Für viele war es eine Überraschung. Für ihn offenbar nicht:
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Interview von Thomas Kirchner
Es gilt schon jetzt als historisches Urteil: Am Dienstag gab das Bundesverfassungsgericht den Klagen gegen das Programm der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Aufkauf von Staatsanleihen weitgehend statt. Und setzte sich damit zum ersten Mal überhaupt über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg hinweg. "Der EuGH kann das nicht stehen lassen", sagt der Bielefelder Europarechtler Franz Mayer.
SZ: Ihre erste Reaktion auf das Urteil war sehr negativ. Ist Ihr Zorn ein wenig verraucht inzwischen?
Franz Mayer: Na ja, Zorn. Letztlich war das Urteil keine Überraschung. Seit Jahren fordern interessierte Kreise, das Gericht möge nicht immer nur bellen, sondern auch mal zubeißen. Und in der mündlichen Verhandlung letztes Jahr war die schlechte Laune auf der Richterbank fast mit Händen zu greifen, das verhieß nichts Gutes. Überraschend war, dass sie ausgerechnet dieses Verfahren wählen für ein "Ultra-vires"-Verdikt, bei dem sie dem EuGH eine Kompetenzüberschreitung vorwerfen. Es war eher bei einem Fall vermutet worden, bei dem es um kirchliches Arbeitsrecht geht. Offenbar war den Richtern an Sichtbarkeit und auch internationaler Wirkung gelegen.
Glauben Sie tatsächlich, dass es den Verfassungsrichtern um ihr Ego ging, wie Sie auf Twitter schrieben?
Das persönliche Element spielt sicher eine Rolle. Denn auch wenn es im Urteil vordergründig um die EZB geht, gegen die ja geklagt wurde, richtet es sich vor allem gegen den EuGH. Es ist eine offene Kriegserklärung. Das ist verstörend. Und schwer zu verstehen. Denn die Beteiligten kennen sich, begegnen sich regelmäßig und wissen um ihre Verantwortung in diesem Machtspiel.
Die Sprache ist bemerkenswert konfrontativ. Die Richter werfen den Luxemburger Kollegen vor, bei der Kontrolle der EZB versagt zu haben. Ihr Vorgehen sei "methodisch schlechterdings nicht vertretbar", ja "objektiv willkürlich".
Ich finde das auch irritierend. Zwischen den Zeilen spürt man Wut und Aggression. Willkür? Wir hatten in Deutschland Willkürgerichte, und der EuGH ist keines, das ist abwegig. Man darf hier zwar nicht alles alltagssprachlich verstehen, aber die Richter müssten wissen, dass sie europaweit gelesen werden.
Können sie außerhalb Deutschlands überhaupt verstanden werden?
Es wird jedenfalls mit großem Interesse wahrgenommen, dass sich das höchste Gericht des größten Mitgliedstaats anmaßt, einem EuGH-Urteil nicht zu folgen. Für Deutschland ist das auch ein europapolitisches Problem, weil man mit diesem Schulmeisterton eine bestehende Wahrnehmung bestätigt. Ob das Urteil verstanden wird? Wohl nur von jenen, die die Entwicklung seit Jahren verfolgen.
Aus Polen kommen erfreute Reaktionen.
Das ist einer der verheerendsten Aspekte des Urteils: Es liefert jede Menge Material für die These, dass man sich den Verpflichtungen des Unionsrechts letztlich entziehen kann. In Warschau oder Budapest wird man die Textbausteine gerne nutzen. Man muss sich nicht an EuGH-Urteile halten, ist die Botschaft. Der Zweite Senat konnte absehen, dass das instrumentalisiert werden wird. So gesehen, fällt er den rechtsstaatlichen Kräften in diesen Ländern und auch den Richterkollegen in den Rücken.
Der EuGH muss das Urteil als Provokation auffassen. Wie wird er reagieren?
Für den EuGH ist das Urteil hochgefährlich. Er ist wie jedes Gericht darauf angewiesen, dass man ihm folgt. Und die europäische Rechtsgemeinschaft ist insofern besonders, als sie nicht von einem Nationalstaat unterlegt ist, der Bindungskräfte erzeugt. Wenn also die Rechtsbindung direkt angegriffen wird, gerät sofort das ganze Projekt in Gefahr. "Das gilt jetzt für uns nicht" - wenn einer mit dieser Haltung durchkäme, wären wir schnell beim Faustrecht, beim Recht des Stärkeren. Und wenn das aus Deutschland kommt, hat es nochmal eine besondere Bedeutung. Der EuGH muss antworten, er kann das nicht stehen lassen. Naheliegend wäre, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet.
Die ehemaligen Verfassungsrichter Roman Herzog und Dieter Grimm haben dem EuGH vorgeworfen, im Grunde seit den 1960er-Jahren regelmäßig seine Kompetenzen überschritten zu haben. Die Europa-Richter hätten sich, wenn man so will, selbst zu Herren der Verträge erklärt und die EU auf diese Weise immer weiter ausgebreitet, ohne dafür demokratisch legitimiert zu sein. Glauben Sie, dass das Bundesverfassungsgericht das auch so sieht? Dass es in Wahrheit schon lange "ausbrechende Rechtsakte" konstatiert und jetzt mal zuschlägt?
Es gibt in der Tat eine anhaltende Kritik an der Art und Weise, wie der EuGH diese europäische Rechtsgemeinschaft über die Jahrzehnte entwickelt hat. Da wurde viel Unheilvolles geschrieben, weil manche die europarechtlichen Mechanismen nicht verstehen. Richtig ist, dass weite Teile des europäischen Verfassungsrechts richterrechtlich geprägt sind. Aber es gab nach den einschlägigen großen Entscheidungen viele Konferenzen zur Änderung der Verträge, bei denen die Mitgliedstaaten, wenn sie etwas partout nicht wollten, dem EuGH sehr wohl Fesseln anlegten. Die These, dass Luxemburger Richter in Hinterzimmern die Macht übernehmen wollen, ist abwegig. Gleichwohl gilt, dass Gerichte, auch das Bundesverfassungsgericht, demokratisch unvollständig legitimiert sind. Sie sind "counter-majoritarian institutions", sie können den Mehrheitswillen brechen.
Es gibt also dieses alte Motiv, das Karlsruhe leitet?
Das "Ultra-vires"-Konzept wurde schon 1993 im Maastricht-Urteil entwickelt. Dann passierte lange nichts, und man hat es im Lissabon-Urteil 2009 reanimiert. Und nun wurde es angewendet. Es könnte noch etwas anderes dahinterstecken: Die europäische Rechtsgemeinschaft ähnelt der deutschen. Auch wir sind es gewohnt, politische Konflikte rechtlich zu kanalisieren und im Zweifel in Karlsruhe lösen zu lassen. Das wirkt befriedend. Vielleicht bewirkt das diese langjährige Irritation in Karlsruhe, dass sie es im EuGH mit einem Akteur zu tun haben, der ihnen ähnlicher ist, als es ihnen lieb ist.
Hinter all dem steckt auch die Frage, ob es ein demokratisches Defizit gibt in der EU.
Die EZB ist da ein besonderer Fall, weil auch sie zu den mehrheitsbrechenden Institutionen zählt. Das ist so gewollt, es wäre sinnlos, sie dem Parlamentsvotum zu unterstellen. Das gilt auch für Rechnungshöfe und Verfassungsgerichte. Sie sind funktional legitimiert. Deshalb ist das Bundesverfassungsgericht auf dem Holzweg, wenn es sich hier an seiner Demokratie-Rechtsprechung orientiert. Das ist fast ein Treppenwitz: Da erklärt die eine demokratisch prekär legitimierte Institution einer ebenso prekär legitimierten, wie das geht mit der Demokratie.
Aber sehen Sie ein Demokratie-Defizit in der EU?
Ich halte die These in ihrer Pauschalität für problematisch und zu simpel. Es gibt auch Probleme in der Wahrnehmung, im Verständnis, wie die europäische Demokratie funktioniert. Ein Beispiel: Die EU könnte man als eine Art Präsidialdemokratie verstehen, mit dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs als kollektivem Staatspräsidenten. Wenn das stimmt, sind die deutschen Forderungen, die Wahlen zum Europäischen Parlament nach deutschem Muster mit Spitzenkandidaten organisieren zu wollen, nicht hilfreich. Dann geht es weniger darum, parlamentarische Kontrolle zu organisieren, sondern so etwas wie Gegenmacht. Da kommt man auf ganz andere Perspektiven.
Dieter Grimm spricht von der "Legitimationskette", die in Europa nicht gewahrt sei.
In Deutschland sind alle von Böckenfördes Demokratiedeutung geprägt. Vielleicht zu sehr. Ich muss da immer an die apostolische Sukzession denken und an das bissige Wort vom Legitimationskettenfetischismus. Es ist ja doch ein sehr formales Konzept. Ob es wirklich erklärt, warum bestimmte Dinge von jenen ertragen werden, die dem Recht und der Macht unterworfen werden, darüber müsste man länger diskutieren.
Aber die Karlsruher Richter orientieren sich an dem Gedanken. Sie fragen: Ist meine Stimme als Wähler in Europa so viel wert wie in Deutschland?
Das ist das Problem. Man hat ein sehr deutsches Konzept von Demokratie und kann sich nicht vorstellen, dass es in anderen Verfassungskulturen andere Konzepte gibt. Wobei Demokratie schon in den deutschen Sozialwissenschaften sehr viel differenzierter diskutiert wird als nur mit Legitimationsketten.
Aus Karlsruhe werden noch mehr solche Urteile kommen, auch die sonstige Kritik wird nicht verebben. Sind wir nicht irgendwann an einem Punkt, wo die Politik die Verhältnisse neu ordnen sollte? Wo Europa neu begründet werden müsste?
Es spricht einiges dafür, dass die Karlsruher Rechtsprechung eine massive Bremse für die sinnvolle Fortentwicklung der europäischen Integration geworden ist. An vielen Stellen sind wir in der EU derart gefangen durch deutsche Vorgaben, dass man gar nicht mehr vorangehen mag. Mehrheitsentscheidungen im Euro-Raum sind teilweise verbarrikadiert, weil Karlsruhe das über das Demokratieprinzip an den Ewigkeitskern von Art. 79, 3 des Grundgesetzes anbindet. Dagegen kommt man mit keiner Verfassungsänderung an, nur mit einer neuen Verfassung. Vorschläge zur Änderung der EU-Verträge, etwa von Emmanuel Macron, werden gar nicht erst beantwortet, weil man Angst hat, dass man das wieder mit dem Bundesverfassungsgericht aushandeln muss und sehr schnell an die Grenze des Zulässigen käme.
Die Euro-Kritiker hierzulande freuen sich über das Urteil. Wie wird sich das politisch auswirken in Deutschland?
Ich kann die Freude nicht nachvollziehen. Alle sollten ein Interesse daran haben, dass die ökonomischen und währungspolitischen Bedingungen in Europa stimmen und dass das Recht in Europa stabil bleibt. In der Corona-Krise ist die EZB wohl der einzige Akteur, der übergreifend schnell und effektiv handeln kann. Das scheint jetzt auch dem Verfassungsgericht zu dämmern. Präsident Andreas Voßkuhle fühlte sich bei seinen einführenden Worten zur Urteilsverkündung sichtlich unwohl.