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Ein Corona-Urteil des Amtsgerichts Weimar vom 11. Januar 2021 sorgt seit Tagen für hitzige Diskussionen in ganz Deutschland. Der zuständige Richter hatte einen Mann freigesprochen, der im April 2020 nachweislich gegen die Thüringer Corona-Verordnung verstoßen hatte. Die Begründung war brisant.
Der Richter stufte das allgemeine Kontaktverbot im Lockdown des Frühjahrs 2020 als unverhältnismäßig, verfassungswidrig – und „damit nichtig“ ein. In seinem Urteil brandmarkte er die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen als „katastrophale politische Fehlentscheidung“.
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Reaktionen auf Corona-Urteil: Von "mutig" bis "Schande"
In der Öffentlichkeit stießen die Aussagen auf ein geteiltes Echo. Das zeigen auch die zahlreichen Kommentare zu dem entsprechenden FOCUS-Online-Artikel, den bis heute mehr als 1,8 Millionen User gelesen haben. Die Meinungen reichen von großer Zustimmung („sehr gutes Urteil“, „mutige Entscheidung“, „Silberstreif am Horizont“) bis hin zu schroffer Ablehnung („abstruses Willkürurteil“, „juristische Schande“, „katastrophale Fehlentscheidung“).
Mutmaßungen über Richter: Reichsbürger? Querdenker? AfD?
Manche mutmaßen, es müsse sich um einen Verschwörungstheoretiker handeln („Da hat ein Amtsrichter wohl einen Aluhut aufgesetzt“), einen Reichsbürger oder einen Querdenker. Andere verorten ihn in der rechten Szene. „Ist er gar Mitglied der AfD?“, fragt ein Leser. Ein anderer empfiehlt: „Man sollte sich diesen Richter mal etwas genauer anschauen.“
FOCUS Online hat recherchiert - und ist fündig geworden.
Der zuständige Amtsrichter Matthias Guericke ist auch privat ein Gegner von Maskenpflicht und Abstandsregeln. Um die Bestimmungen zu kippen, klagte er bereits zweimal im Eilverfahren vor dem Thüringer Oberverwaltungsgericht (OVG) in Weimar gegen den Freistaat Thüringen – und verlor, zuletzt im August 2020. Die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus.
Zwei private Klagen gegen Maskenpflicht und Abstandsregeln
Seinen ersten Versuch, Teile der Thüringer Corona-Verordnung außer Kraft zu setzen, unternahm Richter Guericke am 15. Juni 2020. Wenige Tage später wies das OVG den Vorstoß zurück.
Am 7. August 2020 stellte Guericke erneut einen Antrag („Eilt sehr! Bitte sofort vorlegen!“). Dabei ließ er sich von der Mainzer Rechtsanwältin Jessica Hamed vertreten, die sich mit diversen Klagen gegen staatliche Corona-Bestimmungen in verschiedenen Bundesländern einen Namen gemacht hat.
Auf 100 Seiten legte der Thüringer Amtsrichter dar, warum das verpflichtende Tragen einer „Mund-Nasen-Bedeckung“ bei Einkäufen, Arztbesuchen oder Bahnfahrten seiner Meinung nach einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte darstelle, ebenso die Bestimmungen zum Mindestabstand von 1,5 Metern.
Richter ist Bahn-Pendler - und sträubt sich gegen Maske
Der Staat würde seine Bürger „zum Experimentierobjekt“ degradieren und damit die Menschenwürde verletzen, behauptete der Kläger. Außerdem machte er Verstöße gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf körperliche Unversehrtheit geltend. Auch die Glaubens-, Versammlungs- und Berufsfreiheit seien durch die Maskenpflicht eingeschränkt.
In dem Antrag verwies Amtsrichter Guericke darauf, dass er persönlich unter den Bestimmungen leide. Er pendele zwischen seinem Wohnort in Halle (Saale) und seinem Arbeitsort Weimar und müsse in der Bahn jede Woche acht Stunden eine Maske tragen - selbst dann, wenn er genügend Abstand zu Mitfahrern habe.
OVG in Weimar lehnt die Eilanträge des Amtsrichters ab
Gleichwohl kämpfe er nicht nur „aus eigenem Interesse“ gegen die Corona-Schutzbestimmungen, so Guericke. Er tue das auch für alle Menschen, die in ihrer Berufstätigkeit teilweise erheblich eingeschränkt seien, etwa im Kunst- und Kulturbetrieb.
Das OVG in Weimar lehnte den Antrag des Amtsrichters ab - wie schon beim ersten Mal im Juli 2020.
In ihrem Beschluss vom 26. August 2020 verkennen die drei Richter des 3. Senats nicht, dass die Bewertungen von Wissenschaft und Politik zum neuartigen Coronavirus „kritisch zu hinterfragen sind und fortdauernder Überprüfung bedürfen“. Dies sei ein „essenzieller Teil eines lebendigen wissenschaftlichen Diskurses“ und bedinge auch, „dass abweichende Meinungen gebildet und formuliert werden“.
Richter Matthias Guericke spricht von "faschistischem Staat"
Allerdings liefen die Vorwürfe des Amtsrichters aus Weimar ins Leere, beschieden die OVG-Richter. Der Kläger messe sich selbst „eine Fachkenntnis und Erkenntnisgewissheit zu, die ersichtlich so nicht besteht“. Entschieden wiesen die Richter den Vorwurf des Amtsrichters zurück, den er auf Seite 80 seines Antrags formuliert hatte. Wörtlich heißt es dort:
„Das freie Atmen der Menschen (nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne!) bewusst einzuschränken, um bestimmte Botschaften in ihren Köpfen zu verankern, passt in einen autoritären oder faschistischen Staat, aber niemals in eine freiheitliche Demokratie.“
Das Gericht erwiderte, der Kläger verkenne mit dieser drastischen Aussage die rechtlichen und sachlichen Hintergründe der von ihm angegriffenen Regelung „vollkommen“.
OVG widerspricht: Maßnahmen nicht grundgesetzwidrig
Um Infektionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich so weit wie möglich zu vermeiden, seien „weiterhin gesamtgesellschaftliche Anstrengungen nötig“, so der Senat. Dazu zählten auch das Abstandhalten sowie „das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Situationen“. Dabei handele es sich um die „zentralen Instrumente“ der Pandemiebekämpfung. Sie seien weder unverhältnismäßig noch grundgesetzwidrig.
Amtsrichter Matthias Guericke sieht das freilich anders. Seine Anwältin Jessica Hamed sagte zu FOCUS Online: „Unseres Erachtens gab es für solch einschneidende Maßnahmen wie Maskenpflicht und insbesondere das Abstandsgebot keine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage. Wir betreiben aktuell das Hauptsacheverfahren und warten derzeit auf die Akteneinsicht und die Replik des Antragsgegners.“ Für das weitere Verfahren sei sie „durchaus optimistisch“, so Hamed.
Anwältin des Amtsrichters: Mandant kein Corona-Leugner
Außerdem stellte die Anwältin gegenüber FOCUS Online klar, dass ihr Mandant kein Corona-Leugner sei oder jemand, der die Pandemie verharmlose. Vielmehr teile er die Auffassung, dass es sich bei Covid-19 um eine „sehr ernstzunehmende Erkrankung“ handele.
Vermutlich hätte außerhalb des Thüringer Justizbetriebs niemand von den privaten Corona-Klagen des Amtsrichters aus Weimar Notiz genommen. Doch vor dem Hintergrund seines aktuellen Urteils – dem Freispruch eines Corona-Sünders und der vernichtenden Kritik an den staatlichen Schutzmaßnahmen – erscheint die Sache in einem völlig neuen Licht.
Richter sind unabhängig - doch eine spannende Frage bleibt
Es stellt sich die Frage, ob der Amtsrichter seine privaten Vorbehalte gegen die Corona-Vorkehrungen der Regierung – man könnte auch sagen: seine eigene Rechtsauffassung – als Basis genommen hat, um einen Corona-Sünder freizusprechen.
Nach Artikel 97 des Grundgesetzes sind Richter in Deutschland „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“. Dass der Richter in Weimar frei entscheiden hat, dürfte niemand ernsthaft bezweifeln.
Heikel scheint jedoch der Umstand, dass er – quasi parallel zu dem von ihm geführten Corona-Verfahren – eine private juristische Auseinandersetzung führt, in der es um eine ganz ähnliche Fragestellung geht. Noch heikler: Er weiß, dass eine höhere Instanz (das Oberverwaltungsgericht Thüringen) seine Auffassungen nicht teilt und seine Klage zumindest im Eilverfahren abgewiesen hat.
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Warum durfte der Richter überhaupt Corona-Urteil fällen?
Kann ein Richter unter diesen Umständen noch neutral entscheiden? Oder ist er durch seine eigenen privaten Klagen derart voreingenommen, dass man ihn schon als parteiisch bezeichnen muss? Und: Falls das Amtsgericht Weimar die klaren und zum Teil radikalen Rechtsauffassungen des Kollegen kannte – warum durfte er dann überhaupt Corona-Verfahren führen?
In seiner Urteilsbegründung vom 11. Januar 2021 verwendete Richter Matthias Guericke im Kern und zum Teil wortgleich dieselben Argumente, auf die er im Sommer 2020 seine eigenen Eilanträge beim OVG gestützt hatte, damit aber nicht durchgekommen war.
In seiner Privatklage nannte er Politik "blanken Hohn"
Ein Beispiel: In seiner eigenen Klage sprach er von einer „Politik der Bevormundung und Maßregelung“, die nur noch als „blanker Hohn“ anzusehen sei. Die Politik rase bei ihren Schutzmaßnahmen vor Corona unaufhörlich „in die falsche Richtung“ und sei nicht mehr in der Lage, „die Bremse zu ziehen“.
In seinem eigenen Urteil geißelte Richter Guericke die Lockdown-Maßnahmen wenige Monate später als „katastrophale politische Fehlentscheidung“.
Staatsanwaltschaft will Freispruch-Urteil nicht hinnehmen
Die Staatsanwaltschaft Erfurt will den Corona-Freispruch durch Amtsrichter Guericke nicht akzeptieren und hat Antrag auf Zulassung einer Rechtsbeschwerde eingereicht. Die „Bild“-Zeitung zitierte Behördensprecher Hannes Grünseisen am vergangenen Freitag mit dem Satz: „Das Urteil ist falsch, schlägt hohe Wellen und sollte schnell geradegerückt werden.“
Matthias Guericke, der seit 2018 in Weimar arbeitet und zuvor jahrelang Amtsrichter im hessischen Rüdesheim war, wollte sich gegenüber FOCUS Online nicht zu seinem Urteil äußern.