Spoiler
1. Akt: Die Show
Dimitri M. steht im Saal E.122 des Düsseldorfer Landgerichts. Er trägt eine schwarze Brille, ein hellblaues Hemd und einen dunkelblauen Anzug. Seine kurzen Haare sind von einer Kippa mit Davidstern-Muster bedeckt, um seinen Hals hängt eine Davidstern-Kette. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Talmud. Sein Anwalt hatte bereits vor Verhandlungsbeginn angekündigt, dass M. lieber stehen möchte. Egal worum es geht, der Angeklagte sagt nur den einzigen, immer gleichen Satz: „Ich höre Sie, aber ich verstehe Sie nicht.“
M. ist 52 Jahre alt, ein in Russland geborener deutscher Staatsbürger, seit 28 Jahren Düsseldorfer. Er arbeitet als Kommissionär im Schichtbetrieb. Das sind die Fakten für all jene, die anders als er die Bundesrepublik Deutschland für einen rechtmäßig existierenden Staat und nicht für eine illegale Nazikolonie halten. In den Briefen, für die M. vor der Staatsschutzkammer angeklagt wird, stellt er sich selbst völlig anders vor. Dort ist er ein „lebendiger Mann aus Fleisch und Blut“, der in der Nähe von Düsseldorf, aber außerhalb der Bundesrepublik Deutschland wohnt und als Hoher Kommissar und Militärattaché der UDSSR im Deutschen Reich arbeitet. Diese Briefe schickte er beispielsweise an alle Generalstaatsanwälte des Landes oder stellte sie ins Internet. In ihnen drohte er, beleidigte und befahl die Verhaftung aller „Mitarbeiter“ des nach wie vor existierenden Dritten Reichs. Über sie solle dann ein „Nürnberger Tribunal II“ richten.
Die Verhandlung bleibt an diesem ersten Tag zunächst zäh. Der Richter versucht es immer wieder mit Fragen. Ob sich M. zu seiner Person äußern wolle? Zur Sache? Zu seiner Arbeitsstelle? „Ich höre Sie, aber ich verstehe Sie nicht.“ Das ändert sich erst, als der Richter fast aufgibt. Ein letztes Mal hatte er M. erklärt, dass das Gericht Informationen zu seinen Vermögensverhältnissen benötige. Wenn er nicht antworte, müsse eben der Staatsschutz bei seinem Arbeitgeber nachfragen. Ob er nicht doch etwas sagen möchte? „Ja.“
2. Akt: Die Krise
Es ist nicht so, dass M. die Informationen nun leicht über die Lippen kämen. Wann immer ihm eine Frage gestellt wird, beugt er sich bedächtig nach vorne, spricht kurz in das Mikrofon, das auf seine Sitzhöhe eingestellt ist, und stellt sich dann wieder aufrecht hin. Er nennt seinen Stundenlohn, schätzt seine Miete, spricht von seinen erwachsenen Töchtern, seinem Arbeitgeber und der Trinkhalle, mit der er einst in die Privatinsolvenz gehen musste.
Seine zwei Leben waren bei M. jahrelang in zwei Youtube-Kanälen zu beobachten. Der eine ist bis heute unter seinem Namen zu finden. Er zeigt ihn, wie er Gitarre spielt und dazu auf Russisch singt. Mehr als 1000 Videos, die immerhin mehr als 10.000 Nutzer von einem Abonnement überzeugt haben. Der zweite ist nicht mehr online, konnte aber 2020 vom Polizeipräsidium Düsseldorf begutachtet werden. Dort hieß M. fast genauso, nur jeweils mit einem Doppelpunkt vor Vor- und Nachnamen. Das Profilbild zeigte eine Hakenkreuzfahne, die hinter einer EU-Fahne zum Vorschein kam. In der Beschreibung stand: „Die BRD ist kein Staat, und schon gar nicht Deutschland.“
Nach seinem plötzlichen Antworterfolg ruft der Richter spontan die Frau des Angeklagten aus dem Zuschauerraum in den Zeugenstand. Er erfährt von ihr deutlich mehr zu Arbeit, Verdienst, Zusammenleben und Familie, aber nichts zur Ideologie des Angeklagten. Aus einem einfachen Grund: „Das habe ich gerade zum ersten Mal gesehen“, sagt sie über die Dokumente, die im Gerichtssaal gezeigt wurden. Nie haben sie über Politik geredet. Zumindest so lange, bis ihr Haus durchsucht und ihr Mann mit Haftbefehl von der Polizei mitgenommen wurde, weil er sich dem eigentlichen Prozessbeginn im Herbst entzogen hatte. „Ich habe nur ein paar Briefe verschickt. Ich habe keinem geschadet“, habe er auf ihre Nachfrage geantwortet. „Er ist ein sehr liebenswerter Mann, ein guter Ehemann. Ein Mensch, der keiner Fliege was zuleide tun kann“, sagt sie dann noch. Und, dass sie seit 30 Jahren keine Kontakte mehr nach Russland besäßen. „Ich weiß nur, dass er die jetzige Regierung vollkommen missbilligt und ablehnt.“
Vor neun Jahren ist in der „Zeit“ ein großer Text erschienen. Er handelt von den russischen Rechtsextremisten der Nationalen Befreiungsbewegung NOD und ihrer ideologischen Nähe zu deutschen Reichsbürgern. Er beginnt mit dem Namen des Angeklagten. Der soll aus seiner Düsseldorfer Wohnung Spendensammlungen für prorussische Soldaten im Donbass organisiert haben. Auf der Internetseite der Rechtsextremisten wird M. damals „Redakteur“ für Deutschland genannt. Kern der NOD-Ideologie ist es, dass Russland mit dem Ende der Sowjetunion seine Souveränität verloren habe. Es ist ungefähr das, was viele Reichsbürger in Deutschland über das Ende des Deutschen Reiches denken. M. wird damals von der ZEIT angefragt, ob er Geld von der russischen Regierung erhalte. Er verneint es.
Im Internet finden sich aus dieser Zeit auch Blogeinträge, die sich mit dem „russischen U-Boot“ Dimitri M. auseinandersetzen. Es geht um seine Demo-Teilnahmen, seine Aktivitäten im Internet. M. ist in den sozialen Medien aktiv, betreibt später eine eigene Website, die sich an seine „Rolle“ als sowjetischer Militärattaché anlehnt. Ein anderer Blog schreibt über sein Engagement bei den Republikanern. Doch in seiner Familie will davon nie jemand etwas mitbekommen haben. Er hat seine politische Gesinnung angeblich über all die Jahre geheim gehalten.
. Akt: Die Läuterung
Eine Woche später betritt ein anderer Mensch den Gerichtssaal. Optisch ist er der gleiche. Die Kleidung, die Kippa, die Kette – alles wie zuvor. Doch M. setzt sich hin. Und er möchte aussagen. „Ich habe mich intensiv mit meiner Frau ausgesprochen und glaube, dass ich nicht richtig lag.“ Er habe aus Angst vor einem Dritten Weltkrieg gehandelt. Die verschickten Unterlagen habe er aus dem Internet herauskopiert und als „fast historisch belegt“ angesehen. Die Menschen in seinem Umfeld habe er mit seinen Entdeckungen nicht belasten wollen. Heute hält er das für einen Fehler.
M. ist nicht der erste Angeklagte, der vor Gericht Reue und Einsicht zeigt. Und er wäre auch nicht der Erste, der dies aus Eigennutz tut, um ein sanfteres Urteil herauszuholen. Doch etwas an diesem Fall ist anders. Als ihm sein Haftbefehl verlesen wurde, soll M. nur in der dritten Person von sich gesprochen haben. Noch vor einer Woche stand er selbstbewusst im Gerichtssaal, den Blick nach vorne gerichtet, und sagte nur den einen, vorbereiteten Satz, als ginge ihn das alles gar nichts an. Nun sitzt er an seinem Platz, antwortet auf jede Frage, die ihm der Richter oder der Sachverständige stellen. Seine Körperhaltung ist schüchtern, beinahe eingeschüchtert. Es wirkt, als sei eine jahrelange Mauer gebröckelt.
Es geht nun viel um das „Warum“. M. erzählt von seiner Trinkhalle, die ihn 2008 in die Privatinsolvenz brachte, vom Tod seines Vaters 2012 und der Angst, die er danach verspürte. „Ich habe später auch verstanden, dass es die ersten Anzeichen der Krise waren.“ Irgendwann habe sich die Angst auf den politischen Zustand des Landes übertragen. Auf den drohenden Weltkrieg und auf die Naziherrschaft, die anscheinend noch anhalte und für deren Ende er sich nun einsetzen musste. Er begann sich im Internet immer tiefer einzulesen, fuhr zu Reichsbürgertreffen nach Berlin, die er seiner Frau als Kurzurlaub verkaufte, und begann bald selbst Schriftstücke zu veröffentlichen und durchs Land zu schicken.
Das Besondere an M. ist, dass er offenbar Privatleben und Reichsbürgertum sorgfältig trennte. Er trat weiterhin mit seiner Gitarre auf und engagierte sich ehrenamtlich in der Jugendarbeit. Er blieb der gleiche Vater und Ehemann wie zuvor. Und vor allem: Er versuchte offenbar niemanden außerhalb der Szene persönlich von seiner Ideologie zu überzeugen. Über Politik, so wirkt es, redete er im Alltag nicht. Er schrieb sie stattdessen in die Welt hinaus.
4. Akt: Der Kampf
All das, wofür M. in diesem Verfahren angeklagt wird, ist im Jahr 2019 entstanden. Lange nach seiner Privatinsolvenz. Da gibt es dieses Schreiben an alle Generalstaatsanwälte mit den Nazi-Vorwürfen und beinahe jeder denkbaren strafrechtlichen Unterstellung an die Vertreter des von ihm abgelehnten deutschen Staates, von Völkermord über Menschenhandel bis hin zu Kindesmissbrauch. Es gibt das „Affidavit der Wahrheit“, das er ins Internet gestellt hat, in dem er die Staatsauflösung fordert und 129 Seiten lang wirre Rechtsbestimmungen und Vorwürfe aneinanderreiht. Und es gibt die Briefe mit Beleidigungen, die er an drei Polizeibeamte aus Rotenburg (Wümme) geschickt hat. Einer niedersächsischen Kleinstadt bei Bremen, die ironischerweise schon 1933 eine Hochburg der NSDAP und des deutschen Antisemitismus war.
Diese drei Polizeibeamten – einer von ihnen ist heute Bürgermeister der Kleinstadt – werden per Video in den zweiten Verhandlungstag geschaltet. Sie alle erinnern sich noch an die Schreiben, die sie vor mehr als vier Jahren erhalten haben, kurz nach der Festnahme einer bekannten Reichsbürgerin. Dass er darin als „Pädophiler“ und „korrupter Beamter“ beleidigt wurde, habe ihn „zutiefst betroffen“, sagt einer der Zeugen. Ein weiterer spricht von „ganz normalem Reichsbürgergeschwafel“, nur die direkten Angriffe habe er nicht lustig gefunden. Wie explizit M. sie in den Briefen beleidigt habe, ist allen in Erinnerung geblieben. Am Ende jeder Zeugenaussage ergreift der Angeklagte das Wort. „Ich möchte mich ausdrücklich dafür entschuldigen“, sagt er. Er habe niemanden verletzten wollen.
Wer einen genaueren Blick auf diese Schmähschreiben wirft, bemerkt zwischen all den Beleidigungen sich scheinbar widersprechende ideologische Versatzstücke. Mal argumentiert M. im klassischen Reichsbürgerduktus, mal religiös und mal so, als ob er sich gegen Reichsbürger auf Staatsseite zur Wehr setzen müsse. Mit seinen Schriftstücken hat er es irgendwann sogar geschafft, bei „staatenlos.info“ rauszufliegen, der Seite eines Verschwörungstheoretikers und Ex-NPD-Politikers, der irgendwann M. Unterlassungserklärungen schickte. Der antwortete, dass die Person Dimitri M. nicht existiere, sondern nur die „Nicht-Person“, die vieles weitere nicht sei, auch kein Zombie.
Es sind solche Äußerungen, die im Prozess die Frage aufwerfen, ob es sich bei M. nicht auch um einen Fall für den psychiatrischen Sachverständigen handelt. Doch M. geht selbst auf Distanz zu so manchem, was er schriftlich von sich gegeben hatte. Bei dem Zombie-Zitat muss er selbst kurz schmunzeln, und dass er kein Militärangehöriger der UDSSR ist, so sagt er, habe er immer gewusst. „Ich habe mir selber diesen Titel gegeben, damit ich mehr erreichen kann.“ Er habe das Gefühl gehabt, mehr tun zu müssen – gegen das angeblich weiterexistierende Dritte Reich und den drohenden Weltkrieg.
Auch um den jüdischen Glauben geht es, den M. im Saal so offensiv zur Schau stellt. Er ist der Einzige in seiner Familie, der dieser Religion anhängt. Er praktiziere ihn auch nicht wirklich, es gehe „mehr ums Lesen“, sagt er vor Gericht. Vor ungefähr fünf Jahren habe er zum Glauben gefunden. Mit seiner Aversion gegenüber dem angeblich fortbestehenden Dritten Reich habe das nichts zu tun. Seine Frau verweigert zu dieser Frage die Aussage.
5. Akt: Das Urteil
Auf die Verwandlung des Angeklagten folgt die Verwandlung des Gerichtssaals. Statt wie zuvor in großen Sälen mit getrennten Eingängen und einer Trennscheibe zwischen Zuschauern und Prozessbeteiligten verhandelt die Kammer zum Abschluss in einem kleinen, gewöhnlichen Raum. Der Gutachter erklärt noch einmal, warum er M. für voll schuldfähig hält. Der Richter hält noch einmal fest, eine ernstzunehmende Gefahr, dass der Angeklagte zu den Waffen greift und einen Umsturz herbeiführen will, sei nicht gegeben. Dann folgen die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung, die sich in der Bewertung unterscheiden, aber nicht wirklich im Ergebnis. M. soll zu einer Geldstrafe verurteilt werden.
M. selbst hat ein Schlusswort vorbereitet, dass er am Ende der Hauptverhandlung mit brüchiger Stimme vorliest. „Vor Gott hat man alle Rechte“, beginnt er. Nur nicht das Recht, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Er spricht von seiner Pflicht, sich auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gegen Unrecht zu wehren. Und davon, dass er wohl zu weit gegangen sei. In Zukunft wolle er sich wieder mehr der Musik und seinen zahlreichen früheren Ehrenämtern, die er alle aufzählt, widmen. „Das habe ich meiner Frau und meinen Töchtern fest versprochen.“
Dimitri M. wird zu einer Geldstrafe in Höhe von 80 Tagessätzen verurteilt, wegen Verunglimpfung des Staates und Beleidigung. Da Staatsanwaltschaft und Verteidigung auf eine mögliche Revision verzichten, ist das Urteil rechtskräftig. Der Richter betont die Bedeutung politischen Engagements in Demokratien und das hohe Gut der Meinungsfreiheit. Doch das, was M. geschrieben habe, sei davon nicht mehr gedeckt. Dann wendet er sich direkt an den Angeklagten und dessen Frau. „Man merkte: Es rührt in ihnen.“ Er habe Hoffnung, dass nun etwas Ruhe in ihre Leben einkehrt.