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Klimaaktivisten berufen sich feierlich auf das hehre Ziel der Rettung der Welt. Daneben erscheint der Traktorfahrer, der nur den Wegfall von Dieselsubventionen bremsen will, nicht eben als geistig-moralische Lichtgestalt. Ideal wäre es, wenn beide – ungeachtet ihrer jeweiligen Motive – einfach dazu übergehen würden, ohne Behinderung anderer auf großen öffentlichen Plätzen Transparente auszurollen, Reden zu halten und für ihr Anliegen zu werben. Dieses Recht bestreitet ihnen niemand.
Ohne spektakuläre Blockadeeffekte aber, das wissen die Beteiligten, würden ihre Lobbyismusbemühungen lediglich in eine langweilige „Latschdemo“ münden, die in den sozialen Medien wenig Vibrationen erzeugt und es am Abend auch nicht in die „Tagesschau“ schafft. Also entscheidet man sich im Zweifel für den Krawall. Man stellt die eigenen Belange über die der anderen. Und wenn dies dann kritisiert wird, kontert man: Das machen doch die anderen auch.
So entsteht eine Kettenreaktion der Ruppigkeiten. Erst legen die Landwirte den Verkehr lahm, dann die Lokführer. Mal schließen Apotheken, mal Arztpraxen ihre Pforten. Und alle deuten mit dem ausgestreckten Finger auf die Regierung, die an allem schuld sei.
Früher fühlten viele sich sicherer
In früheren Jahrzehnten waren Streiks, Straßenproteste und Chaos im Verkehr eher ein Merkmal südeuropäischer Länder. Die alte Bundesrepublik dagegen kultivierte, auch noch in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung, eine rheinisch geprägte Kunst der leisen Konsensfindung – in der Politik wie in der Arbeitswelt.
Helmut Kohl pflegte als CDU-Mann immer auch gute Beziehungen zu den Arbeitnehmervertretern, etwa zu seinem Vertrauten Hermann Rappe, dem langjährigen Chef der Chemiegewerkschaft. Als einzigen Minister ließ Kohl den CDU-Linken Norbert Blüm die vollen 16 Jahre im Amt, im Ressort für Arbeit und Soziales. Der SPD-Mann Gerhard Schröder wiederum kam als der unvergessene Genosse der Bosse um die Kurve. Auch Handwerksmeister und Selbstständige stimmten im Wendejahr 1998 für Schröder. Das unideologische Kreuz-und-quer unter beiden Kanzlern war gut, es half bei überparteilichen Projekten wie dem Bündnis für Arbeit. Und es trug dazu bei, dass viele Deutsche sich sicherer fühlten als heute.
Die aktuelle Regierung in Berlin hat, klarer Fall, mit ungewöhnlich harten Schocks von außen zu tun. Umso mehr müsste sich Kanzler Olaf Scholz mit politischer Kommunikation und Integration im Inneren Mühe geben. Genau das aber misslingt immer wieder. Erst brachte die Ampelkoalition mit verkorksten Entwürfen zum Heizungsgesetz die Republik gegen sich auf. Dann folgte eine selbst verschuldete rechtstechnische Haushaltskrise, die sogar Wohlmeinende fassungslos werden ließ. Und noch immer fragen sich die Deutschen, wie es jetzt eigentlich weitergehen soll mit dem Reizthema Zuwanderung.
Dies alles hat einen Autoritätsverlust der Regierenden bewirkt, der in Deutschland inzwischen Spaltungsprozesse wie in den USA beflügelt. Immer mehr Menschen im Land gerät das große Ganze aus dem Blick. Sie ziehen sich in ihre spezielle Gruppe zurück, kommunizieren ausschließlich unter ihresgleichen – und zeigen allen anderen nur noch den Mittelfinger.
Wut wie nie plus Wohlstand wie nie
Die allerorten spürbaren Zersetzungstendenzen lassen bei vielen Deutschen das unschöne Gefühl von Haltlosigkeit aufkommen, von zunehmender innerer Unsicherheit. Das Vertrauen in die Demokratie insgesamt lässt nach. Diese toxische Situation allerdings wird von großen gesellschaftlichen Gruppen nicht etwa als Problem erkannt und bearbeitet, sondern eiskalt ausgenutzt: Im aufgeregten neuen Deutschland probiert derzeit jede Gruppe einfach mal aus, was für sie drin liegt.
Wird uns eine Kombination aus mehr Freizeit und höheren Löhnen wundersam aus der Krise führen? Über Fragen wie diese kann und muss man reden, das gehört zum Betriebsgeräusch freier Gesellschaften. Völlig unangemessen ist aber der dramatische Ton, der in jüngster Zeit hier und da angeschlagen wird – als müsse man sich in diesem Land endlich von einem unerträglichen Joch befreien. In Wahrheit wird die nie dagewesene Wut in Deutschland noch immer begleitet von einem ebenfalls nie dagewesenen Wohlstand.
Deutschlands Lokführer zum Beispiel verdienen laut Bundesagentur für Arbeit im Schnitt 3735 Euro brutto im Monat. Ihnen reicht es nicht aus, dass die Bahn ihre Gehälter um 11 Prozent anheben will. Sie pochen auf 555 Euro mehr Lohn – plus Arbeitszeitverkürzung. Mal ehrlich: Kann man sich nicht auf irgendeinen Stufenplan einigen, ohne Millionen Menschen erneut mit einem Streik zu behelligen?
Auch die Landwirte sollten einmal innehalten und ihre Aktionen überdenken. Warum konnten viele Bauern landauf, landab es sich nicht verkneifen, eine Ampel an einem Galgen baumeln zu lassen? Was sollen solche gruseligen Gesten? Und woher nahmen Hunderte mit Traktoren angereiste Eiferer das Recht, im Hafen von Schlüttsiel das Anlegen einer Fähre zu blockieren und Minister Robert Habeck persönlich zu bedrohen? Inzwischen wurde bekannt: Zwei regionale AfD-Größen sollen die Aktion im Hintergrund angezettelt haben.
Die Radikalen haben vier Wahlen im Blick
Ist den Bauern entgangen, dass sich rechtsradikale Akteure derzeit unabhängig vom Thema bei jeder sich bietenden Gelegenheit gezielt unter die Unzufriedenen mischen? In den sozialen Netzwerken nutzen sie Missklänge und Unmut aller Art, um den „Systemparteien“ Union, SPD, Grüne und FDP bei den vier wichtigen Wahlen in diesem Jahr Wählerinnen und Wähler abzujagen. Am 9. Juni ist Europawahl, am 1. September folgen Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, am 22. September in Brandenburg.
Von einem „Spiel mit Feuer“ spricht Ursula Münch, Politikwissenschaftlerin und Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing in einem RND-Interview. „Die momentane Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung befördert in einer Welle populistische Parteien nach oben.“
Zu den Profiteuren des Unmuts dürfte neben den AfD-Chefs Tino Chrupalla und Alice Weidel die Parteineugründerin Sahra Wagenknecht gehören. Hoffnungen macht sich auch der CDU-Rechtsaußen Hans-Georg Maaßen, der den von ihm geführten Verein Werteunion in eine eigene Partei umwandeln will.
Diese Woche haben die Landwirtinnen und Landwirte die Autobahnauffahrten blockiert, nächste Woche fahren sie selbst nach Berlin.
Wer will ernsthaft auf dieses fachlich wie charakterlich fragwürdige Quartett seine Hoffnungen werfen? Droht mit diesen Figuren nicht noch mehr Chaos?
Das aufgeregte Deutschland muss aufpassen: Der Denkzettel, den manche in diesem Jahr grimmig an „die da oben“ schicken wollen, könnte ihnen am Ende selbst auf die Füße fallen.