Prozessbericht aus Frankfurt, August 2024, Teil 2: DUMB gelaufen!Als um 9:50 der Richtersenat erscheint, erheben sich alle respektvoll – ich muss gestehen, dass ich in diesem Moment nicht genau auf die Angeklagten geschaut habe, aber ich denke, auch sie sind brav aufgestanden. Am Richterpult nehmen insgesamt acht Personen Platz, Richter, Schöffen und ihre Ersatzleute; mangels Beschriftung sind ihre genauen Rollen für mich nicht auszumachen. In der Mitte outet sich aber der Vorsitzende (nachfolgend VR), indem er die Verhandlung eröffnet.
Wie immer eine Bemerkung im Voraus: Ich habe alles so genau wie möglich mitgeschrieben; exakt wörtliche Passagen setze ich dabei in Anführungszeichen, ungefähr wörtliche formuliere ich in direkter Rede, aber ohne Anführungszeichen. Für rein inhaltliche Wiedergaben verwende ich die indirekte Rede. Wo ich unsicher bin oder gewisse Lücken bestehen, werde ich darauf hinweisen. Teils wurde natürlich schnell gesprochen, und teils war es trotz der hervorragenden Optik und Akustik schwer, überhaupt auszumachen, wer das Wort ergriffen hatte – die vielen Verteidiger und Angeklagten verdeckten teilweise die Sicht auf ihre Neben- und Hinterleute.
Der VR eröffnet also die Verhandlung mit der Feststellung, alle notwendigen Beteiligten seien erschienen, man könne die Verhandlung in der Strafsache gegen Heinrich XIII. Prinz Reuss und andere fortsetzen. Er klärt noch ab, ob die Vertretung eines verhinderten Verteidigers durch einen anderen in Ordnung sei; da meldet sich Dr. Sieg, einer der Verteidiger des Prinzen. Er wolle zwei Anträge stellen.
Der VR bemerkt dazu: “Ihr Engagement in Ehren”, aber zuerst wolle er noch ein paar Dinge klären. Heute werde eine Einlassung der Angeklagten Malsack-Winkemann “zur Sache” erwartet; die Fortsetzung der “Verlesung von Urkunden”, die ursprünglich für heute vorgesehen war, werde daher nur am Vormittag durchgeführt, da Malsack-Winkemanns Verteidiger Lober noch bis zum Mittag verhindert sei.
Ausserdem habe der Senat die Sommerpause genutzt, um Anfragen an verschiedene “Nachrichtendienste” zu stellen, da manche der Beweisunterlagen, die den Prozessbeteiligten vorliegen, offenbar bemängelt wurden; es gehe um die “inhaltliche Nachvollziehbarkeit dessen, was wir zum Teil nur leicht geschwärzt erhalten haben”, sowie um “fehlende” G10-Dokumente – dabei handelt es sich wohl um Observationsberichte, überwachte Gespräche und Ähnliches. Der Bitte, die “fehlenden” Unterlagen nachzusenden, seien die Landesämter für Verfassungsschutz Bayern und Baden-Württemberg inzwischen nachgekommen.
Im Übrigen habe man die Verteidiger sämtlicher in München und Stuttgart angeklagten Vereinigungsmitglieder angeschrieben mit der Frage, ob ihre Mandanten bereit seien, im “hiesigen Verfahren” als Zeugen auszusagen. Die Antworten stünden noch aus.
Dr. Sieg bemerkt, er fände es besser, wenn man den Betreffenden das jeweilige Thema nenne, zu dem ihre Aussage gewünscht werde, denn das könne ihre Mitwirkungsbereitschaft erhöhen.
VR: Man habe die Anfrage allgemein gelassen, der Senat wolle auch nicht unbedingt alle 18 Angeklagten vernehmen. Auf Nachfrage eines Verteidigers des von Pescatore erklärt er, dass man darauf verzichten werde, Angeklagte, die ihre Aussage verweigern wollen, als Zeugen zu laden.
Durch die Presse sei bekannt geworden, dass letzte Woche eine Angeklagte in München Angaben zur Sache gemacht habe.
Ein Verteidiger bestätigt, dass Hildegard Leiding – Malsack-Winkemanns Angestellte und persönliche Astrologin zu deren Bundestagszeit – ihre Aussage “letzte Woche beendet” habe. Laut
entsprechenden Medienberichten hat sie ihre ehemalige Chefin dabei nicht allzu gut aussehen lassen; kein Wunder also, dass diese nun versuchen will, einiges geradezurücken. Welch ein Glück, dass ich gerade jetzt hier bin! Da stehen die Sterne mal wieder gut für das Sonnenstaatland – und wohl eher schlecht für Malsack-Winkemann.
Eine Verteidigerin (vermutlich des Angeklagten Heuer) gibt zu bedenken, dass Leiding teilweise frei gesprochen habe, und fragt, wie man mit den nicht verschriftlichten Aussagen verfahren solle. Es entspinnt sich ein kurzes Gespräch zwischen den Anwälten, dem VR und der Generalbundesanwältin (GBA) über dieses Problem; schliesslich fragt der VR die GBA, ob sie über eine Mitschrift verfüge. Die GBA verneint.
Dr. Sieg kann jetzt seine Anträge stellen. Erstens verliest er einen Abschnitt aus dem Protokoll der Vernehmung des in München angeklagten Dr. Paul Gorgass, wo es um ein Gespräch zwischen diesem und Prinz Reuss am 12. November 2022 geht. Thema ist die sechste und letzte Sitzung des “Rates” am Tag zuvor. Dr. Sieg zitiert aus dem Protokoll: “Das Treffen war gedämpft, kurz und knapp”; Prinz Reuss habe gesagt, dass Maximilian Eder ihm fast “50000 Euro abgenommen” habe, angeblich “um ein Kind zu befreien”, und habe in seiner Formulierung durchblicken lassen, dass er sich von Eder betrogen fühle.
Nun stellt Dr. Sieg den Antrag, die Polizisten, die Gorgass vernommen haben, als Zeugen zu laden: Sie sollen bestätigen, dass Gorgass’ Aussage glaubhaft sei. Damit bezweckt die Verteidigung des Prinzen, dass der Vorwurf fallengelassen wird, dieser habe die 50000 Euro an die Gebrüder Ricci gegeben, damit sie für die Vereinigung Waffen beschaffen sollten. Vielmehr sei das Geld ausdrücklich “für die Kinder” bestimmt gewesen und keineswegs für die Vorbereitung einer Erstürmung des Reichstags. Auch bei einem Treffen am 17. November 2022 im Gasthaus “Lamm” habe Prinz Reuss eine ähnliche Äusserung getätigt, aus der hervorgehe, dass die 50000 Euro nicht für die Erstürmung des Reichstags, sondern für die Befreiung der Kinder und die Observation der DUMBs gedacht gewesen seien.
Des weiteren beantragt Dr. Sieg auch die Ladung weiterer Zeugen aus der Justiz und warnt vor dem langen Satz, der gleich kommt und den ich hoffentlich in seinen Grundzügen richtig wiedergebe: Diese Zeugen sollen aussagen, ihnen sei kein Ermittlungsergebnis bekannt, das es rechtfertigen würde, die Anklageschrift des GBA Frank “für falsch zu halten”, wenn Prinz Reuss
nicht vorgeworfen werde, die 50000 Euro für die Reichstags-Erstürmung, sondern für die Befreiung von Kindern aus DUMBs bestimmt zu haben.
VR: Die Beweisanträge werden als Anlage zu Protokoll genommen.
GBA: Sie werde sich die Anträge nochmal in Ruhe anschauen.
VR: Gibt es weitere Anträge?
Ralf Dalla Fini, der Maximilian Eder verteidigt, bittet um eine Pause von zwei Minuten, um sich bezüglich der soeben angesprochenen 50000 Euro mit seinem Mandanten zu besprechen.
Der VR gewährt die Pause.
Während Eder und seine Verteidiger kurz die Köpfe zusammenstecken, fragt mich mein Sitznachbar, was mit DUMBs gemeint sei. Dabei handle es sich um ein Akronym für “Deep underground military bases”, erkläre ich ihm. Gemeint sind die nur in der Glaubenswelt von QAnon und ähnlichen Deppen existierenden Tunnel, in denen böse Deep-State-Satanisten Kinder missbrauchen und ihr Blut trinken; letztlich eine modernisierte Version antijüdischer Ritualmordlegenden aus dem Mittelalter. Diesen ungeheuren Quatsch haben die vor uns sitzenden Angeklagten tatsächlich geglaubt, und vielleicht glauben sie ihn immer noch. Den erwähnten Gebrüdern Ricci sollen sie insgesamt eine sechsstellige Summe in Euro ausgehändigt haben, damit diese ihnen nicht nur Waffen liefern, sondern auch die Eingänge zu den besagten DUMBs finden, diese observieren und Kinder aus ihnen befreien sollten. So hofften die Mitglieder der Vereinigung an Beweise für das böse Treiben der Deep-State-Satanisten zu kommen, mit denen sie die Bevölkerung von der Richtigkeit ihres Unterfangens überzeugen und sie für ihre Sache – laut Anklage also für den gewaltsamen Umsturz – gewinnen wollten.
Die Besprechung zwischen Eder und seinen Anwälten ist zu Ende.
Dalla Fini: Die 50000 Euro waren für die Gebrüder Ricci, damit diese die DUMBs ausspähen; dabei ging es nicht um das “Mädchen Nathalie”, sondern um weitere Kinder. Eders Ziel war es, “Politiker damit zu konfrontieren”; das Geld war nicht für die Erstürmung des Reichstags bzw. für einen Umsturz gedacht.
Der VR bemerkt, dass die Sacheinlassung Dalla Finis zur Geldübergabe an die Riccis zu Protokoll genommen wird. Dann fragt er Eder, ob die Angaben seines Verteidigers korrekt seien.
Eder: Ja. Das Geld sei für Ausrüstung, Nachtsichtgeräte und ähnliches “ausschliesslich zur Aufklärung der DUMBs in und um Basel” bestimmt gewesen. Mir fällt auf, dass Eder den Namen der italienischstämmigen Brüder Ricci wie “Rikki” ausspricht. Typisch – auch “Maggi” wird in Deutschland stets falsch ausgesprochen. Wobei “Maggi”-Produkte vielleicht auch niemand kaufen würde, wenn die Bezeichnung lautlich zu nahe beim Wort “Matsch” läge.
Dem aufmerksamen Leser wird spätestens bei der Erwähnung von Basel aufgefallen sein, dass es hier einen Bezug zur Schweiz gibt. Das zwielichtige Zwillingspaar Ricci lebt nämlich in meiner Heimat und wartet dort im Zusammenhang mit den erwähnten Aktivitäten auf seine Anklage vor dem Bundesstrafgericht. (I’ll be there, nach Möglichkeit.) Dass die DUMBs in Basel und Umgebung gesucht wurden, liegt im sogenannten “Fall Nathalie” begründet, der sich in dieser Gegend abgespielt hat: Die Mutter von Nathalie, die in Wirklichkeit anders heisst, beschuldigte den Vater, das Kind in den DUMBs zu missbrauchen. Dem Mädchen wurden dabei offenbar entsprechende Erinnerungen eingeredet, und ein Reporter von der Basler Zeitung beging den fatalen Fehler, eine Artikelserie zu veröffentlichen, in welcher der Vater entsprechend als Täter dargestellt und die aus Sicht des Reporters untätige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) scharf kritisiert wurde. Als das Schweizer Fernsehen Ende 2021 die Doku
“Der Teufel mitten unter uns” ausstrahlte, in der besagter Reporter auch namentlich genannt wurde, verlor er zwar seinen Job, doch der Schaden war bereits angerichtet: In zahllosen Deppen-Telegramkanälen waren Links zum “Fall Nathalie” geteilt worden, und auch die hier angeklagte Vereinigung war auf den Fall aufmerksam geworden. Bereits Anfang November 2021 waren Eder und Findeisen-Juskowiak in die Schweiz gereist und hatten “Nathalie” zu ihren vermeintlichen Erlebnissen in den DUMBs interviewt; die Aufnahmen von diesem Gespräch präsentierte Findeisen-Juskowiak im August 2022 dem “Rat” der Vereinigung.
Diese unfassbare, ungeheuerliche Geschichte, die ich hier in relativ wenigen Worten umschrieben habe, lässt sich ausführlicher in den Medien nachlesen, und ich lege es jedem ans Herz, dies auch zu tun. Es handelt sich um ein wirklich erschütterndes Beispiel dafür, wie der QAnon-Wahn Opfer generiert – denn “Nathalie” hat aufgrund der suggerierten Erinnerungen Erlebnisse im Kopf, die zwar in Wirklichkeit nie stattgefunden haben, sie aber tatsächlich quälen und zu einem Missbrauchsopfer machen. Nur ist der Täter nicht der Vater, und die Täter sind auch keine imaginären Deep-State-Satanisten. Man sollte es klar benennen: Die Täter bei diesem angeblichen satanisch-rituellen Missbrauch sind diejenigen, die diesen Verschwörungsmythos verbreiten und ihn ihren Opfern einreden. Und ganz ehrlich, mich macht das unfassbar wütend. Ich schaue auf die neben mir im Gerichtssaal sitzenden Typen mit den QAnon-T-Shirts und denke: Möge euch der Blitz beim Shicen treffen, ihr gottverdammten Idi0ten.
Und meine persönlich bevorzugte Verschwörungstheorie geht so: Wer auch immer das Akronym “DUMB” geschaffen hat, war vielleicht gar kein Anhänger des Narrativs vom satanisch-rituellen Missbrauch, sondern könnte den Deppen einen Begriff untergejubelt haben, der wenigstens passend umschreibt, wie unfassbar DOOF dieser Irrglaube ist.
Hier ein Link zu einem Artikel der Basler Zeitung – immerhin hat dieses Medium seinen fatalen Fehler auch aufgearbeitet:
Der “Fall Nathalie” – die Hölle im KopfVor wenigen Wochen veröffentlichte zudem der Journalist Lukas Lippert im “Beobachter” eine Recherche zu diesem Thema, in der er auch spezifisch auf die Verbindungen zur Gruppierung um Prinz Reuss eingeht:
Die Reichsbürger und der Schweizer JournalistAbsolute Leseempfehlung für beide Artikel.