Auch die Wiener Zeitung beschäftigtg sich mit der Hoilboje, dem Hirsekönig und Co.
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Verschwörungstheorien
Wenn das Geimpfte aufgeht
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Auf Corona-Demos und im Netz vermischen sich Waldorf-Esoteriker mit Rechtsextremen. Oft endet die Impfskepsis bei antisemitischen Weltverschwörungs-Ideologien.
vom 26.05.2020, 12:00 Uhr | Update: 26.05.2020, 12:28 Uhr
Zuerst werden sie entführt. Dann werden sie in unterirdische Höhlen gebracht. In weit verzweigten Tunnelsystemen werden die Kinder gefangen gehalten und gefoltert, um ihnen einen durch ihre Angst entstehenden Stoff namens Adrenochrom abzuzapfen. Warum? Damit die reichen und mächtigen Eliten dieser Erde daraus – streng geheim und unter Deckung höchster Instanzen – einen Verjüngungstrank herstellen können, der ihr Leben verlängert.
Eine haarsträubend absurde Geschichte? Gefährlicher, verschwörungstheoretischer Unfug? Nicht für Xavier Naidoo. Der deutsche Popstar sorgte für große Aufmerksamkeit in sozialen Medien und Kopfschütteln unter Wissenschaftlern, als er die Erzählung vom Adrenochrom in einem Internet-Video verbreitete. Naidoo, Anhänger der Idee, die Welt sei eine Scheibe, ließ die mehr als 70.000 Abonnenten seiner Telegram-Gruppe kürzlich etwas Weiteres sehr Aufsehenerregendes wissen: In langen Tunneln unter Europa würden sich aktuell brutale Schlachten "zwischen Robotern und Klonen" zutragen.
Adrenochrom gibt es übrigens tatsächlich. Aber weder hat diese chemische Verbindung – ein Stoffwechselprodukt des Adrenalins – verjüngende Wirkung, noch müssen zur Gewinnung Kinder gefoltert werden. Der Stoff kann im Labor hergestellt und mit wenigen Klicks in Online-Shops gekauft werden. Die Geschichte ist also mit wenigen Klicks als völlig unlogisch identifizierbar. Anders gesagt: Sie ist offensichtlicher Unsinn.
Dennoch erleben abstruse Verschwörungserzählungen wie diese aktuell eine erstaunliche Konjunktur. Auf Demos gegen Corona-Maßnahmen der Regierungen vermischen sich von Stuttgart bis Wien Impfgegner und anthroposophisch geprägte Esoteriker mit bekannten Rechtsextremen. Seite an Seite mit ihnen stehen tatsächlich "besorgte Bürger": die Lokalbetreiberin, die die Umsatzausfälle in ihrer Existenz bedrohen. Der Alleinerziehende, der im Homeoffice allmählich die Nerven verliert. Wie passt das alles zusammen?
"Populistische Protestbewegung"
Für Michael Butter, Amerikanistik-Professor an der Uni Tübingen und Autor des Standardwerks "Nichts ist, wie es scheint" über Verschwörungstheorien, ist die Buntheit der gemeinsam Demonstrierenden keineswegs ein Widerspruch. Es handle sich um eine typische populistische Protestbewegung, wie man sie in den vergangenen Jahren etwa auch bei den Pegida-Protesten erlebt habe, sagt er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Und populistische Bewegungen seien seit jeher gut darin, unterschiedlichste Gruppen zumindest zeitweise in der Praxis des Protests zu vereinen.
Auch im Netz haben sich längst soziale Milieus vermischt, zwischen denen man einst nicht viele Gemeinsamkeiten verortet hätte. Die Überschneidungen mit Corona-Demonstranten sind dafür umso augenscheinlicher. In anonym geposteten Youtube-Videos, im Messengerdienst Telegram, in einschlägigen Internetforen wie 4chan, in denen sich wiederholt Attentäter radikalisierten, werden Verschwörungsmythen massenhaft geteilt – und von immer mehr Prominenten weiterverbreitet.
Pop-Sänger Naidoo, seit Jahren notorischer Verschwörungsideologe, bereits 2016 Redner bei einer Kundgebung der Reichsbürger-Bewegung und regelmäßig auffällig mit rechtspopulistischen Statements, ist bei weitem nicht die einzige öffentliche Figur, die immer kruderen Mythen anheimfällt. Der in Deutschland prominente Vegankoch Attila Hildmann schwang sich in den vergangenen Wochen zu einem der Wortführer der Anti-Corona Proteste auf. Er warf der deutschen Bundesregierung vor, unter dem Deckmantel von Corona eine Diktatur errichten zu wollen. Microsoft-Gründer Bill Gates, der mittels seiner milliardenschweren Privatstiftung in die Entwicklung eines Corona-Impfstoffes investiert, wolle den Menschen statt des Impfstoffs in Wahrheit Microchips einpflanzen, um sie danach zu kontrollieren – und sei laut Hildmann zudem "ein Satanist".
Auch der Rapper Sido ließ in einem Interview kürzlich kryptische Referenzen an bekannte Verschwörungserzählungen fallen. Und die deutsche Star-Leichtathletin Alexandra Wester sorgte mit einem emotional vorgetragenen Video-Monolog auf Instagram für Verblüffung, in dem sie nicht nur von Impfzwang sprach, sondern auch gleich von einer angeblich pädophilen Machtelite, die den "Großteil der Welt" beherrsche.
Das Problem an alldem: Die Prominenten verfügen über enorme Reichweiten auf ihren Social-Media-Kanälen und fungieren so als Hyper-Multiplikatoren für gefährliche Verschwörungsmythen, die ungefiltert ein Millionenpublikum erreichen. Das bekannte Gesicht und der prominente Name verleihen den wirren Erzählungen bei wachsenden Teilen ihres Publikums den Anschein von Legitimation.
Zukunftsängste und Kontrollverlust
Krisenzeiten – ob persönliche oder gesellschaftliche –, sind Zeiten der Unsicherheit. Und damit für viele Menschen Zeiten der Suche. Nach Antworten, nach Orientierung, nach dem Gefühl von Sicherheit. So wie die persönliche Lebenskrise anfälliger für die Fallen pseudomedizinischer Scharlatane, Sekten-Gurus oder extremistischer Ideologien macht, so birgt die kollektive Corona-Krise ähnliche Gefahren – und trägt damit zur Verbreitung von Verschwörungserzählungen bei.
"Die Corona-Zeit ist geprägt von Zukunftsängsten und Kontrollverlust", sagt Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen. Für den Druck, den diese Situation aufbaue, sei "die Verschwörungstheorie ein Ventil". Und sie gebe über einfache "Erklärungen" ein gewisses Gefühl von Kontrolle zurück.
Warum aber vereint gerade die Impfskepsis derart viele Milieus – und bietet den idealen Nährboden für umfassende Weltverschwörungs-Fantasien inklusive hochgefährlicher Antisemitismen? Das habe viel mit der unmittelbaren Betroffenheit zu tun, meint Experte Butter. Während die Frage, ob 9/11 in Wahrheit eine gigantische Verschwörung gewesen sei, für das eigene Leben keinen unmittelbaren Unterschied mache, sei das bei Verschwörungserzählungen rund ums Impfen anders, weil sie ein Eingriff in den eigenen Körper seien. "Eine Impfung ist etwas Invasives", sagt auch Psychologin Schiesser. "Und weil sich etwa alle Eltern damit auseinandersetzen müssen, erreicht man mit dem Thema auch Menschen, die noch nie etwas mit Verschwörungstheorien zu tun hatten."
Hinzu kommt: Wer Geschichten und Gerüchte zu Impfungen ungeprüft übernimmt; wer auch bei Alternativmedizin, Homöopathie und Esoterik nicht empfänglich für die strikten Verifizierungs- und Falsifizierungsprinzipien der Wissenschaft ist; wer stattdessen subjektive Erfahrungen oder den eigenen Glauben zum Gradmesser absoluter Wahrheiten macht: der neigt auch eher dazu, schein-plausible Verschwörungsideen ohne Realitätscheck zu übernehmen.
Und während einschlägige Online-Quellen Angst vor dem Einimpfen von Mikrochips schüren, impft sich bei deren Konsumenten schleichend etwas ganz anderes ein: Die Idee, dass verschworene Mächte die ganze Welt beherrschen. Vom Impfen kommt man da schnell zu Bill Gates. Und von ihm zur großen Weltverschwörung, Freimaurern, satanistische Kulten, pädophile Netzwerke, generell allerhand grausame Vorgänge mit unschuldigen Kindern. Es sind die handelsübliche Stoffe, aus dem die Mythen gewebt werden. Nicht fehlen dürfen auch Bilderberger und Illuminaten. Und auffällig oft fällt der Name Rothschild.
Rechtsextreme Codes
Antisemitismus liegt seit jeher im Kern von Verschwörungsmythen. Meist ist kein langes Kratzen an der Oberfläche nötig, bis die altbekannten rechtsextremen Codes von der "Hochfinanz" oder dem angeblichen "Einfluss der US-Ostküste" auf die ganze Welt auftauchen. Ein Narrativ, das praktisch allen Verschwörungsideologien gemein ist: Kleine Eliten lenken im Verborgenen die Geschicke der Welt.
Das "Geheimwissen", das die Verschwörungstheorien anbieten, das Gefühl, etwas großes Verborgenes entdeckt zu haben und nun zu den "Wissenden" zu zählen, macht sie so attraktiv. So wie die einfachen "Erklärungen" für die schier unüberschaubare Komplexität der Welt.
Viele Verschwörungstheorien richten sich auch auf die Medien. Die mächtigen Eliten hätten die "Mainstreammedien" gekauft, kontrollierten seither, was berichtet werde und unterdrückten alle Informationen, die ihren Eigeninteressen widerstrebten.
Gesunde, kritische Skepsis gegenüber Medien gehört zur Grundausstattung wachsamer Demokratien. Schließlich ist auch der Mediensektor tatsächlich nicht frei von Interessen, speziell rund ums Anzeigengeschäft können mitunter auch jene von Dritten eine Rolle spielen, und gerade Boulevardmedien fahren in diesem Dunstkreis immer wieder (politische) Kampagnen. Zudem machen Journalistinnen und Journalisten wie alle Berufsgruppen Fehler: Nicht alles, was in der Zeitung steht, muss immer stimmen.
Verblüffend ist allerdings: Während in einschlägigen Kreisen die fixe Idee herrscht, klassische Medien würden so pauschal wie fremdgesteuert Lügen verbreiten und Informationen unterdrücken, wird anonym geposteten Youtube-Videos und Telegram-Pamphleten bedingungslos vertraut. Wie lässt sich dieser irrationale Widerspruch erklären?
"Man unterstellt den Mächtigen, dass sie alle Bereiche des öffentlichen Lebens kontrollieren und für ihre Zwecke einspannen", sagt Butter. "In dieser Sichtweise gehören Medien als diejenigen, die die öffentliche Meinung beeinflussen, natürlich dazu." Wem Menschen vertrauten und wem nicht, ist zudem nicht in erster Linie von Logik gesteuert, sagt Schiesser.
Wann man mit Fakten weiterkommt
Ein Problem an Verschwörungstheorien: Sie arbeiten mit Versatzstücken aus der Realität. Und vermischen sie mit Fiktion, ideologischen Wunschvorstellungen, ungeprüften Falschinformationen und blankem Unsinn. Das macht es schwer, ihnen beizukommen.
In seinem Buch "Nichts ist, wie es scheint" setzt sich Butter mit Merkmalen auseinander, die reale Verschwörungsfälle von irrealen Verschwörungsmythen unterscheidet. Während etwa die Watergate-Affäre trotz der massiven politischen Tragweite in begrenzter räumlicher wie zeitlicher Dimension stattfand und von einem kleinen, überschaubaren Täterkreis geplant wurde, ist ein Kennzeichen fiktionaler Verschwörungsmythen, dass sie als zeitlich wie räumlich quasi allumfassend erzählt werden. Und mit einem völlig unüberschaubaren Kreis von Verantwortlichen: Alle Reichen und Mächtigen dieser Erde, ob Konzernchefs, Politikerinnen, Banker oder Medienmogule, stecken unter einer Decke. Und verschwören sich für ihre gemeinsamen Interessen gegen den Rest der Menschheit.
Dass es nicht nur völlig unplausibel ist, dass all diese "Eliten" die gleichen Interessen haben könnten, sondern deren Interessen einander offenkundig in vielen Bereichen diametral entgegenstreben, tut der Popularität der flockigen Erzählungen allerdings keinen Abbruch. "Wenn eine Person von einer Verschwörungstheorie bereits fest überzeugt ist, kommt man mit Fakten in der Regel nicht weiter", sagt Butter.
Überzeugte Verschwörungstheoretiker glauben nach dem Vorbringen von Gegenargumenten sogar noch fester daran. Jene, die erst mit den Mythen in Berührung gekommen sind, sind laut dem Experten dagegen häufig für Fakten empfänglich. Im Gegensatz zu Verschwörungstheorien wie 9/11, über die die meisten Menschen wenig wissen, sei die Argumentation im Zusammenhang mit Corona-Mythen vergleichsweise einfacher. "Wir sind aufgrund der Dauerpräsenz des Themas aktuell so voll mit Informationen", meint Butter, "dass es uns schlicht leichter fällt, auf Falschinformationen hinzuweisen".