei wollten die Bolsterlanger mal ein berühmtes Dorf sein. Sie träumten von der deutschen Skimeisterschaft auf ihrer Hörnerabfahrt. Daraus wurde nichts, dafür kamen Fremde und kauften Land, das dadurch immer teurer wurde. Die "Zuagroasten".
In den kommenden Wochen will die Landesanwaltschaft das Ergebnis des Disziplinarverfahrens verkünden. Das könnte die Bürgermeisterin ihr Amt kosten. Die zehn Jahre, die Monika Zeller Bürgermeisterin sein muss, um den Ehrensold bekommen zu können, hat sie in diesem Frühjahr aber geschafft. Warum die Ermittlungen erst nach einem Jahr abgeschlossen wurden, begründet die Landesanwaltschaft auch damit, "dass im fortgeschrittenen Stadium der Ermittlungen überraschende Gesichtspunkte aufgetreten sind, denen zwingend noch nachzugehen war". Es war herausgekommen, dass Monika Zeller und einige Gemeinderäte vor dem Seminar in Bolsterlang schon bei anderen Reichsbürgerkongressen gewesen sein sollen.
Vor drei Monaten sind endlich die Flüchtlinge ins Dorf gekommen. Zwei Jahre hatte sich diesbezüglich nichts getan. Der "Hirsch" stand leer. Rund 15 Flüchtlinge waren es zu Beginn, inzwischen sind es nur noch ein paar, die meisten wurden bereits abgeschoben. Birgit Mayer meint, die Flüchtlinge, die noch da seien, verhielten sich völlig unauffällig. Sie selbst habe noch keinen einzigen in Bolsterlang gesehen.
*Name von der Redaktion geändert