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„Mario war ein guter und intelligenter Schüler“, sagt seine ehemalige Lehrerin an der Allgemeinen Oberschule in Bad Sulza. „Er wollte zur Bank, ich glaube nach Frankfurt.“
Das muss weiter warten. Derzeit sitzt Mario R., geboren im August 1983 in Weimar, in einer Zelle in Ungarn und wartet auf seine Auslieferung in ein deutsches Gefängnis.
Seit Anfang 2016 war er auf der Flucht, war er der Thüringer, den deutsche Fahnder wohl am intensivsten suchten. Zwei Jahre galt der 34-Jährige als einer der meistgesuchten Rechtsextremisten Deutschlands.
Es gab Spuren, die wiesen in Richtung USA, und solche, die nach Osteuropa führten, nach Ungarn. Ehemalige Nachbarn in der Erfurter Altstadt, wo Mario R. eine undurchsichtige kleine Internet-Firma betrieb, erinnern sich an seinen hastigen Auszug: „Er sagte, er wollte nach England.“ Das war Anfang 2016, vermutlich eine falsche Fährte, die er legte.
„Ich denke, ich habe ihn später sogar noch einmal in Erfurt gesehen“, meint jemand, der ihn aus der Anfangszeit der AfD in Thüringen kennt, als Mario R. noch Parteimitglied war. „Ich glaube, er fuhr im Auto an mir vorbei.“
Mario R. war wie ein Phantom. Aber am Mittwoch vor Ostern, kurz vor sechs Uhr in der Früh, stürmten Spezialisten einer ungarischen Antiterroreinheit und Ermittler des Berliner Landeskriminalamts die Budapester Wohnung des vorbestraften Thüringers . Dass sie kugelsichere Schutzwesten trugen, war kein Zufall. Denn der Vorwurf gegen Mario R. hat es in sich: illegaler Waffenhandel.
Kein Handel mit Kriegswaffen zwar, auch nicht mit Jagdwaffen, aber die Schreckschussrevolver und -gewehre für Hartgummigeschosse, die Mario R. nach Überzeugung der Ermittler von Ungarn aus verkauft haben soll, wären stark genug, um Menschen zu töten.
„Absolut tödliche Waffe zum Einführungspreis“
Der als „Meinungsverstärker“ und „Antifa-Schreck“ angepriesene Revolver AS 125 zum Beispiel „überzeugt“ laut Werbetext „mit unglaublichen 125 Joule Mündungsenergie“. Das ist die 17-fache Kraft der in Deutschland erlaubten 7,5 Joule für Schreckschusswaffen. Diese Waffe, die aussieht wie eine echte, könnte auch töten, genauso wie die beworbene Armbrust, zu der es heißt: „Sichern Sie sich jetzt diese absolut tödliche Waffe zum Einführungspreis.“
In mehreren kurzen Werbefilmen, die im Internet zu sehen sind, werden Wucht und Wirkung der Waffen demonstriert. Ihre Kugeln durchschlagen Holztüren und reißen Löcher in hartes Plastik lebensgroßer Gestalten, die von dunkler Hautfarbe sind. Selbst auf größere Distanzen durchdringen die Gummikugeln festes Material, die darauf aufgeklebten Gesichter auf Papier sowieso. Es sind die Konterfeis bekannter Politiker, die im Werbefilm gezielt durchschossen werden: Bundeskanzlerin Angela Merkel, SPD-Minister Heiko Maas, Claudia Roth und Cem Özdemir von den Grünen, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck.
Über den Zweck für den Einsatz der Waffen – die in Ungarn erlaubt sind – lässt Mario R. wenig Zweifel. Er vertreibt sie unter dem Markenzeichen „Migrantenschreck“. Über der Abbildung des Revolver-Modells „Migrantenschreck MS80 Intense“ heißt es erläuternd: „Schützen Sie sich und Ihre Familie!“ In der Beschreibung des doppelläufigen Gewehrs „Migrantenschreck DP 120 Professional Bautzen Edition“ wird man noch deutlicher. Dort ist davon die Rede, dass die „Stadt zum gesetzlosen Tummelplatz von Asylforderern“ wird.
Mindestens zehn Thüringer, Männer wie Frauen, haben von Mai bis November 2016 Schreckschuss-Revolver über den Internet-Versandhandel „Migrantenschreck“ aus Ungarn bestellt. Deutschlandweit hat die Staatsanwaltschaft Berlin insgesamt 193 Fälle von illegalem Waffenhandel ermittelt. Samt Kugeln und Zubehör geht der Bestellwert in die Hunderttausende.
Bei einer bundesweiten Razzia im Januar 2017 wurden 33 Wohnungen durchsucht, vier davon in Thüringen. Vier Schreckschusswaffen wurden sichergestellt, im Landkreis Sonneberg zudem eine scharfe Waffe.
Unter den Personen, die „Migrantenschreck“-Waffen aus Ungarn orderten, sind nach Recherchen der Wochenzeitung „Zeit“, der die Bestelllisten bekannt sind, „Ärzte, Lokalpolitiker, Unternehmer, Erzieher, Computerfachleute und Zierfischzüchter“. Ein „Zahnarzt aus Bayern“ ist demnach darunter, eine „Internistin aus Thüringen“, ein „Physiker aus Sachsen“, ein „Firmenkundenbetreuer einer großen Geschäftsbank aus Holstein“ und „schließlich vier Lokalpolitiker der AfD aus Hamburg, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen“.
Nach Ansicht der „Zeit“ belegen die Daten, „dass das Geschäft mit der Panik vom extremen rechten Rand bis in die Mitte der Gesellschaft reicht.“
Von dort hat sich der in Weimar geborene und in Bad Sulza aufgewachsene Mario R. im Laufe der Jahre ständig fortbewegt – bis schließlich auf der Internet-Seite „Anonymous.Kollektiv“, die ihm, obwohl er es bestreitet, vielfach zugeordnet wird und auf der für „Migrantenschreck“-Waffen geworben wurde, Migranten als „menschlicher Müll“ bezeichnet wurden.
„Vor Lehrern hatte er immer Respekt“
Wann bei Mario R. ein politisches Interesse zu wirken begann, wann und wie er sich radikalisierte, ist schwer einzuschätzen. Seine Mutter, die ihn vor mehr als zehn Jahren das letzte Mal sah, schließt ein frühes politisches Engagement ihres Sohnes aus. Die Lehrer haben ebenfalls nichts dergleichen festgestellt. „Er war kein einfacher Schüler“, erinnert sich eine Pädagogin. „Er hat nie gekuscht, und wenn er sich im Recht fühlte, hat er seine Position verteidigt, aber er ist nicht über das Ziel hinausgeschossen. Vor Lehrern hatte er immer Respekt.“
Von einem „impulsiven, aber nicht aggressiven Schüler“ ist die Rede. „Wenn ihm etwas nicht gepasst hat, ist es aus ihm rausgeplatzt.“
Auch die ersten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Gera gegen Mario R. Anfang und Mitte der 2000er-Jahre haben nichts mit Politik zu tun, auch nicht ansatzweise. Es ging um Betrugsverdacht, Verdacht auf Urkundenfälschung und um diverse Finanz- und Wirtschaftssachen. Mehrere Verfahren wurden wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt, allerdings wurde gegen Mario R. auch eine Freiheitsstrafe verhängt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Das letzte Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Gera gegen Mario R. datiert nach Informationen unserer Zeitung von 2011. Es wurde wegen fehlenden Tatverdachts eingestellt.
Etwa zu dieser Zeit betätigte sich Mario R. auch als Kleinunternehmer. Zunächst gründet er, mit Sitz in Erfurt, die Firma „TeBeUs!“. Deren Geschäftszweck war die „Erbringung von Dienstleistungen im Marketingbereich, insbesondere Vermittlung von Kontakten in sozialen Netzwerken“.
Beim Deutschen Patent- und Markenamt ließ er die Wort-Bildmarke „fandealer“ eintragen. Das macht deutlich, was ihn antrieb: Es war das Geschäft mit sogenannten Freunden, sogenannten „Likes“, quasi „die“ Währung in der Facebook-Ära.
In einem großen Bericht über dieses Phänomen erläuterte der Spiegel Mitte 2012 das Facebook-Geschäftsmodell des Mario R. so: „100 weltweite Facebook-Fans gibt es bei ihm schon für 10 Euro. Für 10 000 Deutsche müssen Kunden 669 Euro berappen. Bei den hochpreisigen Angeboten können die Kunden angeblich sogar Alter und Geschlecht angeben.“
Wer war der Geist hinter „Anonymous“ im Netz?
Die Kunden, die „Likes“ bei Mario R. kaufen wollten, waren getrieben von diesem Gedanken: Je mehr „Likes“, also Facebook-Freunde man hat, desto begehrter und wertvoller erscheint ein Unternehmen.
Aber 2014 wird „TeBeUs!“ liquidiert; die neue Firma nennt Mario R. „AdFanyo“. Sitz und Gegenstand der Unternehmen ändern sich nicht. Es dauert nicht lange, bis im Internet die Frage aufgeworfen wird, ob über „AdFanyo“ Gelder kassiert werden „für Dienstleistungen, die nicht erbracht werden“. Als Verdacht steht „Betrug“ im Raum, wie zuvor bei diversen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Etwa zeitgleich taucht eine Internetseite auf, die in kürzester Zeit den großen Nachrichtenseiten im Internet von Spiegel und Tagesschau den Rang abläuft: „Anonymous.Kollektiv“. Dort werde, wie der Spiegel im November 2015 schrieb, „Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht, Russland glorifiziert, mit Pegida sympathisiert und gegen die angebliche Lügenpresse gewettert“.
Knapp zwei Millionen Abonnenten hat die deutschsprachige Seite „Anonymous.Kollektiv“ im Februar 2016, als die Seite gesperrt wird . Doch kurz darauf meldet sich „Anonymous“ aus Russland zurück, dieses Mal von einem Internet-Server, auf den Facebook nicht zugreifen kann.
Ob Mario R. tatsächlich der Geist hinter Anonymous ist, wie manche vermuten und mit angeblich eindeutigen Screenshots im Internet beweisen wollen, ist unklar. Mario R. hat das bisher stets bestritten, sogar erfolgreich vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft Erfurt allerdings hat in diesem Kontext dennoch gegen Mario R. wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt. Das Verfahren wurde inzwischen an die Staatsanwaltschaft Berlin abgegeben, weil dort seit 2016 zentral gegen Mario R. ermittelt wird.
Nur selten trat Mario R. öffentlich in Erscheinung. Eine große Ausnahme war die Montagsdemonstration am 26. Mai 2014 in Erfurt. Hauptredner war der Rechtspopulist Jürgen Elsässer, Chefredakteur der Zeitschrift „Compact“. Organisator der Demo: Mario R.
„Er war ehrgeizig“, sagt seine Lehrerin.