Haben wir einen Juradefinator hier im Thread?
Wie immer, haben wir gleich mehrere.
Um die Systematik des Mord-Paragraphen noch ein wenig ausführlicher aufzudröseln: Es gibt drei Gruppen von "Mordmerkmalen".
Besonders schön an den Spiegelstrichen in diesem Beitrag von @Reichsschlafschaf zu sehen. Dabei umfasst die erste Gruppe sogenannte "subjektive" Merkmale, die zweite Gruppe sogenannte "objektive" Merkmale und die dritte wiederum "subjektive" Merkmale. Zur Unterscheidung vgl. auch
diesen Beitrag von @Gelehrsamer oder kurz: Objektive Merkmale sind Gegenstand der Außenwelt, also dessen, was wir als Realität wahrnehmen. Subjektive Merkmale sind Gegenstand der Vorstellungen des Täters.
Der Kollege @Pantotheus hat das auch schon angerissen. Dennoch hier noch einmal kurz die Merkmale aufgedröselt. Fangen wir mit den objektiven Merkmalen an, weil das einfacher nachzuweisen ist.
1. Heimtückisch
Die landläufige Definition von Heimtücke lautet auf das "planmäßige Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers", wobei derjenige "arglos ist, der sich im Moment des Angriffs keiner Gefahr für sein Leben versieht" und "wehrlos ist, wer aufgrund seiner Arglosigkeit in den Möglichkeiten zu seiner Verteidigung herabgesetzt ist". Mit anderen Worten: Heimtücke ist, wenn a) das Opfer sich nicht so gut oder gar nicht wehren kann weil es b) vom Angriff auf sein Leben nichts mitbekommt weil c) der Täter einem besonderen Plan folgt. Typische Beispiele sind Giftmord (T mischt O Gift in den Kaffee. O ahnt nichts und trinkt den Kaffee, anstatt ihn wegzuschütten.) oder Heckenschützen (T schießt mit einem Präzisionsgewehr aus 1km Entfernung auf O. O hört nicht einmal den Gewehrschuss und kann der Kugel erst recht nicht ausweichen).
2. Grausam
Es gibt Menschen, die jede Tötung als Grausam bezeichnen. Da die Mordmerkmale (wie
@Gelehrsamer schon dargestellt hat) aber immer vom Totschlag abgrenzen (und auch da wird ja jemand getötet), muss die Grausamkeit über die "normale" Grausamkeit einer Tötung hinausgehen. Die übliche Definition stellt auf "unnötige" oder besonders lange Qualen ab. Beispiel: T will O strangulieren. Wenn er die Schlinge so fest zuzieht, wie er kann, ist O innerhalb von wenigen Augenblicken tot. Wenn T aberüber Stunden absichtlich immer wieder die Schlinge lockert, um dem O einen langen, qualvollen Tod zu bereiten, dann ist das grausam.
3. gemeingefährliche Mittel
Als gemeingefährliches Mittel gilt ein Tatmittel, das der Täter nicht ausreichend kontrollieren kann, um die Wirkung zu individualisieren. Platt formuliert: Wenn man mit der Mordwaffe nicht richtig zielen kann, sondern "Flächenwirkung" erzeugt, dann ist die Waffe gemeingefährlich (weil eben eine Gefahr für die Allgemeinheit und nicht nur für das Ziel). Paradebeispiel sind Bomben. Ein gemeingefährliches Mittel wurde aber, wenn ich mich recht erinnere, bei der ersten Verurteilung der Kudamm-Raser angenommen, weil sie ihre Fahrzeuge nicht im Griff hatten. Zumindest wurde es diskutiert.
Soviel zu den objektiven Merkmalen. Warum so ausführlich, wenn nach "niederem Beweggrund" gefragt ist? Kommt noch. Bisher aber soviel: Einen anderen Menschen zu töten (Totschlag, 5–15 Jahre oder lebenslänglich) ist besonders schlimm (Mord, lebenslänglich), wenn man besonders gefährlich für das Opfer (Heimtücke) bzw. die Allgemeinheit (gemeingefährliches Mittel), oder eben rücksichtslos (Grausamkeit, gemeingefährliches Mittel) vorgeht.
Zu den subjektiven Merkmalen der dritten Gruppe (Ermöglichungs-/Verdeckungsabsicht) kann ich auf die sehr gute Erklärung von Pantotheus verweisen. Besonders schlimm ist es, einen anderen Menschen zu töten, wenn man es tut, um noch andere Straftaten zu begehen oder aber sich die Früchte solcher Taten zu sichern. Anmerkung: "eine Tat" ist nicht "irgendeine Tat, die vielleicht zukünftig mal stattfinden soll oder grob geplant ist", sondern eine ganz konkrete Tat. Hier auch wieder Verweis auf Pantotheus' gute Beispiele.
Nun also zu den subjektiven Merkmalen der ersten Gruppe. Zur Erinnerung: Es handelt sich hier um Vorstellungen des Täters. Genauer gesagt: Seine Motive (bzw. "Beweggründe".
1. Mordlust
Mordlust wird gemeinhin mit der "puren Freude an der Vernichtung menschlichen Lebens" definiert. Wenn also T also O tötet, weil er es liebt, Menschen sterben zu sehen, dann handelt er aus Mordlust.
2. zur Befriedigung des Geschlechtstriebs
Recht eindeutig, muss ich glaube ich nicht groß definieren. Spannender sind da eher die Abgrenzung zur Mordlust oder zur Verdeckungsabsicht. Aber das erspare ich uns mal.
3. Habgier
Die übliche Definition hierfür ist das "rücksichtslose Streben nach Gewinn auf Kosten eines Menschenlebens". Klassisches Beispiel ist die Tötung der Erbtante, um früher an das Erbe zu gelangen.
Nun zu den niederen Beweggründen: Schon die Struktur zeigt, dass das ein Auffangmerkmal ist. Die Einleitung "oder sonst" sagt sprachlich, dass hier nicht ein bestimmtes Merkmal gemeint ist, sondern eine unbestimmte Menge an Merkmalen, die alle gemeinsam haben, dass sie ein Beweggrund (Motiv) sind. Und dass sie "niedrig" sind, also besonders verwerflich; besonders schlimm. Die allgemeine Umschreibung dafür ist ein Beweggrund "der sittlich auf tiefster Stufe steht". Mit anderen Worten: "Schlimmer geht nicht".
Zur Auslegung kann man dann die anderen Merkmale heranziehen. Denn die niederen Beweggründe müssen ja ähnlich niedrig, ähnlich schlimm sein, wie die sonstigen Mordmerkmale, damit sie sich einigermaßen "gleichmäßig" einfügen. Wenn wir uns also die anderen Mordmerkmale anschauen, dann stellen wir fest, dass sie durch eine besondere Gefährlichkeit (das Opfer hat besonders wenig Chance [Heimtücke] und/oder muss besonders leiden [Grausamkeit]) bzw. eine besondere Rücksichtslosigkeit auszeichnen. Rücksichtslos entweder gegenüber dem Opfer, da der Täter die eigenen Bedürfnisse so krass über die Bedürfnisse des Opfers stellt, dass er es sogar um sein Leben bringt (Mordlust, Geschlechtstrieb, Habgier, Ermöglichungs-/Verdeckungsabsicht). Oder andererseits gegenüber Unbeteiligten, die mit hinein gezogen werden (gemeingefährliches Mittel; ggf. auch hier Ermöglichungs-/Verdeckungsabsicht, wenn die Opfer lediglich "zur falschen Zeit am falschen Ort" sind).
Wenn man also versuchen möchte, einen niederen Beweggrund zu fassen zu kriegen, dann kann man sich mit dieser Einschätzung recht gut behelfen: Es muss besonders krass rücksichtslos und egoistisch sein. Und eben kaum nachvollziehbar. Wenn der T die O vergewaltigt und die O ihn während des Prozesses aus Rache erschießt, dann ist das ganz anders "nachvollziehbar", als wenn der T die O im Kindergarten "blödes Huhn" genannt hat und sie noch mit 80 Jahren so gekränkt ist, dass sie ihn in diesem Alter erschießt. In den Knast kommt sie für beide Fälle, aber eben nur einer ist ein "Rachemord", der andere wohl eher ein Totschlag (vgl. auch das HRR-Zitat von
@Reichsschlafschaf ).
Zur Problematik des Mordparagraphen: Ich möchte behaupten, dass zumindest für Juristen der Mordparagraph inzwischen sehr gut fassbar ist. Es gibt knapp 70 Jahre Judikatur dazu, der Großteil davon aus bundesrepublikanischer Zeit. Es gibt soviele Entscheidungen und ein Mehrfaches davon an wissenschaftlicher bzw. Ausbildungsliteratur, dass es wohl kaum eine Konstellation geben dürfte, die ein Jurist mittlerer Art und Güte (also das, was zwei Staatsexamen bestehen kann) nicht halbwegs beherrschen könnte, wenn er sich auf seinen Hosenboden setzt und ein bisschen liest.
Es dürfte daher meiner bescheidenen Einschätzung nach mehr Verwerfungen geben, wenn man die Vorschrift ändert, als wenn man mit dem Tatbestand weitermacht, wie bisher.
Daran ändert auch seine Geschichte nur wenig. Der Mordparagraph ist nämlich interessanterweise nicht "typisch nationalsozialistisches Recht". Jedenfalls nicht im Rechtssinne, denn "typisch nationalsozialistisches Recht" (wie etwa die Nürnberger Rassegesetze) wurde durch den alliierten Kontrollrat aufgehoben. Ich meine sogar, dass es durch das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 1 war, aber sicher bin ich nicht und nachschauen wollte ich auch nicht. Wie aber kann das sein, wenn doch die Sprache und die Möglichkeit zum Missbrauch als "Gummi-Paragraph" (und, ja, die nationalsozialistische Justiz hat von dieser Möglichkeit in mehr als widerlicher Weise Gebrauch gemacht. Erhellend dazu: Ingo Müller, Furchtbare Juristen. Das Buch sollte man mal gelesen haben.) das sehr nahelegen?
Ganz einfach: Der Mord-Paragraph in der heute in Deutschland geltenden Fassung geht auf einen Entwurf aus der Schweiz zurück! Vielleicht ist das auch der Grund, warum die deutsche und die schweizer Rechtslage so ähnlich sind? Auch inhaltlich? Besonders skrupellos und besonders gefährlich ist an der besonderen Rücksichtslosigkeit und besonderen Gefahr für einzelne oder die Allgemeinheit, die ich als Gemeinsamkeiten der Merkmale oben herausgearbeitet habe, recht nahe dran.
Gleichwohl ist der Mordparagraph ein unglaubliches Problem. Nicht nur dogmatisch (der Kollege Gelehrsamer hat ja die berühmt-berüchtigten "gekreuzten Mordmerkmale" schon angesprochen), sondern vor allem auch in der Praxis. Nicht aufgrund des Tatbestands. Sondern aufgrund der Rechtsfolge. Das Problem des Mordparagraphen ist seine absolute Strafandrohung: Lebenslänglich. Sobald ein Mordmerkmal erfüllt ist, bedeutet das "frühestens(!) nach 15 Jahren wieder ungesiebte Luft". Und das wird (zu Recht!) sehr oft als unpassend angesehen. Etwa im Falle Ehefrau, die von ihrem Mann unablässig gequält wird und ihn nicht verlässt, weil er droht, dann den Kindern etwas anzutun und der aufgrund ihrer körperlichen Unterlegenheit keine Möglichkeit bleibt, ihrem Peiniger "offen gegenüber" zu treten, sondern die zum Gift greifen oder auf seinen Schlaf warten muss (beides Heimtücke) um ihn töten zu können (Fallgruppe: Tyrannenmord). Weil das Gesetz in diesem Jahren schlicht "lebenslänglich" androht, greifen Gerichte (bis hinauf zum BGH), die weniger für angemessen halten zu teilweise absurder dogmatischer Akrobatik, um das Ergebnis doch noch irgendwie in nachvollziehbare Strafhöhen drehen zu können. Im Jurastudium lernt man noch mehr solcher Konstellationen und weiterer, ungeschriebener Merkmale, die sehr häufig als Korrektiv für eben die Rechtsfolge dienen.
Das alles bräuchte es nicht, wenn man auf Mord aber neben der lebenslangen Strafe auch auf eine zeitige Strafe erkennen könnte. Gleichwohl wird das am Stammtisch kaum durchsetzbar sein.