Ein durch einen Hochschullehrer verfaßter Artikel der LTO widmet sich der Frage, ob Bundestagsabgeordnete im Falle einer Verurteilung den Parlamentssitz verlieren sollten und welche Aspekte sich mit dieser Frage verbinden. seltsamerweise stammen beide Beispiele der jüngsten Zeit aus der afd ...
Sehr interessant sind die Kommentare, die zum Teil von einem "Hetzartikel" sprechen:
Spoiler
Eine Verurteilung wegen Volksverhetzung führt nicht zu einem Verlust des Bundestagsmandats. Der Gesetzgeber könnte das ändern, um das Ansehen des Parlaments zu schützen. Die Rechtslage und mögliche Änderungen erklärt Klaus F. Gärditz.
Neue Fragmentierungen im Parteienspektrum haben mit der Wahl 2017 den Deutschen Bundestag erreicht. Die Parlamentspraxis muss sich hierauf noch einstellen und einen konstruktiven Umgang mit einem stärker polarisierten Parlament finden. Inzwischen mehren sich jedoch rassistische Ausfälle, von denen einige möglicherweise Strafgesetze verletzen.
Äußerungen im Parlament sind grundsätzlich aufgrund der Indemnität nach Art. 46 Grundgesetz (GG) nicht strafbar. Außerhalb von Plenum und Ausschüssen finden aber auf politische Äußerungen sehr wohl die allgemeinen Strafgesetze Anwendung. Matthias Jahn, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtstheorie an der Goethe-Universität in Frankfurt, hat allerdings zutreffend darauf hingewiesen, dass viele der öffentlich diskutierten Äußerungen zwar abstoßend, aber nicht strafbar sind.
Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt, jede Äußerung im Lichte der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG möglichst grundrechtsschonend auszulegen. Kann eine straffreie Deutung nicht ausgeschlossen werden, ist diese bevorzugt zugrunde zu legen. Die Meinungsfreiheit sichert insoweit einen offenen Diskurs als Funktionsbedingung jeder Demokratie: Die Demokratie kennt keine politischen Wahrheiten. Sie lässt auch unsinnige Aussagen zu und vertraut auf die Kraft des besseren Arguments. Dies muss erst recht für gewählte Abgeordnete gelten. Diese haben ein Mandat, ihre politischen Positionen (wie bizarr diese auch sein mögen) in das Parlament einzubringen, wofür sie sich grundsätzlich nur vor den Wählern verantworten müssen.
Freilich kennt auch die Meinungsfreiheit Schranken, die uns gegen rassistische Rechtsgutsangriffe schützen. Manche Äußerung lässt sich nicht entschärfend interpretieren. Auch bei grundrechtsschonender Auslegung dürfte beispielsweise die Schwelle zur strafbaren Volksverhetzung überschritten sein, wenn ein messerscharf kalkulierender Provokateur eine amtierende Staatssekretärin "in Anatolien entsorgen" möchte, wie es der Jurist Dr. Alexander Gauland in Hinblick auf die Staatsministerin im Bundeskanzleramt, Aydan Özoğuz, formulierte.
Und die rassistische Beleidigung von Individuen - das jüngste Beispiel dumpfer Verrohung: "kleiner Halbneger" durch den Richter Jens Maier gegenüber Noah Becker - ist ein strafbarer Rechtsgutsangriff, der sich nicht in eine nichtbeleidigende politische Botschaft verbiegen lässt. Mit dem Strafrecht lassen sich so freilich nur die schlimmsten Exzesse bekämpfen.
Kein Verlust der Wählbarkeit
Was folgt aber aus einer strafgerichtlichen Verurteilung, wenn es denn dazu kommt, für ein Bundestagsmandat? Der Verlust der Mitgliedschaft im Bundestag richtet sich gemäß § 1 Abgeordnetengesetz (AbgG) nach dem Wahlrecht. Nach § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Bundeswahlgesetz (BWahlG) beendet der Verlust der jederzeitigen Wählbarkeit zugleich die Mitgliedschaft im Bundestag.
Die Wählbarkeit verliert, wer infolge eines Richterspruchs vom Wahlrecht ausgeschlossen ist (§ 15 Abs. 2 Nr. 2 BWahlG). Dies verweist wiederum auf § 45 Strafgesetzbuch (StGB). Nach dem dortigen Abs. 1 führt eine Verurteilung wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu einem zeitlich limitierten Verlust der Wählbarkeit. Da es sich bei den üblichen Äußerungsdelikten wie Volksverhetzung oder Beleidigung nach §§ 130, 185 StGB jedoch nicht um Verbrechen, sondern um bloße Vergehen handelt, berührt eine Verurteilung hiernach die Wählbarkeit nicht.
In allen anderen Fällen kommt ein Verlust der Wählbarkeit im strafrichterlichen Ermessen nach § 45 Abs.2 StGB nur dort in Betracht, wo es das Gesetz ausdrücklich vorsieht. Dies ist aber bei den hier relevanten Äußerungsdelikten bislang nicht der Fall.
Sanktionen für zurechenbares Fehlverhalten
Der Gesetzgeber könnte jedoch zum Selbstschutz des Parlaments künftig auch Fälle der Volksverhetzung in den Verlusttatbestand des § 45 StGB einbeziehen. Volksverhetzungen, die aus der Mitte des Bundestags begangen werden, beeinträchtigen das Ansehen des Parlaments und seine Funktionstüchtigkeit als Forum öffentlichen politischen Konfliktausgleichs. Eine Erstreckung der Verlusttatbestände hierauf wäre daher gegenstandsadäquat und verhältnismäßig. Eine solche Regelung wäre zwar wegen des Rückwirkungsverbots nach Art. 103 Abs. 2 GG, das auch für strafrechtliche Nebenfolgen gilt, nur für künftige Straftaten möglich. Sie könnte aber durchaus auch auf Abgeordnete des aktuellen Bundestags erstreckt werden. Die Freiheit des Mandats gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG schützt nämlich auch während der laufenden Wahlperiode nicht vor Eingriffen in Statusrechte, wenn hierdurch lediglich zurechenbares Fehlverhalten verhältnismäßig sanktioniert wird.
Die Freiheit des Mandats wäre hingegen unverhältnismäßig beeinträchtigt, wenn die Verletzung allgemeiner Anstandserwartungen unterhalb der Strafbarkeit zum Ausschluss aus dem Parlament führen könnte. Möglich wären Sanktionen für Verletzungen von auszuformulierenden Verhaltensregeln, wenn das Ansehen oder die Funktionsfähigkeit des Parlaments qualifiziert geschädigt wird. Verhaltensregeln für Abgeordnete gibt es bereits in §§ 44a, 44b Abgeordnetengesetz, sie wären also kein absolutes Novum. In Betracht kämen dann Ordnungsgelder zur Disziplinierung oder die Kürzung von Fraktionsmitteln, sofern Regelverletzungen einzelner Abgeordneter einer Fraktion zurechenbar sind.
Anstand ist kaum normierbar
Vor allem bleibt der Umgang mit Provozierendem aber eine politische Herausforderung, von der das Recht kaum entlasten kann. Anstand ist nur begrenzt normierbar. Jede Gesellschaft hat ihre hässlichen Seiten. Es gehört zum Kerngeschäft des politischen Prozesses, dumpfe Provokationen, diffuse Ressentiments und Niedertracht argumentativ zu stellen und herauszufiltern. Billige Hassbotschaften sollten sich selbst diskreditieren.
Das gegenwärtige Problem ist aber, dass offenbar gerade ausgelebte Unanständigkeit durch ein stabiles Niveau an Wählerstimmen honoriert wird. Das Erfolgsrezept des kalkulierten Tabubruchs mag Grenzen haben, hat jedoch diffusen Bewegungen inzwischen einen parlamentarischen Resonanzraum eröffnet. Ein angemessener Umgang hiermit muss noch gefunden werden. Dazu gehört vielleicht auch die Einsicht, dass bisweilen zu eng gesteckte Grenzen des moralisch Verhandelbaren gerade diejenigen gestärkt haben, die gar nicht demokratisch verhandeln wollen und auf moralische Minima gerne pfeifen.
Hyperkommunikationsgesellschaft und ihre Trolle
Die gezielte Verschiebung der Grenzen des Sagbaren und die Kultur der Hassbotschaft sind schließlich auch nicht von ihren Medien zu trennen. Ohne das Internet, ohne die fragmentierten und abgeschotteten Gegenöffentlichkeiten der Social Media und ohne die postmoderne Beliebigkeit per Twitter hinausposaunter Kurzwahrheiten wären die Pegida-Bewegung und ihr politischer Arm nicht denkbar.
Auch Trolle sind Teil unserer vernetzten Hyperkommunikationsgesellschaft, die zunehmend - und nicht nur am rechten Rand - in eine Dynamik der Horde abrutscht. Wer immer mehr und in immer höherer Frequenz durch Kurzbotschaften um öffentliche Aufmerksamkeit buhlt, hysterisch Dauerempörung ventiliert und den erbarmungslosen Shitstorm zur politischen Selbstermächtigung verklärt, fördert eine Kultur der Verkürzung, der simplen Botschaft, des Dampfablassens und der moralischen Verrohung.
Es sind die Rhythmen der digitalen Boheme, die von der AfD gespielt werden. Selbstkritik der Propheten barrierefreier Diskurse mittels Kommentarfunktion? Fehlanzeige. Die verstörenden Entwicklungen sind uns längst entglitten. Aber man kann zumindest versuchen, durch mehr Gelassenheit den Provokateuren den Sauerstoff Aufmerksamkeit zu entziehen, um den es letztlich allen geht. Einmal nicht zurücktwittern, wäre ein Anfang.
Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bonn.