Bin ja kein Jurist, aber ich schätze mal die Stadt Wetzlar (einst Sitz des Reichskammergerichts, an dem auch Goethe mal kurz tätig war) hat sich die Sache gut überlegt.
Ob da tatsächlich ein Aufbegehren gegen das BVerfG stattfand? Oder ob es da um ganz andere Dinge ging?
Spoiler
Wären da nicht die Polizeigitter und das Transparent mit der Aufschrift „Kein Raum für Nazis“, man käme nicht auf die Idee, dass die Stadthalle Wetzlar heute von besonderem Interesse ist. Friedlich dämmert der Betonbau an diesem Samstag in der Morgensonne vor sich hin, Vögel zwitschern, nur einige wenige Anwohner sind unterwegs. „Schlimm, ganz schlimm“ sei es, dass die NPD hier ein Neonazi-Konzert abhalte, sagt eine ältere Frau. Als sie hört, dass die Stadt sich weigere, die Halle zu öffnen, hellt sich ihr Gesicht auf: „Das find‘ ich richtig gut.“
Es ist ein turbulenter Samstag in Wetzlar. Die rechtsextreme NPD hat eine Parteiveranstaltung in der Stadthalle angekündigt, bekannte rechte Kader wie Michael Brück aus Dortmund sollen sprechen, dazu hessische Lokalgrößen wie Daniel Lachmann aus Büdingen. Außerdem hat die NPD ein echtes As im Ärmel: Sie will „Oidoxie“ und „Kategorie C“ aufbieten, Rechtsrock-Bands mit bundesweiter Strahlkraft. Sie sollen mit ihren radikalen Texten in der Stadthalle beweisen, dass auch in Hessen möglich ist, was sonst nur an Orten wie Themar in Thüringen geht: Ein aufpeitschendes Rockkonzert, ein gestreckter Mittelfinger an die demokratische Gesellschaft, so wie die rechte Szene es liebt.
Seit Tagen liegt die NPD im Rechtsstreit mit der Stadt, die sich dagegen wehrt, zum Schauplatz eines Neonazitreffens zu werden. Am Freitagabend hat die Stadt überraschend verkündet, dass sie die Stadthalle geschlossen lasse, obwohl sie vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof verurteilt ist, sie der NPD zu überlassen. Die Rechtsextremen erfüllten die üblichen Auflagen nicht, hätten keine gültige Haftpflichtversicherung vorgelegt und keinen Sanitätsdienst engagiert, heißt es. Noch am Morgen gibt der Wetzlarer NPD-Politiker Thassilo Hantusch sich in einem Facebook-Video siegessicher: Wetzlars Oberbürgermeister Manfred Wagner (SPD) habe „Demokratie und Rechtsstaat außer Kraft gesetzt“, man werde sich das nicht bieten lassen.
Doch es kommt anders. Während vor der Stadthalle am Vormittag erste DGB-Mitglieder auftauchen, um das für später geplante „Festival der Demokratie“ aufzubauen, sammeln sich kaum 150 Meter weiter, vor dem Hotel Michel, die ersten Rechtsradikalen, unter ihnen hessische NPD-Politiker und Marko Gottschalk von „Oidoxie“. Die Rechten, überwiegend schwarz gekleidet, stehen von der Polizei abgeschirmt da und rauchen. Die Polizisten, die viele Zufahrtswege nach Wetzlar überwacht hatten, haben zu diesem Zeitpunkt schon erste Platzverweise erteilt. Insgesamt werden an diesem Tag vier Neonazis festgenommen, weil sie eine verbotene Fahne und zwei verbotene Waffen bei sich haben. Die Polizei beschlagnahmt außerdem einen Schlagstock, einen Baseballschläger, Pfefferspray und Quarzsandhandschuhe – bei sechs Neonazis und einem linken Gegendemonstranten.
Am Bahnhof von Wetzlar dröhnt derweil gegen Mittag Punkmusik. Rund 1000 Menschen haben sich versammelt, um gegen die NPD zu demonstrieren, Gewerkschafter und Grüne, der Motorradklub Kuhle Wampe und die Gießener Antifa.
Am Rande steht Thorsten Schäfer-Gümbel, Landesvorsitzender der hessischen SPD. Er sei hier, um sich mit den Wetzlarern zu solidarisieren, sagt er. „Die Stadt wehrt sich sehr entschieden gegen den Aufmarsch der Rechten. Wir wollen nicht, dass Neonazis hier im öffentlichen Raum Platz bekommen.“
Zu diesem Zeitpunkt ist schon klar, dass die NPD eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt hat. Gegen 14 Uhr brandet bei den mittlerweile etwa 60 Neonazis vor dem Hotel Michel Jubel auf: Karlsruhe hat für sie entschieden. Zwei NPDler treffen sich mit einer Abordnung der Stadt, um zu verhandeln. Doch gegen 16 Uhr sickert bei den Rechten, aber auch bei den Gegendemonstranten, die inzwischen vor der abgesperrten Stadthalle angekommen sind, die Nachricht durch: Die Stadt bleibt unbeirrt bei ihrer Linie. Keine Versicherung, kein Sanitätsdienst, keine Stadthalle. Der NPD-Politiker Daniel Lachmann betont noch vor Journalisten, die Stadt lüge, man habe alle Unterlagen vorgelegt. Doch kurz nach 17 Uhr verlassen die letzten Rechtsradikalen die Stadt.
In der Parkanlage gegenüber der Stadthalle hat inzwischen das „Festival der Demokratie“ begonnen. Es gibt Reden und Livemusik, Luftballons wehen, junge Leute haben sich ins Gras gesetzt und trinken Bier in der Nachmittagssonne. Die Stimmung ist gelöst, 2000 Teilnehmer wird die Polizei am Ende zählen. Auf der Bühne sagt Oberbürgermeister Manfred Weber unter großem Jubel, dass man aus den Fehlern der Weimarer Republik lernen müsse. Angesichts der Opfer des Nationalsozialismus gehe es an solchen Tagen darum, „ein deutliches Zeichen zu setzen und eben einen Arsch in der Hose zu haben“.
Am Abend dröhnt in Leun-Stockhausen, 20 Kilometer von Wetzlar entfernt, Rechtsrock und Gegröle über die Straße. Hierher, ins bekannte „Bistro Hollywood“, hat die NPD sich zurückgezogen. Durch die Schlitze eines Rollladens kann man weit über 100 Rechtsradikale sehen, die textsicher den Auftritt von „Kategorie C“ feiern. Die Polizei ist da, kontrolliert und fotografiert die Neonazis. Die bekommen doch noch ihren Rechtsrock. Aber nicht in Wetzlar.