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Der Taxifahrer umfährt geschickt eine linke Gegendemo und lässt einen an einem Schleichweg heraus, den die Polizei gerade erst geöffnet hat, um den Besucherinnen und Besuchern der Messe den Spießrutenlauf durch die Protestierenden zu ersparen. So ist man nur wenige Minuten später schon in der Messehalle. Die „Dauerkarte“ kostet fünfundzwanzig Euro, berechtigt aber, wie der Besucher beim Einlass erfährt, trotzdem nur zu einem einmaligen Eintritt. Schade, adieu, erhofftes Mittagessen bei Burger King in fußläufiger Entfernung.
Der Sprecher des PEN Berlin, Deniz Yücel, hat diese Buchmesse eine „sehr rechte bis rechtsradikale Buchmesse“ genannt. Der gesichert rechtsextreme Verlag Antaios hat seinen Stand aufgebaut, auch das Compact Magazin von Jürgen Elsässer, dessen zwischenzeitliches Publikationsverbot das Bundesverfassungsgericht im Juli dieses Jahres wieder aufgehoben hat. Ins Leben gerufen hat diese Buchmesse die Buchhändlerin Susanne Dagen, deren Buchhandlung Loschwitz in Dresden früher mal zur schönsten in Deutschland gekürt wurde, und die inzwischen ihr Angebot vollständig auf Rechts-außen-Bücher umgestellt hat. Die „Seitenwechsel“-Messe habe sie aus „geistiger Notwehr“ organisiert. Notwehr gegen wen?
Die AfD hatte die Debatte um die zweitägige Messe in einer Mitteilung als „künstlich aufgeheizt“ bezeichnet und ihr Eintreten für „Meinungsfreiheit für alle“ betont. So viel Zivilcourage wäre gar nicht nötig gewesen. Das Stattfinden der Messe war nie in Gefahr, und jetzt ist sie schon in vollem Gange.
Kappen mit der Aufschrift „Make Germany Great Again“ werden als Souvenir verkauft
Zu Gast sind die üblichen Verdächtigen, teils um ihre neuen Bücher vorzustellen, teils für Networking: der superrechte, ehemalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, der wortgewandt gegen allerlei imaginierte Gegner anschreibende Publizist Matthias Matussek, die erwähnte Fürstin Gloria „Der Schwarze schnackselt gern“ von Thurn und Taxis, der Rechtsextremist Götz Kubitschek, der querdenkende Schriftsteller Uwe Tellkamp und so weiter.
Die Messehalle ist, was Ausstellerstände und Besucherandrang betrifft, natürlich deutlich kleiner im Vergleich zu Leipzig oder Frankfurt, aber ein wenig ist schon los. Hemdsärmelige Schätzung: ein paar Hundert Besucher am ersten von zwei Messevormittagen.
Auf der großen Bühne legt Fürstin Gloria los, moderiert von Nius-Journalist Alexander Kissler. Gloria trägt ein orange-weiß-grünes Kleid, das aussieht wie eine aufgestellte Irland-Flagge. Kisslers Outfit ist für Ästheten eine noch größere Herausforderung: rotes Hemd, blaue Krawatte, grauer Anzug.
Nach der Ankündigung Susanne Dagens, dass es auch kommendes Jahr wieder diese Messe geben werde (Jubel), fragt Kissler die Fürstin: „Wie haben die letzten fünfzehn Jahre Sie verändert?“ Gloria: „Ich habe mich gar nicht verändert!“ Tosender Applaus der vielleicht dreihundert Zuhörenden für diese Stillstandsbeichte der Katholikin von Thurn und Taxis, die jetzt in den komplett hanebüchenen Modus schaltet: „Die Linken hat die Macht ruiniert, die Rechten wissen auch im Schützengraben, dass sie recht haben.“ Ihr wirklich völlig durchgedrehtes Kauderwelsch lässt viele Zuhörer bald weitergehen, auch der Besucher bricht nach ein paar Minuten des Lauschens zu einem kleinen Rundgang auf. Der letzte Gloria-Satz, den er hört, lautet: „Wir Rechten sind Individualisten, nicht kaderfähig, die Linken sind emsiger, fleißiger, die sind ein Kollektiv.“ Vergiftetes Lob für den Gegner: kann sie.
Das Compact-Magazin hat den pompösesten Stand auf der Messe, mit dem Alleinstellungsmerkmal „farbige Trennwände“ in einem ansonsten sehr weißen Buchmessebild. Neben Büchern und Magazinen gibt es Kleidung, Kunst und Alltagsgegenstände zu kaufen. Zum Beispiel Kappen mit der Aufschrift „Make Germany Great Again“, formschöne Zigarrenschneider oder kleine, kunterbunte Aquarelle. Für zehn Euro erwirbt der Besucher die naive Malerei eines Baums auf einer Mini-Leinwand. Die ausstellende Künstlerin sagt: „Das ist der goldene Baum. Ihnen viel Glück und viel Gold in Ihrem Herzen.“ Im Messeprogramm ist für 15 Uhr ein Malwettbewerb für den Nachwuchs angekündigt, mit dem antiautoritären pädagogischen Motto: „Jeder bekommt einen Preis.“
Viel Nachwuchs ist im Publikum allerdings nicht zu sehen, die Altersspanne liegt etwa zwischen 25 und 75, und das Publikum ist modisch durchmischt: Es gibt den Typ Jurist (Segelschuhe, Chinohose, gefütterte Weste), den Typ Hippie-Impfgegner (Batikklamotten, Dreadlocks), den Typ Elektrotechniker (Kurzarmkarohemd ordentlich in die Jeans gesteckt), vereinzelt auch flamboyante und attraktive Gestalten (Lederjacken, Lederschuhe, Männer mit langen Haaren und Ohrringen, Frauen, die aussehen wie Katalogmodels). Der Typ Neonazi ist eher wenig vertreten, läuft aber auch herum (New-Balance-Sneakers mit weißem Logo, diffus provokante Shirts mit Keilschrift-Aufdruck à la „damals wie heute“ oder „Flak“, dazu Glatze oder gnadenlos akkurater Seitenscheitel in bester Hitlerjugend-Tradition).
Auf der Toilette herrscht schon um 12.30 Uhr akuter Klopapiermangel. Gewisse logistische Schwächen in der Organisation der Messe werden mehr und mehr augenfällig. Ansonsten ist das Männerklo ein entspannter Ort. Man begegnet sich mit Selbstironie („Schlimm, lauter Rechte hier“ – „Nur Akademiker am Pissoir, nur Akademiker!“) und direkten Blickkontakten, die draußen auf dem Messegelände eher selten sind, irgendwie herrscht eine verdruckste Grundstimmung. Man hat den Eindruck, die Besucher wollen sich allesamt gegenseitig nicht zu nahetreten, irgendwie schwebt über allem ein Ungehörigkeitsfragezeichen.
Langsam regt sich Hunger. Auf der Messe gibt es nur einen einzigen Essens- und Getränkestand. Die Schlange ist beträchtlich. Beginn des Anstehens für eine Apfelschorle und einen kleinen Plastiktrog mit Currywurst: 12.35 Uhr. Es geht nicht viel vorwärts. Praktischerweise wird das Gloria-Gespräch auch in die Eingangshalle live gestreamt, für Unterhaltung ist also gesorgt. Die Fürstin plärrt ins Publikum: „Wir sind degeneriert! Also ihr nicht! Ihr nicht!“
Eine Stunde Anstehen für eine Apfelschorle. Wer ganz mutig ist, nimmt noch ein graues Würstchen
Um 12.42 Uhr durchqueren Susanne Dagen und Stargast Matthias Matussek die Würstchenschlange. Großes logistisches Problem: Die Würstchenschlange trennt den Eingang von der Messehalle, es kommt im Sekundentakt zu Kollisionen zwischen Würstchenanwärtern und Ankommenden. Zwei junge Frauen verteilen im Eingangsfoyer Flyer für die ebenfalls als Aussteller vertretenen „Mandic Rechtsanwälte – Ihr starker Partner gegen die Unterdrückung freier Meinungen“.
Nach einer halben Stunde Anstehen ergibt sich ein Gespräch mit dem Wartenden einen Platz weiter hinten. Einem freundlichen, kleinen und zarten, etwa siebzig Jahre alten Mann. Er bewundert die erstandene Baum-Malerei und mutmaßt: „Vielleicht ein Walnussbaum.“ Bei seinem Osteopathen hätten die Flyer für die „Seitenwechsel“-Messe ausgelegen, deswegen sei er hier. Beim Osteopathen sei er, weil er Probleme mit dem Knie habe. Ein Unfall beim Tanzen. Standard und Latein. Er erkundigt sich nach der Buchhandlung Loschwitz, ob die schön sei. Ah, ehemalige Buchhandlung des Jahres? Das klinge besser als dieses Thalia aus „den westlichen Ländern“.
Die rechten Individualisten haben sichtliche Schwierigkeiten mit der Kollektivleistung Schlangestehen, sie stellen sich aus mehreren Richtungen an, immer wieder brechen Leute frustriert ab: „Mir ist das zu blöd.“ Gloria geht von der Bühne, der Stream pausiert, eine Frau mit einem Jutebeutel mit der Aufschrift „Denke – noch ist es legal“ seufzt erleichtert. Endlich einfach das Schlangestehen rawdoggen dürfen.
Galgenhumor in der Schlange: „Dürfen wir kurz?“ Angedeutetes Vordrängeln, dann die Auflösung: „Nur ein Witz. Wir geben auf. Wir gehen raus, rauchen.“ Um 13.29 Uhr, nach über einer Stunde Warten, darf man endlich drei Euro fünfzig für eine Apfelschorle bezahlen. Die Currywurst im Plastiktrog ist von einem so wenig vertrauenserweckenden Grau, dass man lieber verzichtet. Auf die Streaming-Leinwand kommt wieder Bewegung, als der mutmaßlich einzige Gast mit Migrationshintergrund die Bühne betritt: Der Schweizer Publizist Roger Köppel, der zurzeit durch Deutschland tourt.
Doch Moment, wer sinkt da zur Linken Köppels in den Talksessel? Ist das …? Tatsächlich: Der nirgends angekündigte, höflich bejubelte Überraschungsgast Alexander Gauland hat auf dem Podium Platz genommen. Vielleicht auf der Suche nach neuen Freunden, wahrscheinlicher aber zu Buchpromozwecken ist der AfD-Mitgründer heimlich angereist. Die Dritte auf dem Podium ist eine Autorin namens Cora Stefan. Sie ergreift das Wort, kaum hörbar. „Lauter“-Rufe heben an. Immer noch etwas leise sagt sie: „Ich sagte, der Wadephul (der deutsche Außenminister, Anm. d. Red.) will deutsche Rentner nach Syrien schicken.“ Das führt zu wenig Aufregung bei dem Teil des Publikums, der mutmaßlich im Rentenalter ist. Eher zum Schmunzeln. Gutes Entertainment.
Köppel ruft den überwiegend regionalen Besuchern zu: „Die haben eine Mauer aus Polizisten um diese Messe herumgebaut! Aber diesmal sind Sie auf der richtigen Seite der Mauer!“ Freundlich lässt das Publikum ihm diese grobe Geschmacklosigkeit durchgehen. Dann werfen sich Köppel und Gauland, alte Zeitungs-Buddys aus Welt-Zeiten (als Köppel Chefredakteur war, war der Kolumnist Gauland sein Mitarbeiter) gegenseitig die Bälle zu. Zwischendurch flüstert immer wieder Cora Stefan ins Mikrofon.
Auf dem Weg zum Ausgang, der durch die Wurstschlange und den Eingang führt – immer hinein in das Ellbogengefecht –, sieht man auch das neue Buch „Shitbürgertum“ von Ulf Poschardt in der Messehalle ausliegen. Tragikomisch zum Titel dieses Spiegel-Bestsellers passend haben inzwischen mehrere Besucher auf den Klopapiermangel in der Herrentoilette aufmerksam gemacht. Schulterzucken bei den Ordnern. Was sollen sie machen?
Dann fünfundvierzig Minuten warten auf die S-Bahn zum Hauptbahnhof Halle. Für das nächste Jahr ist auf der Buchmesse „Seitenwechsel“ in Sachen Infrastruktur und Logistik echt noch Luft nach oben.
Der Autor hat in gewissem Maße mein Mitgefühl.
Auch, wenn für ihn das natürlich ein beruflicher Einsatz war.