„So viel Hass tut mir nicht gut“: Experten warnen vor rapidem Rechtsextremismus-Anstieg
Stand: 09.12.2025, 14:50 Uhr
Von: Peter Sieben
Beratungsstellen für Rechtsextremismus-Opfer sprechen von einem „Jahr der Verdichtung“. Experten warnen derweil vor einem Neonazi-Phänomen. Eine Analyse.
Düsseldorf/Berlin – Wenn der Rechtsruck ein Erdbeben ist, sind Beratungsstellen für Opfer rechtsextremer Gewalt und Aussteigerprogramme vielleicht so etwas wie ein Seismograph. Und dessen Nadel schlägt gerade ordentlich aus: Das zeigt eine Jahresbilanz, die die Opferberatung Rheinland, die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) und die Aussteigerberatung Nina am Dienstag in Düsseldorf vorgestellt haben.
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Nina steht für „Neue Wege in der Ausstiegsberatung“ und ist der Name einer Beratungsstelle in Nordrhein-Westfalen, in der Expertinnen und Experten Menschen helfen, die sich von der extrem rechten Szene lossagen wollen. Der Bedarf ist hoch. „Bei Beratungsanfragen hatten wir bereits 2024 einen Anstieg von 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr, und 2025 noch einmal um 35 Prozent“, so Jonas Stapper von Nina im Gespräch mit dieser Redaktion.
Rechtsextremismus – Experten-Kritik: Parteien der Mitte übernehmen AfD-Positionen
Wer zu Nina kommt, hat sich meist in ein ideologisches Netz verstrickt, aus dem er ohne Hilfe nicht mehr herauskommt. Ein Jobverlust oder eine Haftstrafe wegen rechtsextremistisch motivierter Straftaten führe oft zum Umdenken. „Menschen, die sich an uns wenden, haben selten zu Beginn eines Gesprächs schon die Ambition, auszusteigen. Häufig sagen sie Sätze wie: Ich hab mir das anders vorgestellt. Ich habe damit zu viel Stress. Oder: So viel Hass tut mir selber nicht gut”, sagt Politologe und Historiker Stapper.
Die Beratungsstellen in NRW sprechen von einem „Jahr der Verdichtung“. Viele Entwicklungen, die sich schon zuvor abgezeichnet hätten, würden sich 2025 spürbar beschleunigen. „Wir beobachten eine Normalisierung rechtsextremer und auch queerfeindlicher Positionen in der Gesellschaft“, so MBR-Mitarbeiterin Ronja Heukelbach. Bei der MBR, die auch Opfer rechtsextremer Bedrohungen berät, sei die Fallzahl in den letzten beiden Jahren um rund ein Viertel gestiegen, man komme bei der Bearbeitung nicht mehr hinterher. Die Fachleute beobachten: Extrem rechte Haltungen seien zunehmend gesellschaftlich anschlussfähig. Das liege auch daran, dass Parteien der demokratischen Mitte Positionen der in Teilen rechtsextremen AfD etwa beim Thema Migration übernähmen.
Gleichzeitig sehen die Expertinnen und Experten: Rechte Gruppierungen würden in diesem Jahr mit deutlich gesteigertem Selbstbewusstsein auftreten, Bedrohungen seien massiver und gewaltvoller. Das deckt sich mit Beobachtungen der Sicherheitsbehörden. 2025 gab es laut dem Bundeskriminalamt (BKA) bei rechtsmotivierten Straftaten eine Steigerung von rund 48 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das BKA spricht von einer „zunehmenden Gewaltbereitschaft“ in der rechten Szene.
Die ist überdies immer besser organisiert – auch über Ländergrenzen hinweg, weiß Extremismus-Experte Hans-Jakob Schindler, Direktor beim Counter Extremism Project in Berlin. „Für das deutsche Milieu stellen wir immer wieder enge Beziehungen zu rechtsextremistischen Milieus im Ausland, insbesondere in Österreich und in der Schweiz, aber auch in osteuropäischen Ländern, fest“, so Schindler im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau von Ippen.Media.
Ein vergleichsweise neuer Trend: Manche Gruppierungen orientieren sich wieder an den typischen Springerstiefel-Neonazis der 90er Jahre – als eine Art kultige Lifestyle-Option: „Die Szene diversifiziert sich, und offensichtlich geht es darum, ein möglichst breites Angebot zu etablieren, um jüngere Mitglieder anzuwerben“, so Schindler.
Tiktok befördert Rechtsextremismus
Als Gründe für die steigende Zahl rechtsextremer Auffälligkeiten sieht er zwei Punkte. Erstens seien Gesellschaft und Behörden sensibilisierter: „Wenn genauer hingesehen wird, wird auch mehr entdeckt.“ Zweitens gebe es infolge multipler weltweiter Krisen durchaus immer deutliche Radikalisierungsschübe. Algorithmen von Plattformen wie Tiktok, wo Extremisten gerade Jugendliche gezielt ansprechen, würden das beschleunigen. „Bei der Finanzierung von Präventionsmaßnahmen wurde die Rolle der Social-Media-Plattformen bislang unterschätzt.“
https://www.fr.de/politik/so-viel-hass-tut-mir-nicht-gut-experten-warnen-vor-rapidem-rechtsextremismus-anstieg-zr-94075918.htmlHass macht eben hässlich.