Die Geschichte einer Demütigung
In Deutschland schikanieren selbsternannte Reichsbürger den Staat. Ein Beispiel aus einer Kleinstadt, deren Bürgermeister sich zunehmend allein fühlte.
Christoph Dorner
28.1.2018
Ein Mann im Kartonkostüm taucht im Frühling 2015 auf dem Wochenmarkt in Herzberg auf, einem Städtchen 100 Kilometer südlich von Berlin. Der Mann ist Mitte vierzig, hat eine hohe Stirn und trägt eine schmale Brille. Der Karton hängt von seinen Schultern herab wie eine Rüstung, die Bauch und Rücken bedeckt. Darauf steht mit Filzstift geschrieben: «BRD ist eine Handelsfirma. DARUM sitzt der DIEB MICHAEL OECKNIGK CDU im Herzberger Rathaus statt im GEFÄNGNIS.» In dieser Montur kommt der Mann wieder, jeden Donnerstag. Er spricht Passanten an, sie winken ab. Lieber keinen Ärger.
Der Mann heisst Frank Wolfgang Richter. Seit 17 Jahren sabotiert er die Verwaltung in Herzberg und besonders Michael Oecknigk, den langjährigen Bürgermeister (Gemeindepräsidenten). Richter ist kein einzelner Irrer, sondern ein selbsternannter Reichsbürger. Die lose, teilweise rechtsextreme Bewegung erkennt die Bundesrepublik nicht an. Nach ihrer Lesart verlor das Grundgesetz mit der Wiedervereinigung 1990 seine Gültigkeit. Deutschland existiere stattdessen wieder als Reich in den Grenzen von 1937, sagen die einen; die anderen beziehen sich auf das Kaiserreich. Die Reichsbürger verweigern jegliche Kooperation mit Behörden und zahlen etwa keine Steuern. Lange wurden sie als skurrile Quertreiber belächelt. Mittlerweile gibt es laut dem Verfassungsschutz 15 600 solcher Verschwörungstheoretiker, und sie werden zunehmend zum Problem. 2016 erschoss ein Reichsbürger in Bayern einen Polizisten.
Michael Oecknigk hat versucht, mit Richter zu reden, mehrfach. Und mehrfach hätte er ihn am liebsten geohrfeigt. Stattdessen zeigte er den Reichsbürger an wegen übler Nachrede. Es gab eine Verhandlung im Amtsgericht, in welcher der Reichsbürger behauptete, es lägen gegen die Richterin Anzeigen wegen Befangenheit vor. Als die Richterin sich zurückzog, um die Behauptung zu prüfen, spazierte der Angeklagte aus dem Amtsgericht und kehrte nicht zurück.
Bei einer zweiten Verhandlung erschien er gar nicht erst. Oecknigk schäumte vor Wut. So einer müsste in Handschellen vor Gericht gebracht werden, dachte er. Der Reichsbürger wurde in Abwesenheit zu einer Geldstrafe verurteilt. Aber deren Zahlung kann der Staat vergessen, ebenso wie die Erstattung der Verfahrenskosten: Der Verurteilte ist pleite. Oecknigk sagt heute: «In der Sache ist bei mir der Glaube an den Rechtsstaat verloren gegangen.»
Es ist ein sonniger Wintertag, ein paar Menschen huschen über den historischen Marktplatz von Herzberg, vorbei an den herausgeputzten Reihenhäusern und der rostbraunen Backsteinkirche. Im Rathaus sitzt Michael Oecknigk, 57 Jahre, in seinem holzvertäfelten Büro. Er hat den Bauch eines lokalen Würdenträgers; Gästen legt er zur Begrüssung den Arm auf die Schulter. Zu DDR-Zeiten war er einer der besten Bäcker des Bezirks, wie eine Urkunde an der Wand bezeugt. Oecknigk ist Kirchgänger und im Schützenverein. Als er im April 2017 an einem Seniorennachmittag verkündete, dass er nach 24 Jahren als Bürgermeister nicht mehr kandidieren würde, fragten sich die Herzberger ungläubig: Warum?
Der Reichsbürger wurde in Abwesenheit zu einer Geldstrafe verurteilt. Aber deren Zahlung kann der Staat vergessen, ebenso wie die Erstattung der Verfahrenskosten: Der Verurteilte ist pleite
Oecknigk und Richter haben am Anfang ihres Zweikampfes etwas gemein: Beide suchen einen Weg in die Politik, beide in konservativen Parteien. Oecknigk protestiert im Herbst 1989 mit anderen Bürgern gegen die DDR-Regierung. 1993 wird er für die CDU zum Bürgermeister gewählt. Herzberg braucht damals ein neues Spital, eine Kläranlage, ein Gewerbegebiet. Oecknigk rotiert, ist bis zu 80 Stunden pro Woche unterwegs, besucht Senioren, Vereine und Partnerstädte. Er wird zu einem Mann der Mitte der Gesellschaft.
Richter startet bereits am Rand der Gesellschaft. Er wohnt mit seiner Ehefrau in einem Haus aus grauem Spritzbeton, die Storen sind heruntergelassen, das Grundstück ummauert. Auf einem Schild steht: «Dieses Haus steht unter Selbstverwaltung.» Richter reagiert nicht auf Klingeln, ebenso wenig auf E-Mails; offenbar redet er nicht mit Journalisten, wie die meisten Reichsbürger. Seine Radikalisierung lässt sich rekonstruieren anhand seiner Spuren im Internet und des Papierkriegs, den er sich mit der Stadtverwaltung liefert. Die Akten füllen im Rathaus zwei Ordner, von denen der neuere vorsorglich bis 2020 datiert ist.
Richter wird 1990 Bürgermeister des Dorfes Gräfendorf bei Herzberg, für die konservative Kleinstpartei DSU. Im Amt schimpft der junge Tischler gegen alle, die sich erst mit der DDR und nun mit der BRD arrangiert haben. Also gegen fast alle. Bald verliert er sein Ehrenamt. 1994 kandidiert er bei der Europawahl, erfolglos. Richter wechselt zur rechtsextremen DVU und arbeitet für einen Landtagsabgeordneten. 2000 liest Richter im Internet die Pamphlete des selbsternannten «Reichskanzlers» Wolfgang Ebel, der mit seiner Mitte der achtziger Jahre gegründeten «Kommissarischen Reichsregierung» als Vordenker der Reichsbürger gilt: Das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 bestehe fort, die Bundesrepublik sei nur eine Firma. Deshalb seien Zahlungsansprüche von Gemeinden illegal.
Am 1. April 2001 schreibt Richter der Stadtverwaltung, dass er als Staatsbürger des Deutschen Reiches die Grundsteuer für sein Haus nicht mehr bezahlen werde. Im Rathaus ist man ratlos. Ein Mitarbeiter macht sich über den «Reichskanzler» Wolfgang Ebel schlau und findet einen Zeitungsartikel. Ein Satz ist grün markiert: Ebel sei geschäfts- und schuldunfähig und somit nicht zur Verantwortung zu ziehen. Oecknigk und seine Mitarbeiter ahnen, dass Ärger auf sie zukommt.
Richter kämpft bald an allen Fronten: gegen das Hortgeld für seine Kinder, gegen die Eingemeindung von Gräfendorf nach Herzberg, gegen die Gebühr für den Abwasserzweckverband. Der Abwasseranschluss ist Pflicht; als Richter ihn kappt, rückt die Polizei mit einem Installateur an. Der muss feststellen: Richter hat den Anschluss einbetoniert.
Oecknigk ist fassungslos. Seine Verwaltung beginnt mit Zwangsvollstreckungsmassnahmen, lässt Richters Gehalt pfänden. Der Reichsbürger zahlt Geldstrafen nicht und muss deshalb 2004 ins Gefängnis. Erst schickt der «Reichskanzler» Ebel nun für Richter Pamphlete ins Rathaus, dann überwirft Richter sich selbst mit seinem Vorbild. Vor sein Haus stellt er eine «Tafel der Betrüger», auf der er die «Diktatur Bundesrepublik Deutschland», die «Systemmedien» und Michael Oecknigk anprangert. Der Bürgermeister will die Tafel entfernen lassen. Doch sie steht auf Richters Grundstück. Nichts zu machen.
Im Rathaus gibt es wiederholt Besprechungen zum Reichsbürger. Die Verwaltung versucht, ihn entmündigen zu lassen, um die fünf Kinder aus der Familie zu holen. Ohne Erfolg. Oecknigk sucht Hilfe beim Landratsamt und beim Innenministerium. Ohne Erfolg, die Reichsbürger wurden deutschlandweit lange nicht als ernsthaftes Problem erkannt. Richters Haus soll zwangsversteigert werden. Ohne Erfolg: Richters Vater begleicht plötzlich die Schulden seines Sohnes. Der Reichsbürger schreibt im Internet, dass er nun für seine Überzeugungen alles aufs Spiel setzen würde. Wie die Menschen, die aus der DDR geflüchtet seien.
Richter kämpft bald an allen Fronten: gegen das Hortgeld für seine Kinder, gegen die Eingemeindung von Gräfendorf nach Herzberg, gegen die Gebühr für den Abwasserzweckverband.
Richter setzt sich mit seiner Familie nach Norwegen ab. Als im Sommer 2011 eine Bombe in Oslo und Schüsse auf der Insel Utöya 77 Menschen töten, denkt Oecknigk: Das war Richter. Es war Anders Breivik.
2014 kehrt Richter nach Herzberg zurück. Er geht mit seiner Kartonrüstung auf den Wochenmarkt, schickt wieder seitenweise Reichsbürger-Schreiben. Doch der Furor lässt nach. Er scheint müde zu werden, denkt Oecknigk.
Der Bürgermeister steht längst vor neuen Herausforderungen. Es gibt jetzt Flüchtlinge in Herzberg. Ein syrischer Coiffeurlehrling verletzt seine Chefin mit einem Messer schwer, die AfD demonstriert auf dem Marktplatz. In der Kommunalpolitik wird Oecknigk immer häufiger für Alleingänge kritisiert. In den sozialen Netzwerken wird er angefeindet. Jemand schreibt auf Facebook: «Auch Caesar ist von seinen Untergebenen erstochen worden.»
Im Bundestagswahlkampf 2017 steht Oecknigk auf einer Bühne mit Angela Merkel im benachbarten Finsterwalde. Die Bundeskanzlerin wird dort und anderswo in Ostdeutschland so heftig ausgepfiffen, dass ganz Deutschland darüber redet. Oecknigk kann den Hass auf demokratisch gewählte Amtsträger nicht nachvollziehen. Sind die Reichsbürger dafür die Wegbereiter gewesen?
Als Oecknigk seinen Amtsverzicht ankündigt, beklagt er Respektlosigkeiten und Demütigungen. Damit meint er nicht nur den Reichsbürger. Der Bürgermeister fühlt sich zunehmend allein. Er ist froh, als er im Januar sein Amt abgibt. Sein Nachfolger ist ein parteiloser Polizist.
Das letzte Mal sind sich Oecknigk und Richter im August begegnet. Richter kam im grünen Tarnanzug auf dem Velo angefahren und rief: «Oecki, wir haben noch eine Rechnung offen.»
Der abgetretene Bürgermeister sagt, Angst vor einem Angriff habe er zwar nicht. «Ich weiss aber auch nicht, ob ich mich im Notfall auf die Zivilcourage meiner Mitmenschen verlassen könnte.»