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Und so vergeht die Zeit.
Und weil der Anwalt Lober auch von Filmen erzählt, die er mal gesehen hat, den „Totmacher“ über den Serienmörder Fritz Haarmann oder den Actionfilm „London has fallen“, die wohl vor allem in des Anwalts Assoziationswelt etwas mit diesem Prozess zu tun haben, vergeht noch mehr Zeit.
„Es wird jetzt sehr spekulativ“, sagt der Vorsitzende Richter schließlich, Jürgen Bonk. Was für diesen überaus höflichen Mann schon eine der schärferen Formen der Missbilligung ist.
„Ich unterbreche Sie nur ungern“, so beginnt der Vorsitzende manchmal seine Interventionen. Nur dass man den Verdacht hat, dass ein wenig mehr Freude an der Unterbrechung dem Prozess möglicherweise ganz guttäte.
Es ist der 65. Verhandlungstag.
Neuer Gerichtssaal für den Reuß-Prozess
Ein Jahr ist es nun her, dass dieser größte Staatsschutzprozess der vergangenen Jahrzehnte mit enormer öffentlicher Aufmerksamkeit begann. Unter anderem sollen die Verschwörer die Erstürmung des Reichstags geplant haben, eine neue Regierung, die sie „Rat“ nannten, 360 Waffen wurden bei ihnen gefunden, jede Menge Munition.
So viele Angeklagte gibt es in diesem Komplex, insgesamt 26, dass die mutmaßliche Verschwörergruppe um den 73-jährigen Prinz Reuß auf drei Gerichte aufgeteilt wurde. In Stuttgart muss sich seitdem der „militärische Arm“ verantworten, in München eine Runde von teils skurrilen Gestalten, die als mögliche „Minister“ galten, Hilde L. zum Beispiel, genannt „Astro-Hilde“. In Frankfurt am Main geht es um diejenigen, die die Anklage für die Führungsriege hält.
Sogar einen neuen Gerichtssaal hat man hier für dieses Verfahren errichtet, eine Leichtbauhalle im Stadtteil Sossenheim. Mitten in einem Industriegebiet, gesichert mit Nato-Draht.
„Es ist gut, dass sich ab heute auch die mutmaßlichen Rädelsführer der bislang größten Terrorgruppe von ‚Reichsbürgern‘ vor Gericht verantworten müssen", sagte die damalige Bundesinnenministerin, die Sozialdemokratin Nancy Faeser, zum Prozessbeginn - und legte sich fest: „Es handelt sich nicht um harmlose Spinner, sondern um gefährliche Terrorverdächtige.“
Nimmt man diesen Satz zum Maßstab, muss man nach einem Jahr sagen: harmlos? Wohl kaum. Spinner? Durchaus. Gefährliche Terrorverdächtige? Zu diesem Kern der Vorwürfe ist das Gericht bislang kaum vorgedrungen.
Was in diesem ersten Jahr geschah, ist im Groben rasch erzählt. Einige, wie Prinz Reuß, seine Lebensgefährtin Vitalia B. oder der Oberst a.D. Maximilian Eder, haben über ihr Leben berichtet. Teils, wenn sie so viel erzählen haben wie der Afghanistan-Veteran, Elitesoldat und Entwicklungshelfer Eder, tagelang.
Eine Geheimmacht namens „Allianz“
Die Ex-AfD-Abgeordnete Malsack-Winkemann, früher selbst Richterin in Berlin, hat auch über die Vorwürfe gesprochen. Tagelang. Hat eingeräumt, dass sie an einen „Systemwechsel“ glaubte, an ein großes „Aufräumen“, das nötig sei. Doch das habe eben die „Allianz“ erledigen sollen: Eine diffuse auswärtige Macht, Russen und Amerikaner, die Deutschland besetzen und denen sie sich dann als Regierung andienen wollten.
Das ist hier die Linie der Verteidigung. Sie, die „Patriotische Union“, wie sich nannten, hätten doch gar nichts tun wollen. Sondern sich nur bereitgehalten für das Eingreifen der stark an den QAnon-Verschwörungsglauben erinnernden mysteriösen Macht.
Auch einen ersten Belastungszeugen gab es. Einen Mithäftling des Angeklagten Hans-Joachim H. Der Umsturz habe blutig verlaufen sollen, habe der ihm gesagt. Und dass die Gruppe auch einen Angriff auf den Bundestag geplant habe.
Nur stellte sich auch heraus, dass dieser Häftling auch schon früher über andere Mitinsassen ausgesagt hatte. „Knastzeuge“, so heißen Männer wie er im Justizjargon, denen man mit großer Vorsicht begegnet. Zumal dieser sich als Akademiker darstellte, aber dann zugeben musste, dass er nicht mal Abitur hatte.
Von den Journalistinnen und Journalisten, die anfangs in den Zuschauerraum drängten, ist fast niemand mehr da - im Gegensatz zu den, so muss man sie wohl nennen, Eder-Groupies. Frauen, die sich an die Sicherheitsscheibe stellen, die die Zuschauer vom Gerichtssaal trennt, und mit ihren Händen Herzen formen, sobald der frühere Oberst von Justizbeamten hereingeführt wird.
Erst 13 Zeugen gehört - von 260
Die Frauen tragen Hoodies mit Aufschrift. „Einen Wolf interessiert nicht, was Schafe über ihn denken“, steht einmal darauf. Und am nächsten Tag: „Wir müssen wieder friedenstüchtig werden.“ Nicht alles passt hier gut zusammen.
So gehen die Tage dahin. 260 Zeugen sind in der Anklage aufgeführt. Von ihnen hat das Gericht bislang 13 angehört. Gerade mal 13.
Wie lange dieser Prozess dauern soll, dazu wagt hier im Moment niemand eine Prognose. Seit zweieinhalb Jahren sind die Angeklagten in Untersuchungshaft.
Für die Dauer gibt es Gründe. Die Ermittlungsakten umfassen mehrere hunderttausend Seiten, auch die Anklage hat noch 700. Es gibt nicht die eine Tat aufzuklären, sondern die Existenz einer Vereinigung mit gemeinsamen Zielen. Das ist ein riesiges Puzzle. Und manches bleibt Interpretation.
Das zeigt auch die Befragung des ehemaligen Generalleutnants, des zweiten Belastungszeugen. L., so heißt er, ist eine Art Musterzeuge: Ruhig, sachlich, um Genauigkeit bemüht.
Pädophilie im Regierungsbunker?
L. hat Eder im Oktober 2021, gut ein Jahr vor der Festnahme der Gruppe, in einem Biergarten in Gilching bei München getroffen. Dort, so L., habe Eder ihn, den alten Kameraden, anwerben wollen. Eder sei überzeugt gewesen, dass im ehemaligen Regierungsbunker im Ahrtal Kinder sexuell missbraucht würden - und dass die Bundesregierung dahinterstecke. Vor allem Jens Spahn, der damalige Gesundheitsminister, „muss weg“, habe Eder gesagt.
Es muss ein befremdliches Gespräch gewesen sein. So befremdlich, dass L. einige Tage später den MAD warnt und auf Eder hinweist. „Für mich war klar, dass es um Gewalt geht. Sonst hätte ich mich nicht an den MAD gewandt.“ So sagt es L. heute.
Nur soll L. damals beim MAD und später beim Bundeskriminalamt etwas anders geklungen haben. Dass Eder nicht gesagt habe, man müsse Spahn beseitigen, habe er dort erklärt. Was ein wichtiger Unterschied wäre.
Erinnerung ist keine statische Größe. Das kann ein Problem sein, gerade in Prozessen, über die viel berichtet wird. Gut möglich, dass L. seinen alten Kameraden damals nicht über Gebühr belasten wollte. Möglich ist aber auch, dass ihm die Sätze Eders heute, nach all den Berichten über die „gefährlichen Terrorverdächtigen“, brisanter vorkommen als damals.
So begleitet, bislang jedenfalls, die Uneindeutigkeit diesen Prozess. Und der gelegentlich übermäßige Sendungsdrang mancher Verteidiger und Angeklagter, gegen den hier niemand so recht ein Mittel hat.
Selfies vom Putschisten-Ausflug
Es ist Tag 66 in diesem Prozess, da geht es um Fotos, die Eder gemacht hat, während Malsack-Winkemann ihn und einen weiteren Angeklagten im August 21 durch den Reichstag geführt hat. Die Gruppe soll die Besetzung des Parlaments geplant haben, auch das wirft die Anklage ihr vor, die Fotos sollen ein Hinweis darauf sein.
Zu sehen sind leere Gänge. Türen. Flucht- und Rettungspläne. Und dann zehn Fotos vor dem Brandenburger Tor im Abendlicht, ein Putschisten-Selfie vom Ausflug in die Hauptstadt. Man kann die Fotos als Beleg für die Vorbereitungen sehen, als Auskundschaften. Oder als Zeichen des Dilettantismus, sich noch gleich selbst mit bei den Beweismitteln zu verewigen.
Die frühere AfD-Abgeordnete jedenfalls nimmt sie als gleich als willkommene Gelegenheit, dem Gericht noch mal ein bisschen vom Reichstag zu erzählen. Vom Anhörungssaal, den sie sehr mochte, „schön mit Blick auf die Spree“. Und von einem der Restaurants, „vom Preis-Leistungs-Verhältnis das beste, Rindersteak für 8,90 Euro“. Sie scheint wirklich gerne Abgeordnete gewesen zu sein.
Parade der Gekränkten
So ist dieses Gericht auch eine Parade der Gekränkten. Malsack-Winkemann, die ihre Partei nicht mehr aufstellte. Eder, der keine so große Karriere gemacht hat wie manche seiner alten Kameraden. Prinz Reuß, der den Grundstücken nachtrauerte, die seine Familie einst besaß, dem alten Reichtum.
Und es gehört ganz sicher zur Gefahr dieses Prozesses, dass all das Kuriose und Bizarre den Ernst der Vorwürfe überstrahlt. Noch in diesem Sommer will Prinz Reuß selbst umfassend aussagen. Auch das wird darüber entscheiden, wie dieser Prozess weitergeht.
„Wenn man so einen Reichstagssturm macht“, fragt einer der Verteidiger noch den Zeugen L., den früheren Generalleutnant, „nach Ihrer Erfahrung: Wie ist da die Planung?“ Auch eine bemerkenswerte Frage natürlich. Aber sollte ihn diese Frage irritieren - man merkt es ihm nicht an.
„Wenn Sie mit 20 Mann gut bewaffnet sind“, antwortet er, „dann können Sie mit 20 Mann sehr viel kontrollieren.“