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Die Vorgeschichte: Im YouTube-Kanal "Achtung Reichelt" und auf "Nius", Reichelts Portal, das der Gesundheitsdaten-Milliardär Frank Gotthardt maßgeblich finanziert, schießt Reichelt gegen alles, was ihm irgendwie "grün" oder "woke" erscheint. Dabei haben ihm Gerichte schon mehrfach bescheinigt, dass er es mit den Fakten nicht genau nimmt. Im Oktober 2023 nahm er sich Seenotretter vor, griff in einem Video die Dresdner Organisation Mission Lifeline International e. V. an.
Reichelt kassierte einstwilige Verfügung
Was er darin über deren Finanzierung sagte, stimmte aber nicht. Und der Verein wehrt sich regelmäßig mithilfe von Jonas Kahl, einem Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht: Schon der AfD Dresden war wegen eines Werbeflyers für AfD-Politiker Maximilian Krah eine Äußerung verboten worden.
Diesmal war es Reichelt, der eine einstweilige Verfügung kassierte, "Seenotretter bringt Reichelt ins Schwimmen", titelte t-online nach der Entscheidung vom 7. November 2023. Reichelt musste auch eine Gegendarstellung bringen. Die Entscheidung war das erste Kapitel in dem Rechtsstreit, und Reichelt akzeptierte sie als abschließende und endgültige Regelung: Damit war unumstößlich, dass Reichelt die Pflicht zur Veröffentlichung einer Gegendarstellung hat.
Was aber folgte, war nur eine Schmalspur-Gegendarstellung, befand das Gericht. Sie erfüllte nicht das, was das Gericht verlangt hatte und worauf Mission Lifeline nach dem Lügenbeitrag Anspruch hatte: Gegendarstellungen müssen die gleiche Aufmachung wie die ursprüngliche streitige Äußerung haben.
Deshalb erging am 21. Februar der Beschluss (27 O 452/23): Damit Reichelt die Anforderungen des Gerichts nicht weiter ignoriert und die Betroffenen zu ihrem Recht kommen, wurde ein Zwangsgeld von 5.000 Euro (ersatzweise: zehn Tage Zwangshaft) verhängt. Dabei war am Video kurz vor der Entscheidung noch nachgebessert worden. Das war das zweite Kapitel.
Reichelt-Seite "versucht auszuloten, wie weit sie gehen kann"
Reichelt ging gegen den Beschluss vor. Sein Anwalt Joachim Steinhöfel erklärte zu der eingelegten sofortigen Beschwerde: "Wir haben keinen Zweifel daran, dass der Beschluss wegen der Erfüllung der Vorgaben aufgehoben werden wird." Wurde er aber nicht, sondern am 8. Mai bestätigt (10 W 38/24). Das ist dritte Kapitel, der aktuelle Stand. Reichelts Unternehmen und sein Anwalt Steinhöfel haben eine t-online-Anfrage vom Freitag bisher nicht beantwortet.
Der Vertreter von Mission Lifeline, Jonas Kahl, sagte bereits im Februar über die Gegenseite: "Sie versucht auszuloten, wie weit sie im Hinblick auf das Thema Gegendarstellungen bei YouTube-Videos gehen kann und muss." Das wird jetzt klarer. Kahl: "Der Beschluss enthält einige interessante Ausführungen und ist eine der wenigen bislang existenten Gerichtsentscheidungen, die im Detail darlegt, wie eine Gegendarstellung bei YouTube erfolgen muss und wie man es andererseits besser nicht machen sollte. Es handelt sich damit ein Stück weit um einen Präzedenzfall."
Das vierte Kapitel ist auch schon aufgeschlagen: "Wir haben Antrag gestellt, vollstrecken zu lassen", sagt Anwalt Kahl. Das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg soll die 5.000 Euro von Reichelt eintreiben. Sogar ein fünftes Kapitel zeichnet sich ab: Wenn auch nach einem solchen Fall immer noch keine angemessene Gegendarstellung erfolgt, werde man einen zweiten Zwangsgeldantrag aufgrund der gleichen Tatsachengrundlage stellen. Kahl: "Und dann dürfte der Betrag höher werden."
Bloße Einblendung reicht Gericht nicht
Aus dem Beschluss vom 8. Mai kann nicht nur Reichelt lernen, was von YouTubern für eine ordnungsgemäße Gegendarstellung verlangt wird. Er hatte bereits eingesehen: Die Gegendarstellung in der Videobeschreibung nur versteckt zu veröffentlichen, wie er es zunächst tat, das erfüllt die Anforderungen nicht. Das Gericht fand aber auch: Es reicht ebenso noch nicht, dass in dem alten Video der Text der Gegendarstellung an der Stelle gezeigt wird, an der Reichelt die Lüge verbreitet hatte und nun stattdessen Musik ertönt. "Mit dieser Einblendung, gleich an welcher Stelle und gleich auf welche Art und Weise, erfüllt die Schuldnerin ihre Veröffentlichungspflicht nicht."
Aus Sicht des Gerichts muss ein neuer Beitrag her. Es folgt der Argumentation von Kahl: Wer den Ursprungsbeitrag geschaut habe, schaue ihn sich ja eher nicht noch mal an. Wenn die Gegendarstellung die gleiche Aufmerksamkeit bekommen soll, geht das demnach nur mit einem weiteren "Angebot" im Kanal "Achtung, Reichelt" unter Verweis auf die ursprüngliche Tatsachenbehauptung.
Und weil der Beitrag dann in gleicher Aufmachung erscheinen muss und die falsche Tatsachenbehauptung ein von Reichelt gesprochener Text war, ist eine Gegendarstellung nötig, die ebenfalls gesprochen wird. Ein neues Video muss also für die Gegendarstellung erstellt werden. "Das bedeutet auch, dass die Gegendarstellung wieder von Herrn Reichelt selbst als Namensgeber des Kanals gesprochen werden muss", sagt Kahl.
Verwendete Quellen
Anfragen an Jonas Kahl, Mission Lifeline, Nius und Joachim Steinhöfel
medieninsider.com: Diese Schlüsselfigur verlässt das Reichelt-Portal Nius