Spoiler
Doch auf Sellners Videos ist nun zu sehen, wie er mit dem Auto von Österreich nach Deutschland fährt und später schnellen Schrittes durch Augsburg geht, sich konspirativ mit einem Helfer trifft oder zu einem „geheimen Ort mitten in der Stadt“ begibt, um dort eine Lesung abzuhalten. Später filmt sich Sellner bei seiner angeblichen „Flucht“ vor Polizei und Behörden aus Augsburg.
Inzwischen ist klar: Es war alles nur Show. Wie die Augsburger Allgemeine kürzlich berichtete, verstieß Sellner nie gegen das städtische Betretungsverbot, weil er sich am 1. Juli schlicht nicht in Augsburg aufhielt. Die Videos waren demnach aufgezeichnet und stammten vom Vortag. Stattdessen befand sich Sellner am 1. Juli eine gute Autostunde weiter südöstlich. Der bayerische Verfassungsschutz teilt auf Anfrage mit, dass Sellner seine Lesung nicht in Augsburg, sondern in „Räumlichkeiten der AfD im Münchner Osten“ abgehalten habe. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung handelt es sich dabei um ein Grundstück im Stadtteil Perlach, auf dem auch der bayerische AfD-Landtagsabgeordnete Rene Dierkes sein Wahlkreisbüro hat.
AfD-Politiker Arm in Arm mit Martin Sellner
Laut Verfassungsschutz haben Akteure der AfD Bayern sowie der formal aufgelösten Jungen Alternative Bayern an der Lesung teilgenommen. Dazu passt ein Foto, das der Vorsitzende des AfD-Ortsverbands Haar, Christoph Rätscher, am 2. Juli um kurz nach 10 Uhr auf dem Kurznachrichtendienst X hochgeladen hat: Es zeigt Rätscher, Sellner und zwei rechtsextreme Aktivisten Arm in Arm auf dem Gelände des AfD-Büros in der Sebastian-Bauer-Straße. Rätscher hält Sellners Buch mit dem Titel „Remigration – Ein Vorschlag“ in der Hand.
Der Österreicher Martin Sellner gehört zu den prominentesten Rechtsextremisten, die in Deutschland auftreten. Er ist ein Vordenker der Neuen Rechten und die Leitfigur der Identitären Bewegung (IB); die rechtsextreme Organisation wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Sellner versucht seit Jahren, das Wort „Remigration“ zum Kampfbegriff zu machen.
Rechtsextreme verstehen darunter, dass Millionen Menschen mit Migrationshintergrund das Land verlassen sollen, um eine möglichst ethnisch homogene Bevölkerung zu schaffen. Für Sellner beinhaltet „Remigration“ auch, einen „Anpassungsdruck“ auf „nicht assimilierte Staatsbürger“ auszuüben, um diese zur Ausreise zu drängen. Mehrere Gerichte in Deutschland halten dies für klar verfassungsfeindlich.
Zuletzt hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil zur Aufhebung des Verbots des Magazins Compact festgestellt, dass Sellners „Remigrationskonzept“ zentrale Pfeiler der Verfassung – das egalitäre Verständnis der Staatsangehörigkeit, das durch die Menschenwürde und das Demokratieprinzip geschützt ist – missachte. Als der Verfassungsschutz Brandenburg kürzlich den dortigen AfD-Landesverband als gesichert rechtsextremistisch einstufte, nannte die Behörde als einen Grund dafür auch die Kontakte führender AfD-Politiker mit extremistischen Gruppierungen wie der IB.
AfD-Landtagsabgeordneter ist laut Verfassungsschutz ein „qualifizierter Unterstützer“ der Identitären Bewegung
Offiziell steht die IB um Sellner auf der „Unvereinbarkeitsliste“ der AfD. Das heißt, Personen, die Mitglied der IB sind, dürfen eigentlich nicht in die AfD eintreten. Damit will sich die AfD nach außen gegen die IB oder neonazistische Organisationen abgrenzen. Doch in der Praxis ist die Liste nicht mehr als ein wertloses Stück Papier. Einige Identitäre arbeiten etwa in den Büros von AfD-Bundestagsabgeordneten. Zudem sympathisieren zahlreiche AfD-Politiker mit Ideen der IB, darunter auch Rene Dierkes.
Dierkes ist einer von zwei AfD-Landtagsabgeordneten, die vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet werden. In einer Antwort der Staatsregierung auf Anfragen von Abgeordneten der SPD und den Grünen heißt es, der Inlandsgeheimdienst habe bei Dierkes Äußerungen festgestellt, in denen „in verfassungsfeindlicher Weise eine ‚Remigration‘ von Personen gefordert wird, die nicht den eigenen ethnokulturellen Kriterien entsprechen“. Zudem sei Dierkes ein „qualifizierter Unterstützer“ der rechtsextremistischen IB. Er bewerbe medial die verfassungsfeindliche Ideologie der Organisation und verbreite Inhalte der IB-Führungsfigur Martin Sellner.
Seine Beobachtung durch den Verfassungsschutz nannte Dierkes zuletzt einen „Ritterschlag“, unter anderem weil der Verfassungsschutz „hauptsächlich aus erfolgreichen Social-Media-Beiträgen“ zitiere. Er sagte, er habe „nirgends die Rückführung deutscher Staatsangehöriger mit Migrationshintergrund gefordert“, sondern nur, dass die deutsche Staatsbürgerschaft nicht zur „Ramschware verkommen“ dürfe. Daran sei „nichts verfassungsfeindlich“.
Innerhalb der AfD ist inzwischen ein Richtungsstreit um das Wort „Remigration“ entbrannt. Hatte Parteichefin Alice Weidel im Bundestagswahlkampf die Forderung nach „Remigration“ noch bekräftigt, befürchten Parteifunktionäre um den Bundestagsabgeordneten Maximilian Krah nun, dass das Festhalten an solchen völkischen Fantasien ein AfD-Verbotsverfahren befeuern könnte. Krah rät daher aus strategischen Gründen, sich von Sellner und dessen „Remigrationskonzept“ zu distanzieren.
Auch vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Sellner nun in Münchner AfD-Räumlichkeiten eine Bühne geboten wurde. Thomas Witzgall ist Journalist und arbeitet für „Endstation Rechts“, einem Portal, das seit Jahren über Entwicklungen in der rechten Szene aufklärt. Witzgall sagt, die Veranstaltung in München mache es ein weiteres Stück unglaubwürdiger, „dass die AfD, wenn sie ‚Remigration‘ sagt, ein eigenes, gerade noch verfassungskonformes Konzept vertritt und nicht Sellners rassistisch motivierte Massenvertreibungspläne“. So ähnlich sieht das auch der bayerische Verfassungsschutz: Die Lesung sei ein weiterer Hinweis auf „den engen Schulterschluss zwischen Teilen der bayerischen AfD und dem rechtsextremistischen Vorfeld“, so ein Sprecher.
Weder Martin Sellner noch Rene Dierkes noch Christoph Rätscher reagierten auf Anfragen der SZ. Neben dem Landtagsabgeordneten Dierkes hat auch der Bundestagsabgeordnete Tobias Teich sein Wahlkreisbüro in der Sebastian-Bauer-Straße in München. Dafür hat Teich mit Dierkes einen Mietvertrag abgeschlossen. Teich versichert, dass er keine Kenntnis über „eine Veranstaltung dieser Art“ habe.
Dierkes ist Vorsitzender des AfD-Kreisverbands München-Ost und Schriftführer im Landesvorstand. Als er das Büro in Perlach vor einem Jahr eröffnete, demonstrierten dagegen rund 400 Menschen unter dem Motto „Kein Nazi-Zentrum in München“. Vor eineinhalb Wochen feierte die AfD mit rund 120 Gästen auf dem Grundstück des Wahlkreisbüros ein Sommerfest. Dierkes teilte auf Telegram ein Video von der Party und kündigte im Kommentar dazu an, dass man sich Anfang 2026 vergrößere und einen Raum mit circa 120 Quadratmetern zur Verfügung habe, „für noch größere Veranstaltungen“.
Offenbar hatte er den Eindruck gewonnen, die Stadt Augsburg würde das Verbot auch durchdrücken können ...?