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Die Biologin Ulrike Kämmerer hatte in ihrem Gutachten die Tauglichkeit von PCR-Tests in der Corona-Pandemie geleugnet. Weitere Gutachter in dem Prozess waren Psychologie-Professor Christof Kuhbandner aus Regensburg sowie die Professorin Ines Kappstein, ehemalige Leiterin der Krankenhaushygiene des Klinikums Passau. In ihren Gutachten stellen sie die Wirksamkeit von Corona-Maßnahmen in Frage. Viele der Positionen waren damals bereits durch Studien widerlegt, gegensätzliche Stimmen der wissenschaftlichen Mehrheitsansicht wurden nicht berücksichtigt.
Alle Gerichtsgutachter waren Mitglied desselben "Querdenker"-Vereins
Die Redaktion hat Amtsrichter Christian Dettmar gefragt, warum er ausgerechnet diese Gutachter berufen hat. Eine Antwort erfolgte nicht. Klar ist jedoch, dass alle Gutachter eine Gemeinsamkeit haben: Sie waren vor und nach dem Prozess Mitglieder des Vereins "Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie". Das belegt eine inzwischen veränderte Online-Mitgliederliste des Vereins, deren frühere Versionen die Redaktion einsehen konnte.
In der Selbstbeschreibung des Vereins heißt es: "Wir haben uns während der Coronakrise in unserer Kritik an den überzogenen Beschränkungen zusammengefunden." Und: "Wir bemühen uns um die ideelle Unterstützung Gleichgesinnter." Amtsrichter Dettmar wird auf der Vereinswebseite als "Sensationsrichter" bezeichnet.
Vorsitzender des Vereins ist der ehemalige Mainzer Mikrobiologie-Professor Sucharit Bhakdi, der in der Corona-Pandemie mit Falschbehauptungen über Impfungen auf sich aufmerksam gemacht hat. Ihm wird Antisemitismus vorgeworfen, weil er den jüdischen Staat Israel in einem Interview als "die lebende Hölle" bezeichnet hat. In Nordrhein-Westfalen kandidierte Bhakdi für die "Querdenker"-Partei "dieBasis", für die auch die Würzburger Gutachterin Ulrike Kämmerer in Thüringen kandidiert hatte.
Klage soll auf Telegram gezielt an Weimarer Amtsrichter lanciert worden sein
In einem inzwischen gelöschten Video auf der Vereinsseite, das der Redaktion vorliegt, bezeichnet Bhakdi Deutschland wegen der Ermittlungen gegen Amtsrichter Dettmar und der Durchsuchung bei Ulrike Kämmerer als "Land der Barbaren". Die Durchsuchungen seien "Terror".
Anders sehen dürfte dies das Oberlandesgericht Thüringen (OLG). Das OLG hat Dettmars Beschluss aufgehoben, auch weil das Amtsgericht "rechtsfehlerhaft" gehandelt habe. Demnach habe Amtsrichter Dettmar unrechtmäßig seine Zuständigkeit für den Fall erklärt. Und auch der Bundesgerichtshof hat kürzlich klargestellt: "Die gerichtliche Kontrolle (...) hinsichtlich Infektionsschutzmaßnahmen in den jeweiligen Schulen obliegt hierbei allein den Verwaltungsgerichten."
Die Klage, durch die das Verfahren überhaupt erst in Gang gesetzt wurde, soll zudem gezielt an Dettmar lanciert worden sein, wie Recherchen der "Thüringer Allgemeinen" zu entnehmen ist. Demnach soll eine Anwältin in einer Telegram-Chatgruppe nach Eltern gesucht haben, deren Kindesnachnamen mit den Buchstaben B, E, F, H, I, J, L, Q, R, S, T, U, V, oder X beginnen. Für diese Buchstaben sei am Amtsgericht Weimar laut Verteilungsplan Richter Dettmar zuständig.
Bei ihm sei der Fall nach Klageeinreichung dann auch gelandet – unter Beteiligung eben jener Anwältin, die auf Telegram nach klagewilligen Eltern gesucht habe. "Das heißt, er wurde mutmaßlich gezielt ausgewählt", schreibt die "Thüringer Allgemeine". Die Rechtsanwältin hat auf eine Anfrage dieser Redaktion nicht reagiert.
Parteikollege der Würzburger Gutachterin ist "guter Freund" von Amtsrichter
Weitere Auffälligkeiten rund um den Prozess machen stutzig: So ist die Würzburger Gutachterin Ulrike Kämmerer zusammen mit dem Kabarettisten Ulrich Masuth bei der Bundestagswahl für die Partei "dieBasis" in Thüringen angetreten. Wie Masuth in einem YouTube-Video berichtet, in dem auch Kämmerer zu Gast ist, wurde die Wohnung von ihm und seiner Frau im Zuge der Ermittlungen durchsucht: "Wegen dieses Kennverhältnisses zu Herrn Dettmar, der einfach ein guter Freund von uns ist."
Produziert hat das Video der sogenannte "Corona Ausschuss", eine Initiative gegen die Corona-Maßnahmen, die auch in Unterfranken zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger hat und auffällig viele Verbindungen zum "Sensationsurteil" aufweist. Dort war auf YouTube neben Richter-Freund Masuth und Gutachterin Kämmerer auch schon Rechtsanwalt Gerhard Strate zu Gast. Strate verteidigt Richter Dettmar gegen den Verdacht der Rechtsbeugung. Eine Anfrage der Redaktion nach der Beziehung von Strate und Dettmar zum "Corona Ausschuss" wollten beide nicht beantworten.
Verantwortliche des "Corona Ausschuss" ist laut Webseite die Berliner Anwältin Viviane Fischer. Sie ist bereits mehrfach mit der Würzburger Gutachterin Ulrike Kämmerer auf YouTube aufgetreten und hat sie auch schon rechtlich vertreten. Fischer ist laut Impressum außerdem Verantwortliche des Blogs "2020 News" – der den Mythos des "Sensationsurteils" ursprünglich erst in die Welt gesetzt hatte.
Gerichtsdokumente wurden an "Querdenker"-Netzwerk durchgestochen
"Sensationsurteil aus Weimar: keine Masken, kein Abstand, keine Tests", titelte Fischers Blog am Samstag, 10. April. Im Beitrag wird ausführlich aus dem Beschluss zitiert, was stutzig macht: Der Beschluss wurde laut OLG Thüringen nämlich erst am Montag, 12. April, auf dem "verfahrensrechtlich vorgegebenen Weg" an Verfahrensbeteiligte postalisch verschickt. Fischer ist laut Amtsgericht Weimar aber nicht als Verfahrensbeteiligte bekannt.
Die Redaktion hat das Amtsgericht Weimar gefragt, wann und auf welchem Weg der Beschluss der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Laut Amtsgericht war der Prozess nicht öffentlich. Und: "Verfahrensbeteiligten wurde der Beschluss postalisch zugesandt, was im Normalfall etwa eine Woche dauert. Die elektronische Übermittlung von Gerichtsbeschlüssen sehen die Verfahrensvorschriften (...) nicht vor." Ein konkretes Datum nennt das Amtsgericht nicht.
Wie erhielt also der Blog von Viviane Fischer, Verantwortliche der "Querdenker"-Kanäle und Vertraute der Würzburger Gutachterin Kämmerer, so frühzeitig Zugriff auf den nichtöffentlichen Maskenbeschluss? Das Amtsgericht hat eine entsprechende Anfrage nicht beantwortet.
Anwältin Fischer schreibt: "Der Corona-Ausschuss hat das Dokument über sein Hinweisgebersystem erhalten mit der Bitte um Veröffentlichung über 2020 News." Und: "Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine Kooperation zwischen dem Ausschuss und/oder 2020News und Richter Dettmar."
Die Redaktion hat die Staatsanwaltschaft Erfurt nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen gefragt. Diese wollte aus "ermittlungstaktischen Gründen" keine Auskunft erteilen.
Hinweis der Redaktion: Im Beitrag wurde die Information ergänzt, dass auch der Bundesgerichtshof inzwischen klargestellt hat, dass die gerichtliche Kontrolle von Infektionsschutzmaßnahmen in Schulen den Verwaltungsgerichten und nicht den Familiengerichten obliegt.