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Ein Mechaniker und Staatsverweigerer soll einen Betreibungsbeamten entführt haben. Nun nehmen Nachrichtendienst und Polizei die Szene gemeinsam ins Visier
Die Radikalisierung eines Teils des Milieus hat Folgen.
Josef Hirz (Name geändert) ist nicht mehr da. Eine Notiz an seiner Werkstatt-Tür macht auf die Abwesenheit des spleenigen Mechanikers mit Herz für alte Maschinen aufmerksam. Auf dem Zettel steht: «Liebe Kundschaft. Mein Geschäft bleibt momentan geschlossen. Auch per Telefon oder E-Mail nicht erreichbar.»
Nichts erinnert an die Razzia, die sich in dem historischen Fabrikgebäude im zürcherischen Hittnau Ende Februar abgespielt hat.
Es ist der 29. Februar 2025, kurz vor elf Uhr vormittags. Ein Knall schreckt die Nachbarschaft hoch. Schwerbewaffnete Polizisten stürmen das Wohnhaus. Ein halbes Dutzend Polizeiwagen stehen auf dem Grundstück. Polizisten bewachen den Hauseingang der ehemaligen Fabrik, für Passanten wird die Strasse gesperrt. Mehrere Stunden dauert der Einsatz.
Schliesslich tragen Ermittler Waffen und diverse Munition aus dem Haus. Und sie führen einen Bewohner ab: Josef Hirz.
Der Vorwurf: Der 64-jährige Mechaniker soll ein Entführer sein. Ein Entführer mit Verbindungen in das Milieu der radikalen Staatsverweigerer.
Zwei Wochen vor seiner Verhaftung soll Hirz am Abend des 13. Februars auf einem Parkplatz in das Auto eines 27-jährigen Mitarbeiters der Gemeinde Pfäffikon gestiegen sein und diesen mit Waffengewalt zum Losfahren gezwungen haben. Doch der Plan geht schief: Bereits nach kurzer Zeit gelingt dem jungen Mann die Flucht.
Seit dieser Gewalttat stellt sich auch in der Schweiz die Frage: Wie gefährlich ist die Szene der Staatsverweigerer? Eines ist inzwischen sicher: Der Vorfall hat Folgen.
Ein brisanter Auftrag
Denn nun nimmt der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) die Staatsverweigerer-Szene ins Visier. Man habe in Absprache mit der Kantonspolizei Zürich entschieden, das Phänomen Staatsverweigerer gemeinsam zu bearbeiten, schreibt der NDB auf Anfrage der NZZ. Ziel sei es, ein Lagebild zu erstellen und allfällige Organisationsstrukturen von gewalttätigen Staatsverweigerern zu identifizieren.
Bis jetzt fehlt es in der Schweiz an einem Überblick über die Grösse der Szene. Unklar ist auch, wie stark die Extremisten vernetzt sind – und wie gewaltbereit sie sind. In Deutschland gehen die Behörden von rund 25 000 Reichsbürgern und Staatsverweigerern aus. In der Schweiz gibt es bis jetzt einzig die Schätzung des Kriminologen Dirk Baier, der von bis zu 3000 Personen spricht.
Die Federführung bei der Überwachung übernimmt eine von Kantonspolizei und Nachrichtendienst finanzierte Abteilung. Die Gesamtverantwortung für die Bearbeitung des Phänomens verbleibe aber bei ihm, schreibt der NDB. Mit dem Vorgehen wolle man auch die Zusammenarbeit mit den kantonalen Behörden verstärken.
Mario Fehr, Sicherheitsdirektor des Kantons Zürich, bestätigt auf Anfrage der NZZ, dass der NDB dem Anliegen zugestimmt hat. Fehr sagt: «Die Erkenntnisse der vergangenen Monate zeigen, dass man die Staatsverweigerer-Szene sehr ernst nehmen und sie genauer beobachten muss.»
Gruppierungen, bei denen die begründete Annahme bestehe, dass sie die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz bedrohten, könnten auch auf eine sogenannte Beobachtungsliste genommen werden. Das erlaubt es, Informationen über die politische Betätigung zu sammeln. Ob die Staatsverweigerer auf dieser Liste stehen, will der NDB nicht sagen. Diese Liste sei als vertraulich klassifiziert.
Allerdings muss eine Gruppierung nicht zwingend auf der Beobachtungsliste stehen, damit der NDB Informationen sammeln kann. Es reicht für eine Überwachung auch aus, wenn konkrete Hinweise auf Gewaltbezüge bestehen. Und dies ist laut Angaben des Nachrichtendienstes bei den Staatsverweigerern der Fall.
Spleenig, beliebt und plötzlich radikalisiert
Wie aus einem beliebten und etwas spleenigen Mechaniker ein Entführer werden konnte, ist eine der zentralen Fragen der Ermittlungen. Über Hirz ist inzwischen einiges bekannt.
Der Mann arbeitet dreissig Jahre lang als selbständiger Mechaniker. Er macht sich einen Namen in seinem Metier. Jedenfalls zieht es Kunden nicht nur aus der Schweiz, sondern aus ganz Europa in die Werkstatt im Zürcher Oberland, damit sie ihre Maschinen reparieren lassen können. Auf der seit Jahren nicht mehr überarbeiteten Website seines Betriebs finden sich Angaben zu Düsen und anderen Motorenteilen.
Seine Selbständigkeit, schwärmt er einmal in der Lokalzeitung, wolle er nicht mehr hergeben. Er könne seine Werkstatt einfach schliessen und sich auf den Sattel seiner Maschine setzen und eine Tour machen und irgendwo mit einem Kaffee die Aussicht geniessen.
Als ihn vor einigen Jahren einmal die lokale Wochenzeitung in seiner Werkstatt besucht, betont er, wie wichtig es ihm sei, Dinge zu reparieren, statt sie wegzuwerfen. Er wehre sich gegen die «Wegwerfgesellschaft».
Und er schwärmt von seinem Job: Die Arbeit in der Werkstatt sei kein Abrackern oder Stress, sondern Genuss und Freude. Dafür nehme er auch längere Arbeitstage in Kauf.
Doch während der Corona-Pandemie verändert sich der Mechaniker. Er und seine Partnerin treten aus dem lokalen Gewerbeverein aus. In einem Protokoll im Herbst 2020 hält der Verein fest, trotz Nachfrage habe man keine Begründung für den Austritt erhalten. Möglicherweise ist Hirz da bereits abgedriftet. Anwohner schildern jedenfalls, er sei während der Pandemie schwierig geworden.
Auch die Behörden machen Bekanntschaft mit Josef Hirz. Von einem Jahr auf das andere zahlt er keine Steuern mehr, Betreibungen ignoriert er. Wenn er auf das Amt kommt, dann fangen die Diskussionen an. Den Staat betrachtet er als illegitime, private Firma, und auf Ämtern verwendet er pseudojuristische Dokumente, die auf den einschlägigen Kanälen der Szene verbreitet werden.
Bis er schliesslich zur Tat schreitet.
Eine Freilassung und Ersatzmassnahmen
Rund vier Monate ist Hirz nach der mutmasslichen Entführung in Untersuchungshaft gesessen. Ende Juni haben ihn die Ermittlungsbehörden auf freien Fuss gesetzt. Die Zürcher Staatsanwaltschaft schreibt auf Anfrage, es seien Ersatzmassnahmen angeordnet worden, das Strafverfahren gegen den Mann laufe aber weiter. Es gilt die Unschuldsvermutung bis zu einem rechtskräftigen Verfahrensabschluss. Weitere Angaben macht die Staatsanwaltschaft mit Verweis auf das noch laufende Verfahren nicht.
Zurückgekehrt an seinen Wohnort ist Hirz jedoch nicht. Davon zeugt der Zettel. Und ein Nachbar, der sagt, er habe Josef Hirz schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
Die Liegenschaft, in der Hirz wohnte und arbeitete, gehört seiner Partnerin. Auch sie arbeitet auf dem ehemaligen Fabrikareal. Am Telefon sagt sie zur NZZ, sie wolle nicht mit den Medien reden.
Hinter den Kulissen hat die Freilassung jedoch für einige Hektik gesorgt. Denn die Ämter, die in den letzten Jahren mit dem Mechaniker zu tun hatten, wurden von den Ermittlungsbehörden informiert und zur Vorsicht ermahnt. Welche Gefahr von dem Mann derzeit noch ausgeht, ist unklar.
Das Entführungsopfer kann wieder arbeiten
Beobachter erkennen in der Szene zwei gegenläufige Entwicklungen. Zu diesen Beobachtern gehört auch Thomas Winkler. Er ist Präsident des Zürcher Verbands der Betreibungsbeamten und Leiter des Betreibungsamts in Dietikon. Winkler sagt: «Ein Teil der Staatsverweigerer zieht sich zurück. Sie merken, dass sie nicht weiterkommen mit ihrem Kampf gegen die Behörden.» Bei einem kleinen Teil der Szene beobachtet er jedoch eine weitere Radikalisierung. «Das ist eine beunruhigende Entwicklung.»
Winkler hat nach der Entführung mit dem betroffenen Mitarbeiter aus Pfäffikon gesprochen. Ihm gehe es den Umständen entsprechend gut. Der Mitarbeiter habe nach der Tat professionelle Unterstützung erhalten, inzwischen arbeite er wieder als Betreibungsbeamter.
Die Ämter seien relativ gut geschützt, sagt Winkler. Alle Gemeinden hätten Sicherheitskonzepte für heikle Situationen, die regelmässig überprüft würden. Schwieriger sei es jedoch bei Hausbesuchen oder beim Verlassen des Amtes. Sein Verband bietet deshalb Schulungen im Umgang mit den Staatsverweigerern an.
Winkler unterstützt zudem die Bestrebungen, die Staatsverweigerer vom Nachrichtendienst überwachen zu lassen. «Die Szene ist schwer berechenbar, es braucht einen besseren Überblick.»
Den Umgang mit den Staatsverweigerern bezeichnet Winkler als extrem schwierig. Es sei ein Katz-und-Maus-Spiel. «Das Spezielle an den Staatsverweigerern ist, dass sie vernetzt sind und sich darüber austauschen, wie man sich möglichst renitent verhalten kann.» Es bringe nichts, mit ihnen zu diskutieren. Argumentativ dringe man schlicht nicht durch. «Sie leben in einer anderen Welt.»
So weit wie mutmasslich der 64-jährige Mechaniker aus Hittnau ist in der Schweiz bisher niemand gegangen. Der Nachrichtendienst soll nun helfen, die Staatsverweigerer daran zu hindern, sich ungestört zu organisieren und gewaltsame Aktionen zu planen.