"Wahlplakat versus Ordnungsbehörde"
Leitsatz
Zur Rechtswidrigkeit einer Anordnung der örtlichen Ordnungsbehörde, mit der einer politischen Partei (NPD) ohne vorherige Gelegenheit zur Stellungnahme aufgegeben wurde, Wahlplakate zur Europawahl 2019 wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB) aufgrund der Aufmachung und der Worte: Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand - jetzt - im Gemeindegebiet zu entfernen.
Anmerkung
Berufung eingelegt - Hess.VGH - Az.: 8 A 2162/19
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die Beseitigungsanordnung der Beklagten vom 22.05.2019 rechtswidrig war.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, falls nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Mit der Klage wendet der Kläger sich gegen eine mittlerweile durch Zeitablauf erledigte Beseitigungsverfügung der Beklagten im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage.
Der Kläger ist der Landesverband Hessen der NPD, einer politischen Partei, die zur Europawahl am 26.05.2019 angetreten ist. Im Rahmen dieses Wahlkampfes warb die Partei im gesamten Bundesgebiet unter anderem mit folgendem Wahlplakat für sich:
[...]
Die Klage ist auch begründet.
Die angefochtene Beseitigungsverfügung der Beklagten vom 22.05.2019 war bereits formell rechtswidrig. Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 HVwVfG i. V. m. § 28 Abs. 1 HVwVfG Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Ein solches Anhörungsverfahren wurde von der Beklagten nicht durchgeführt, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist. Anders als die Beklagte meint, war eine vorherige Anhörung des Klägers nicht nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 HVwVfG entbehrlich. Danach kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalles nicht geboten ist, insbesondere wenn (Nr. 1) eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint. Eine diesbezügliche Gefahr in Verzug besteht, wenn durch die vorherige Anhörung auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust eintreten würde, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die behördliche Maßnahme zu spät käme, um ihren Zweck noch zu erreichen (BVerwG, Urt. v. 18.10.1988, 1 A 89.83). Ob eine sofortige Entscheidung objektiv notwendig war oder die Behörde eine sofortige Entscheidung zumindest für notwendig halten durfte, ist vom Gericht aus ex-ante-Sicht zu beurteilen. Hierbei ist wegen der Bedeutung des Anhörungsrechts als tragendem Prinzip des rechtsstaatlichen Verfahrens ein strenger, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter, Maßstab anzulegen. Von der Anhörung darf nur abgesehen werden, wenn die Maßnahme selbst bei mündlicher, eventueller telefonischer, Anhörung zu spät käme (BVerwG, Urt. v. 22.03.2012, 3 C 16.11).
Danach kann vom Vorliegen einer Gefahr im Verzuge nicht ausgegangen werden. Denn der Bescheid der Beklagten vom 22.05.2019 hat dem Kläger für die Beseitigung der inkriminierten Wahlplakate eine Frist von zwei Tagen gesetzt. Innerhalb dieser Frist wäre eine Anhörung, wenn auch mit kurzer Anhörungsfrist, gegebenenfalls nach Stunden bemessen, möglich gewesen, die zu einer Heilung eines eventuellen Mangels bis zum Ablauf der Frist hätte führen können. Die Beklagte hätte damit Gelegenheit gehabt, die Anhörung noch bis zur Ersatzvornahme, nämlich die Beseitigung der Plakate, heilend durchführen können. Die dem Kläger in der Beseitigungsverfügung gesetzte Frist von zwei Tagen hätte genügt, innerhalb dieser Zeit eine Anhörung des Klägers durchzuführen.
Die Anhörung war auch nicht nach § 46 HVwVfG entbehrlich. Eine solche Entbehrlichkeit ist gegeben, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung von Verfahrensvorschriften die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Dies ist im Fall einer Ermessensentscheidung nur denkbar, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt und keine andere Entscheidung in Frage kommt. Der Fall einer Ermessensreduzierung auf Null ist vorliegend schon deshalb nicht feststellbar, weil die Rechtsgrundlage, auf die die angegriffene Verfügung gestützt wird, nicht näher dargelegt wird. In der Verfügung heißt es lediglich, dass das Erscheinungsbild des Wahlplakats des Klägers eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstelle und nennt keinerlei gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Diese Ausführungen legen zwar nahe, dass die Behörde die Verfügung auf einen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung und damit auf die Ermächtigungsgrundlage des § 11 HSOG stützten wollte. An dieser Stelle kann offen bleiben, ob nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Wahlwerbung der Parteien aufgrund von Verstößen gegen die öffentliche Ordnung einschränkbar ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.05.2019, 1 BvQ 43/19). Doch selbst wenn die angegriffene Wahlwerbung einen Verstoß gegen die Vorschrift des § 130 StGB enthalten sollte, ist die Subsumtion unter § 130 StGB hinsichtlich des streitgegenständlichen oder ähnlicher Plakate nicht bereits höchstrichterlich geklärt. In einem solchen Fall kann selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des ordnungsbehördlichen Eingreifens aufgrund eines Verstoßes wegen § 130 StGB und damit einer Störung der öffentlichen Sicherheit nicht eine Ermessensreduzierung auf Null angenommen werden, so dass die fehlende Anhörung nicht nach § 46 HVwVfG entbehrlich ist.
Dieser Anhörungsmangel, der zur Rechtswidrigkeit der Beseitigungsverfügung der Beklagten vom 22.05.2019 führt, ist auch nicht im gerichtlichen Verfahren mit heilender Wirkung nachgeholt worden. Nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 HVwVfG ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach § 44 HVwVfG nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Nach § 45 Abs. 2 HVwVfG können Handlungen nach Abs. 1 bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Unterbleibt die nach § 28 Abs. 1 HVwVfG erforderliche Anhörung, tritt eine Heilung aber nur ein, soweit die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren stellen regelmäßig keine nachträgliche Anhörung im Sinne dieser Regelung dar (BVerwG, Urt. v. 24.06.2010, 3 C 14.09; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 30.04.2014, 11 S 244/14). Voraussetzung hierfür wäre nämlich, dass der Beteiligte - nachträglich - eine vollwertige Gelegenheit zur Stellungnahme erhält und die Behörde die vorgebrachten Argumente zum Anlass nimmt, die ohne vorherige Anhörung getroffene Entscheidung kritisch zu überdenken (Hess. VGH, Urt. v. 06.05.2015, 6 A 493/14). Das gericht-liche Verfahren einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO bietet keine solche vollwertige Gelegenheit, insbesondere bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen mit der Beschränkung des § 114 S. 1 VwGO. Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht nur, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist oder war, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Anders als die Behörde selbst kann das Gericht folglich keine (eigenen) Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen. Eine vollwertige Gelegenheit zur Stellungnahme besteht folglich nur dann, wenn die Behörde auch auf der Ebene des Verwaltungsverfahrens dasjenige nachholt, was sie bei Anhörung vor der belastenden Entscheidung hätte veranlassen müssen. Dazu muss sie dem Betroffenen deutlich machen, er könne zu der Verwaltungsentscheidung Stellung nehmen und sie werde auf Grundlage seiner Argumentation erneut entscheiden (Sächsisches OVG, Beschl. v. 21.05.2019, 3 B 151/19; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 31.01.2002, 1 MA 4216/01). Derartige Voraussetzungen liegen hier nicht vor, denn das Vorbringen der Antragsgegnerin im Klageverfahren beschränkt sich im Wesentlichen auf die Verteidigung ihres Bescheides und macht nicht deutlich, dass sie die umfangreiche Klagebegründung des Klägers gerade nicht zum Anlass nimmt, ihre Entscheidung nochmals zu überdenken und gegebenenfalls eine erneute Entscheidung zu treffen.
Einer etwaigen Heilung des Anhörungsmangels steht zudem entgegen, dass sich der Verwaltungsakt mit dem Wahltag erledigt hatte und nach diesem Zeitpunkt jede erneute Entscheidung in Ansehung des Vorbringens des Klägers obsolet gewesen wäre mit Ausnahme einer Entscheidung dahingehend, dass die Beklagte die Rechtswidrigkeit ihrer Verfügung förmlich hätte feststellen können, wodurch ein Feststellungsinteresse an der Rechtswidrigkeit entfallen wäre. Gegen diese Möglichkeit hat sich die Beklagte aber ausweislich ihrer Klageerwiderung ausdrücklich verwehrt.
Damit erweist sich die angefochtene Verfügung der Beklagten vom 22.05.2019 bereits als formell rechtswidrig mit der Folge, dass ihre Rechtswidrigkeit festzustellen ist.
Der Bescheid der Beklagten vom 22.05.2019 ist aber auch materiell rechtswidrig. Zwar nennt der Bescheid eine Ermächtigungsgrundlage, auf die er die ausgesprochene Pflicht des Klägers zur Beseitigung von Wahlplakaten, stützt, nicht, indes ist aufgrund des Wortlauts und der gegebenen Begründung der Beseitigungsverfügung vom 22.05.2019 erkennbar, dass die Beklagte die Ermächtigungsgrundlage in § 11 HSOG sieht. Danach können die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwenden, soweit nicht die folgenden Vorschriften der Befugnisse der Gefahrenabwehr- und der Polizeibehörden besonders regeln.
Bei der insoweit inzident in Bezug genommenen Ermächtigungsgrundlage des § 11 HSOG ist bereits fraglich, ob die Beklagte zum Einschreiten gegen die Wahlwerbung überhaupt befugt war. Die Beklagte führt in ihrem Bescheid aus, die inkriminierten neun Wahlplakate des Klägers, die es zu entfernen gelte, seien volksverhetzend und tatbestandlich i. S. d. § 130 StGB. Insoweit enthalten zwar die § 11 HSOG nachfolgenden Vorschriften keine besondere Regelung, jedoch bestimmt § 1 Abs. 4 HSOG, dass die Polizeibehörden auch zu erwartende Straftaten zu verhüten sowie für die Verfolgung künftiger Straftaten vorzusorgen (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten) haben. In Bezug auf Straftaten enthält damit § 1 Abs. 4 HSOG eine besondere Aufgabenzuweisung und Ermächtigung für die Polizeibehörden bei der Verhütung und Verfolgung von Straftaten. Die streitbefangene Anordnung vom 22. Mai 2019 erlassen hat jedoch nicht die Polizeibehörde, sondern die Bürgermeisterin der Beklagten als örtliche Ordnungsbehörde. Aufgrund der in der angefochtenen Verfügung vorgebrachten Argumentation, das Wahlplakat des Klägers habe eine volksverhetzende Wirkung, die den Straftatbestand des § 130 StGB erfülle, ist bereits fraglich, ob die örtliche Ordnungsbehörde zum Einschreiten befugt war, oder ob diese Befugnis nicht ausschließlich den Polizeivollzugskräften (§163 StPO) oder der Staatsanwaltschaft (§§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO) zukam, die nämlich im Fall eines verwirklichten Straftatbestandes nach der Strafprozessordnung hätten tätig werden müssen. Wenn die Störung der öffentlichen Sicherheit in der Verwirklichung eines Straftatbestandes liegt, so dürfte die Zuständigkeit von der allgemeinen Ordnungsbehörde auf die Polizeibehörde oder die Staatsanwaltschaft übergegangen sein. Dieser Aspekt bedarf jedoch keiner Vertiefung, weil sich die Beseitigungsverfügung der Beklagten vom 22.05.2019 bereits auf Grundlage des § 11 HSOG als rechtswidrig erweist.
Die Beseitigungsverfügung der Beklagten vom 22.05.2019 ist materiell rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 11 HSOG nicht vorgelegen haben. Von den inkriminierten Wahlplakaten des Klägers ging nämlich weder eine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit oder Ordnung aus noch war bereits eine Störung der öffentlichen Sicherheit eingetreten. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann dem Wahlplakat des Klägers eine volksverhetzende Wirkung nicht mit der erforderlichen Sicherheit entnommen werden. Die Aufschrift auf den Wahlplakaten: Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand - jetzt -, ist nicht so eindeutig, dass hiermit der Tatbestand der Volksverhetzung des § 130 StGB verwirklicht wird. Bei dieser Bewertung des Gerichts ist zunächst auf die auf dem Wahlplakat verwendeten Worte, auch in ihrem Zusammenspiel, abzustellen.
Der Begriff „tötet“ ist im deutschen Sprachgebraucht eindeutig. Töten ist ein Vorgang, der ein Lebewesen vom Leben zum Tode bringt, also dessen Existenz beendet.
Auch das Wort Widerstand - jetzt - bedarf im deutschen Sprachgebrauch keiner Begriffsauslegung. Das Wort jetzt bedeutet in diesem Zusammenhang sofort und das Wort Widerstand ist mit der Intention belegt, gegen etwas Unerwünschtes vorgehen zu sollen. Dem Wort Widerstand kann aber nicht entnommen werden, dass rechtsgutsverletzend gegen andere Personen vorgegangen werden soll, sondern Widerstand kann auch dergestalt ausgeübt werden, dass gegen eine unerwünschte Rechtslage oder eine unerwünschte gesellschaftliche Entwicklung eine Änderung auf politischem oder gesetzgeberischem Weg erreicht werden soll. Mit dem Wort Widerstand ist nicht die unmittelbare Konnotation verbunden, jemand anderen zu Schaden zu bringen, auch parlamentarischer Widerstand gegen einen bestehenden Zustand ist möglich. Abgesehen davon kann das Wort Widerstand auch nicht eo ipso unter den Straftatbestand des
§ 130 StGB subsumiert werden.
Auch die Worte „Stoppt die Invasion“ können nicht mit volksverhetzender Wirkung belegt werden. Der Begriff „stoppt“ meinte die Beendigung eines – vermeintlich – unerwünschten Zustandes oder Geschehens mit sofortiger oder aber alsbaldiger Wirkung. Der Begriff Invasion stammt von dem lateinischen Verb invadere und hat nach der Übersetzung des Kleinen Stowasser, lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, die Bedeutung hineingehen, hingehen, eindringen, betreten, als auch transitiv die Bedeutung überfallen, angreifen sowie befallen (pestilencia populum invasid). In diesem Sinne kommt dem Begriff Invasion keine volksverhetzende Bedeutung zu, sondern er beschreibt hier im übertragenen Sinne lediglich den Zustand des Eindringens von außen in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, wie es insbesondere im Jahr 2015 objektiv feststellbar war. In diesem Jahr wurden die deutschen Grenzen durch die Wanderungsbewegung im Sinne eines Eindringens in das deutsche Staatsgebiet überrollt und es kam zu einem unkontrollierten Zuzug von Ausländern, aus welchen Gründen auch immer, zunächst insbesondere aus den Westbalkanstaaten, dann aber auch aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak in das Bundesgebiet. Die Geschehnisse im Jahr 2015 sind durchaus mit dem landläufigen Begriff der Invasion vergleichbar und beinhalten keine Wertung und damit keinen volksverhetzenden Charakter.
Etwas schwieriger ist die Bedeutung und Auslegung des Wortes Migration. Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 9. Auflage 2011, enthält zum Wort Migration folgende Bedeutung: Soziologisch Übersiedlung in ein anderes Land, biologisch Übersiedlung, Ausbreitung in einem anderen Gebiet, Abwanderung von Kunden, geologisch Wanderung von Erdöl oder Erdgas aus dem sie bildenden Muttergestein in ein umliegendes Speichergestein, EDV-Datenübertragung. Bereits dies zeigt, dass das Wort Migration eine durchaus vielfältige Bedeutung hat. Noch vielfältiger wird der Bedeutungsgehalt des Wortes Migration, wenn auf den lateinischen Ursprung abgestellt wird. Nach Stowasser (a. a. O.) bedeutet das Wort migrare, 1. ausziehen, auswandern, übersiedeln, 2. (transitiv) fortschaffen, transportieren (migratu dificilia), 3. (metamophorisch) übertreten, verletzen (ius civile). Georges, ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Nachdruck 1998, erläutert zum Verb migrare (intransitiv), mit seiner Habe usw. nach einem anderen Ort ziehen, um dort zu wohnen, gleich wegziehen, ausziehen, übersiedeln oder (transitiv), etwas wegbringen, fortschaffen, versetzen und übtr. im allg. de vita oder ex vita, von hinnen ziehen ꞊ sterben sowie (bildlich) übertreten, überschreiten, in Anknüpfung an Cicero, de legg, 3, 11. In letztem Zusammenhang führt das Oxford Latin Dictionary, 1976, aus, dass migrare auch folgende Bedeutung haben kann: To pass into a new condition or form und mit der Verbindung ex or de vita migrare to depart this life, die, also sterben und Tod.
Bereits aus dem lateinischen Ursprung des Wortes Migration wird demnach allzu deutlich, dass dem Begriff Migration mannigfaltige Deutungsmöglichkeiten zukommen können, die es verbieten, allein der Verwendung dieses Begriffes eine irgendwie geartete Volksverhetzung beizumessen, weil hierfür weder die Deutung der Beklagten noch die Deutung des Klägers streitet, da metamorphorisch bereits der lateinische Ursprung des Wortes mit Tod und Sterben sowie rechtlich mit Übertretung belegt ist.
Abgesehen davon vermag das Gericht auch nicht festzustellen, dass dem inkriminierten Wahlplakat des Klägers insgesamt eine volksverhetzende Wirkung i. S. d. § 130 StGB zukommt.
Hierbei ist die Gesamtaufmachung des Wahlplakats in den Blick zu nehmen wie auch die darin verwendete Wortwahl und der Zusammenhang mit der (bevorstehenden) Europawahl im Mai 2019. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB (Volksverhetzung) stellt u. a. unter Strafe, wenn in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angegriffen wird, dass eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe oder Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet wird. In diesem Sinne beinhaltet das von dem Kläger zur Europawahl 2019 verwendete Plakat keinen Angriff auf die Menschenwürde i. S. d. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB (vgl. zur „Schutzzonenkampagne der NPD: Hess. VGH, Beschl. v. 08.05.2019, 8 B 961/19). Mit dem Begriff der Menschenwürde ist der soziale Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen, oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (BVerfG, Beschl. v. 20.10.1992, 1 BvR 698/89). Angriffe auf die Menschenwürde können in Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und damit in allen Verhaltensweisen bestehen, die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.03.2003, 1 BvR 426/02). Es ist erforderlich, dass der angegriffenen Person oder Personenmehrheit das Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft abgesprochen und sie als unterwertiges Wesen behandelt wird. Der Angriff muss sich mithin gegen den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit, nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte, richten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.09.2000, 1 BvR 1056/95). Maßgeblich für die Beurteilung ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums objektiv hat. Dabei ist stets vom Wortlaut und der Erscheinung der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Es wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und ihren Begleitumständen bestimmt, soweit diese für den Rezipienten erkennbar sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.03.2008, 1 BvR 1753/03).
In diesem Sinne sind die mit der Verbotsverfügung belegten Wahlplakate des Klägers nicht als volksverhetzend i. S. d. § 130 StGB und damit nicht als strafrechtsrelevant zu qualifizieren, die Wahlwerbung ist erlaubt und zu gestatten (vgl. Sächsisches OVG, Beschl. v. 21.05.2019, 3 B 151/19 und Beschl. v. 15.05.2019, 5 B 140/19; VG Weimar, Beschl. v. 21.05.2019, 1 E 834/19; VG Braunschweig, Beschl. v. 22.05.2019, 5 B 197/19; zu Rundfunk- und Fernsehwahlwerbung: OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 15.05.2019, 2 B 10755/19; Hess. VGH, Beschl. v. 08.05.2019, 8 B 961/19; VG Hamburg Beschl. v. 09.05.2019, 17 E 2213/19; VG München, Beschl. v. 10.05.2019, M 17 E 19.1956). Ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit ist auch aus Sicht des erkennenden Gerichts nicht zu erkennen. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Im Hintergrund des Plakates sind deutsche Städte und Orte genannt, an denen es nachweislich zu Gewalt- oder Tötungsdelikten gekommen ist, die von in Deutschland sich aufhaltenden Personen begangen wurden, die nicht Deutsche und damit Ausländer sind (vgl. zur Definition des Deutschen und des Ausländers § 1 StAG, § 2 Abs. 1 AufenthG, Art. 116 Abs. 1 GG). Dies ist allein für sich genommen nicht volksverhetzend und auch nicht die Würde Einzelner oder einer Personenmehrheit verletzend. Es handelt sich um die Mitteilung von Tatsachen, die durch kriminalistische Untersuchungen und ggf. anschließende Strafverfahren belegt sind. Die Nennung dieser Orte im Zusammenhang mit dem Slogan des Plakats „Stoppt die Invasion: Migration tötet!“ rechtfertigt eine andere Würdigung nicht. Es handelt sich allenfalls um eine reißerische Darstellung von Geschehnissen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, bei denen Menschen durch Ausländer (Migranten) ums Leben gekommen sind. Auch in Verknüpfung mit dem Werbeslogan und der weiteren Aufforderung „Widerstand - jetzt –„ vermag das Gericht eine menschenverachtende oder volksverhetzende Wirkung des inkriminierten Wahlplakats nicht zu erkennen.
Zunächst ist auf die Kernaussage des Plakats abzustellen, die lautet: Migration tötet!.
Bei der Bewertung dieser Begrifflichkeit ist nicht allein auf aktuelle Ereignisse oder Ereignisse seit 2015, dem Beginn der massenhaften Zuwanderung, abzustellen, sondern die Thematik ist insgesamt zu beleuchten. Migrationsbewegungen fanden in der Geschichte immer wieder statt, teils auch mit tödlichem Ausgang, wie noch auszuführen sein wird. Die Entstehung der Sahara löste zwischen 3000 und 1000 vor Christus eine Wanderung von Bantu aus Westafrika bis ins südliche Afrika aus. Im Zeitraum zwischen 200 und 1500 breiteten sich die Chinesen von ihren Ursprungsgebieten in alle Richtungen aus, besonders nach Südasien. Um 500 migrierten arabische Stämme in großer Zahl über weite Strecken und erreichten u. a. Ostafrika. Die oft aus Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung hervorgegangene jüdische Migration zeigte sich u. a. beim Auszug der Israeliten aus Ägypten im Jahre 1250 v. Chr. Zu den frühen Wanderungsbewegungen im europäischen Raum gehören die griechische Kolonisation am Mittelmeer im 1. Jahrtausend v. Chr. und die Völkerwanderung am Übergang zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Mit dem 16. Jahrhundert begann die europäische Expansion, in deren Folge sich Kolonialismus und neuzeitlicher Sklavenhandel entwickelten. Eine massenhafte Auswanderung aus Europa ab 1700, insbesondere nach Amerika und vor allem in die Vereinigten Staaten, setzte im 19. Jahrhundert bei fortgesetzt stark anwachsender europäischer Bevölkerung und Binnenwanderung ein.
[...]
Aus den vorzitierten beispielhaften historischen Wanderungsbewegungen wird deutlich, dass Migration tatsächlich in der Lage ist, Tod und Verderben mit sich zu bringen. Eine volksverhetzende Äußerung ist hiermit nicht verbunden, sondern die Darstellung einer Realität, die sich jedem erschließt, der sich mit der Geschichte der Wanderungsbewegungen befasst.
Herfried Münkler (Neue Zürcher Zeitung, 05.09.2015) kommt zu dem Ergebnis, dass, je komplexer und normativ anspruchsvoller eine Kultur ist, desto verwundbarer ist sie durch migrantische Veränderungen. Funktionsmechanismen der Gesellschaft seien
eher unflexibel und könnten auf einen größeren Ansturm von Migranten nur schwer umgestellt werden. Insbesondere dürften Leistungen der aufnehmenden Gesellschaft für die Zuwanderer nicht so beschaffen sein, dass man sich auf Dauer darin einrichten kann, dass sie, wenn auch auf niedrigem Niveau „satt machen“ und so dazu führen, dass die positiven Effekte der Neuankömmlinge dadurch verspielt werden, dass diese unverzüglich in Angehörige des unteren Gesellschaftssegments der aufnehmenden Gesellschaft verwandelt werden. Umgekehrt dürften die Fremden der Aufnahmegesellschaft nicht dauerhaft in großer Distanz gegenüberstehen, sondern müssten deren Rahmenordnung als die ihre annehmen. Bei der Problembewältigung könne ein Blick in die Geschichte helfen.
[...]
Dass die Interpretation und Auslegung der Wahlwerbung durch die Beklagte zu weit geht, zeigt sich an einem Vergleich. Unterstellt, eine dem Umweltschutz verschriebene Partei hätte zu Wahlkampfzwecken Plakate aufgestellt, die im Hintergrund deutsche Städte benennen, in denen die deutsche Umwelthilfe gerichtlich Fahrverbote erstritten hat und die plakativ äußern: „Stoppt die Emissionen, Klimawandel tötet, handelt jetzt!“. Auch hier würde niemand auf die Idee kommen, eine derartige Partei würde dazu auffordern, gewaltsam gegen Autofahrer oder Betreiber von Öl- /Gasheizungsanlagen vorgehen. Nichts anderes kann für die Wahlwerbung des Klägers gelten.
Gerade in Zeiten politischer Wahlwerbung kann es daher dem Kläger nicht verwehrt sein, mit den inkriminierten Plakaten auf möglicherweise in Deutschland herrschende Missstände hinzuweisen und für ihre Ziele zu werben. Mit dem Aufstellen der Plakate nimmt der Kläger als Landesverband der Bundespartei seine verfassungsmäßigen und gesetzlichen Rechte als politische Partei wahr, um Wahlkampf in seinem Sinne zu machen. Dies kann ihm so lange nicht verwehrt werden, als er nicht durch das Bundesverfassungsgericht verboten ist und seine Wahlwerbung keinen eindeutig strafbaren Inhalt hat, was nach vorstehenden Ausführungen bei objektiver Auslegung der Plakate gerade nicht der Fall ist. Soweit andere etablierte politische Parteien mit den Zielen und dem Wirken des Klägers nicht einverstanden sein sollten, bleibt es ihnen überlassen, durch Taten oder Überzeugungsarbeit an der Willensbildung der Wähler zu arbeiten. Dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland ist es immanent, sich mit konträrer Ansicht auseinanderzusetzen und argumentativ die eigene Meinung kund zu tun. Es obliegt den großen Volksparteien, durch effektives Wirken und überzeugende Regierungsarbeit die Wähler davon zu überzeugen, dass ihr Programm der richtige Weg ist. Daher sind Behörden nicht ermächtigt, anders denkenden oder andere Ziele verfolgenden Parteien dergestalt Hindernisse in den Weg zu legen, dass deren Wahlplakate zu entfernen sind. Ein entsprechendes Verwaltungshandeln, wie dasjenige der Beklagten in der Beseitigungsverfügung vom 22.05.2019, steht nicht in Übereinklang mit der deutschen Rechtsordnung, insbesondere nicht in Wahlkampfzeiten, in denen jeder Partei, die nicht vom Bundesverfassungsgericht verboten ist, ermöglicht werden muss, auf sich und ihre Ziele sowie ihr Programm aufmerksam zu machen. Diesen Wege darf die Exekutive nicht dadurch versperren, dass sie der Partei mittels Verwaltungsakts aufgibt, Wahlplakate zu entfernen oder der Partei androht, anderenfalls die Plakate im Wege der Ersatzvornahme selbst zu entfernen. Hier schießt die Exekutive über das gebotene und rechtlich mögliche Ziel hinaus. Durch die angefochtene Beseitigungsverfügung tritt die Beklagte selbst diktatorisch auf und versucht, von ihr nicht gewünschte Ausdrucksformen zu unterbinden, ohne dass dies einen strafrechtlichen Bezug hat. Politik und gesellschaftliche Entwicklung leben aber von Diskussionen und Auseinandersetzungen in einer Art Hegelscher Dialektik durch These, Antithese, Synthese, wobei die Synthese wieder die neue These ist (vgl. Reiner Winter, Was ist Dialektik, Versuch einer Annäherung,
www.reiner-winter. de). Hierdurch lebt das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Das schlichte Unterbinden von Äußerungen, die nicht in das gewünschte Bild vor Ort passen, ist damit aber selbst als nicht botmäßige Unterdrückungsmaßnahme zu qualifizieren. Das administrative Unterdrücken abweichender Auffassungen, zumindest soweit eine Strafrechtsrelevanz nicht gesichert feststellbar ist, liefe aber letztendlich selbst auf eine Diktatur ober Alleinherrschaft im Bereich politischer Werbung hinaus, was aber dem Wesen der bundesrepublikanischen Rechtsordnung widerspricht. Politik und Gesellschaft leben von Gegensätzen und Widersprüchen und der Möglichkeit, dass sich jeder Wahlberechtigte ein eigenes Bild machen und sich dann für eine Partei im Zeitpunkt der Wahl entscheiden kann, auch für eine kleine Partei, die nicht auf dem Boden der verfassungsmäßigen Ordnung steht. Der Entscheidungsvorrang bzw. die Alleinkompetenz des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 21 Abs. 4 GG darf nicht durch die Exekutive dergestalt unterlaufen werden, dass indifferente Wahlkampfwerbung mit der Partei gleichgestellt wird und empirisch nachweisbare Tatsachen durch die Verwaltung eine Interpretation dahingehend erhalten, dass die Ziele der Partei aus sich selbst heraus als strafrechtsrelevant und volksverhetzend qualifiziert werden. Die Beklagte macht sich hier zum Sachwalter eines jeden mündigen und verständigen Wählers; eine Stellung, die der Exekutive jedenfalls so nicht zukommt. Wahlen sind nach bundesrepublikanischem Verständnis frei und das verbietet eine Beeinflussung der Wahl und der Wähler durch das Entfernen von Wahlwerbung, jedenfalls dann, wenn mit der Werbung kein offensichtlich strafbares Handel verbunden ist oder verfolgt wird.
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