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Vor der dreistöckigen Bruchbude im Kanton St. Gallen stehen eine Baumulde und eine Schubkarre. Das mintgrüne Gebäude befindet sich im Umbau, alle Mieter mussten wegziehen. Damit ist auch Claudio R. ausgeflogen. Gegen ihn und seinen Zwillingsbruder Sandro, beide Anfang fünfzig, ermittelt die Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts auf Terrorismus. Auf einem Foto erkennt ein Nachbar den Glatzkopf sofort: «Ja, der hat bis vor kurzem hier gewohnt.»
Die Ermittlungen gegen die Zwillingsbrüder gehen auf deutsche Strafverfahren zurück. Gegen mutmassliche Putschisten aus der Szene rechtsextremer Reichsbürger und Verschwörungsideologen hat der Generalbundesanwalt Anklage erhoben. Der Prozess gegen die Rädelsführer soll im Mai beginnen.
Es ist eine bizarre Geschichte. Im Dezember 2022 wurden 25 Personen in einer der grössten Razzien der deutschen Kriminalgeschichte festgenommen, unter ihnen der 72-jährige Unternehmer Heinrich XIII. Prinz Reuss und der ehemalige Militär des Kommandos Spezialkräfte Max Eder.
Waffenbeschaffung in der Schweiz
Die Staatsanwaltschaft wirft den Verschwörern vor, eine terroristische Vereinigung mit dem Ziel eines Umsturzes geplant zu haben. Eder bestreitet das aber. Für alle Betroffenen gilt die Unschuldsvermutung.
In Deutschland werden die Putschisten häufig als Reichsbürger bezeichnet. Darunter versteht man Menschen, die dem Staat die Legitimation absprechen. Sie glauben zum Beispiel, dass es die Bundesrepublik Deutschland gar nicht gebe und das alte Deutsche Reich weiterlebe. In der Schweiz nennt man solche Leute eher Staatsverweigerer.
Treibender Gedanke der Umstürzler war jedoch die Vorstellung, dass die politische und wirtschaftliche Elite massenweise Kinder foltern und sexuell missbrauchen lasse – dies in Anlehnung an die aus den USA stammende Verschwörungsideologie von QAnon.
Für den geplanten «Sturm auf den Reichstag» in Berlin benötigten die Wirrköpfe um Prinz Reuss Waffen. Diese wollte man sich in Tschechien und in der Schweiz besorgen. In einem abgelegenen Waldgasthaus in Bayern, unweit der tschechischen Grenze, luden die Rädelsführer einen der Zwillingsbrüder ein. Spätestens bei diesem Treffen wurden die Sankt Galler damit beauftragt, Waffen für den Putsch zu beschaffen.
Doch nicht nur das: Um den Umsturz vor dem deutschen Volk zu rechtfertigen, sollten Claudio und Sandro R. Beweise für unterirdische militärische Basen im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet finden. In diesen Tunnelkomplexen – so die abstruse Behauptung – lässt der sogenannte Tiefe Staat Kinder und Frauen vergewaltigen. Die Sankt Galler versprachen, sich darum zu kümmern, gegen gutes Geld natürlich.
Vorschuss via Kantonalbank
Was der ehemalige Militär Eder und seine Kumpane wahrscheinlich nicht wussten: Schon vor Jahren hatten die Zwillinge Probleme mit der Schweizer Justiz. Ausserdem wurde ihnen vorgeworfen, unerlaubt Waffen getragen zu haben. Im Fall von Sandro R. stellte die Thurgauer Staatsanwaltschaft ein altes Verfahren wegen Verstössen gegen das Waffengesetz zwar ein, doch gegen seinen Bruder wird weiter ermittelt.
Wie ernst es Prinz Reuss mit dem Auftrag an die Zwillinge war, zeigte sich schon wenige Tage nach dem Treffen im bayrischen Gasthof: Über ein Konto des Prinzen bei einer Innerschweizer Kantonalbank bezog Sandro R. einen Vorschuss von umgerechnet knapp 52’000 Franken. Allein über Bankinstitute flossen nach und nach insgesamt mehr als 140’000 Franken in die Taschen der Brüder. Doch diese versäumten es, die bestellten Waffen zu liefern.
Nun kann man annehmen, dass es im grossflächigen Deutschland sehr viel mehr Kinderschänder gibt als in der Schweiz. Warum wollten die Umstürzler dann ausgerechnet hierzulande nach Tunnelsystemen suchen?
Die Antwort findet sich in der Nordwestschweiz, genauer bei der anthroposophischen Musikerin Seraphina K. (Name geändert). Sie und ihre heute elfjährige Tochter Nathalie (Name geändert) erhoben groteske Missbrauchsvorwürfe gegen zwei Männer: einerseits gegen Nathalies Vater und anderseits gegen einen im Schwarzwald lebenden Deutschen. Ihn hatte Nathalie mit ihrem Vater angeblich in dessen Waldhütte besucht.
«Schwarzwald-Rambo» und der Fall Nathalie
Dieses Opfer falscher Missbrauchsvorwürfe wurde in den deutschen und schweizerischen Medien bald als «Schwarzwald-Rambo» bekannt. Denn als ihn vier Polizisten aufsuchen und befragen wollten, nahm er diesen die Pistolen ab und verschwand im Unterholz. Nach einer aufwendigen Verbrecherjagd stellte sich dann aber heraus: Die Vorwürfe aus der Schweiz waren allesamt erstunken und erlogen. Verurteilt wurde der «Rambo» dennoch, allerdings wegen Gewaltanwendung gegen die Polizisten. Er erhielt am Ende eine Freiheitsstrafe von drei Jahren.
Weil die beiden Fälle zusammenhingen, wollten die Umstürzler mit Nathalie sprechen. Johanna Findeisen, eine auf der deutschen Seite des Bodensees lebende Mitverschwörerin, und der Ex-Militär Eder nahmen deshalb Kontakt auf mit Nathalies Mutter. Dabei könnte es geholfen haben, dass Findeisen ebenfalls in anthroposophischen Kreisen verkehrte.
In der Schweiz fertigte Findeisen eine Audiodatei des «Interviews» mit Nathalie an. Darin schilderte das damals neunjährige Mädchen schauderhafte Erlebnisse in den Tunnels. Seraphina K. betonte laut Gerichtsakten, dass die Putschisten die Aufnahme «ausdrücklich nur für militärische Zwecke» verwenden dürften.
Tatsächlich hatten diese vor, mit der Aufnahme die deutsche Öffentlichkeit gegen Regierung und Parlament aufzubringen. Ausserdem traf Seraphina K. laut den deutschen Ermittlern mindestens zweimal mit den Sankt Galler Zwillingen zusammen. Diese suchten angeblich nach den Eingängen zu den Tunnelsystemen und erhielten dafür grosse Geldsummen von den Putschisten – ohne aber greifbare Ergebnisse zu liefern.
«Extreme Beeinflussung»
Fast zur gleichen Zeit kam es in der Nordwestschweiz zu einer mutmasslichen Kindesentführung durch eine Mutter, die – welcher Zufall – mit Seraphina K. bekannt war. Die 42-jährige Deutsche befürchtete, dass ihr fünfjähriger Sohn ebenfalls in den unterirdischen Anlagen sexuell missbraucht werden könnte. Mithilfe von Ex-Militär Eder verschleppte sie deshalb den Bub nach Süddeutschland, wo sie am Ende von der Polizei gestellt wurde. Vor kurzem erhob die Solothurner Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Mutter wegen Kindesentführung. Seraphina K. wird sich wegen des Verdachts auf Gehilfenschaft ebenfalls zu verantworten haben.
In einem Basler Vorort lebt die 46-jährige Seraphina K. mit Nathalie in einer Genossenschaftssiedlung aus den 1940er-Jahren. Nach dem Klingeln an der Haustür öffnet sie ein Fenster im ersten Stockwerk, und Nathalie verfolgt das etwas einseitige Gespräch von nebenan. Auf die Frage, woher die Mutter Johanna Findeisen kenne, kommt keine Antwort. Dafür meint Seraphina K., dass es eine Frechheit sei, an ihrem Wohnort zu erscheinen. Sie überlege sich, Anzeige zu erstatten. Ausserdem habe diese Zeitung keine Ahnung, was wirklich passiert sei.
Und was wurde aus Nathalies Vorwürfen, den Ritualmorden auf Altären, den Orgien mit Kot, Urin und Sperma, den Rehen, die Nathalies Vater angeblich im Wald eingefangen und vergewaltigt hatte?
In einem Urteil des Bundesgerichts heisst es dazu: «Für die Anschuldigungen konnte (…) nicht der geringste objektive Hinweis gefunden werden (…).» Nathalies Angaben seien über die Zeit hinweg «auffallend inkonstant» gewesen. Es handle sich wohl nicht um echte Erinnerungen, sondern eher um Fremdsuggestion aus Nathalies Umfeld. So läsen sich die Ausführungen von Nathalies Onkel, eines in der anthroposophischen Szene recht bekannten Buchautors, wie eine Anleitung zur Implantation von Pseudoerinnerungen. «Beeinflussung in dieser extremen und systematischen Weise dürfte in der forensischen Praxis Seltenheitswert haben.»