In dem Fall könnte Tierabwehrspray in der Tasche tatsächlich hilfreich sein ...
Spoiler
„Stern TV“ ist nicht „Stern TV“
Das, was da am Sonntagabend auf RTL lief, war auf vielen Ebenen misslungen.
Es fing schon damit an, dass diese Fernsehsendung wirkte, als sei sie von Leuten gemacht worden, die noch nie eine Fernsehsendung gemacht hatten. Es ist sicher kein Zufall, dass die „Stern TV“-Produktionsfirma i&u sich noch während der Sendung distanzierte und in den sozialen Medien über die Kanäle von „Stern TV“ darauf hinwies, dass diese Ausgabe nicht von ihr hergestellt wurde, sondern von RTL selbst, „als Gast“ im i&u-Studio.
Man hatte versucht, darin eine Gesprächssituation auf Abstand zu schaffen, worin nach zwei Jahren Pandemie viele Talkshows inzwischen Übung haben. Doch das Ersatzteam von „Stern TV“ hatte nur die schlechte Idee, mehrere fußballfeldgroße Tische in die Mitte zu stellen und darauf Salzgebäck und ein paar miniaturenhaft wirkende „Stern“-Hefte zu drapieren. Die Sessel, in denen man nur die Wahl hatte, unbequem oder unvorteilhaft zu sitzen, waren so angeordnet, dass sich die Gesprächspartner teilweise nicht ohne Verrenkungen sehen konnten.
(Keine Sorge: Ich komme gleich auf die Corona- und „Querdenken“-Sache zurück, aber die Gedankenlosigkeit bei der Produktion dieser Show war beeindruckend umfassend.)
Irgendjemand hatte die abwegige Idee, eine Live-Band ins Studio zu stellen, bestehend aus Posaune (!), E-Gitarre, Bass und Schlagzeug, um knapp 700-mal die „Stern TV“-Titelmusik zu spielen, die sich schlechter als ungefähr jede andere Musik auf der Welt dazu eignet, von einer Liveband nachgespielt zu werden. Frauke Ludowig und Nikolaus Blome, die anstelle von Steffen Hallaschka moderierten, verhedderten sich gleich am Anfang bei der Themenvorstellung in einem überambitionierten Wechselspiel aus Live-Musik, Moderation und Filmschnipseln – abgeschlossen von einem kleinen Stück Bauerntheater, in dem sie unüberzeugend spontan ihre unterschiedlichen Positionen zum Fall des Tennisspielers Novak Djokovic vortrugen, dem die Einreise nach Australien verwehrt wurde.
Wann reden wir endlich wieder über Tennis?
Die Probleme mit Technik, Regie, Casting und Redaktion erreichten einen ersten frühen Höhepunkt beim Versuch, mit dem zugeschalteten Fußballtrainer Dragoslav Stepanovic über Djokovic zu reden. Verständigungsversuche scheiterten an allem: an Stepis gebrochenem Deutsch, der Zeitverzögerung, dem ständigen Dazwischenreden irgendwelcher Leute in der Runde – und nicht zuletzt an der wilden Entschlossenheit aller anderen, es ausschließlich bei einem empörten WIE KANN DER NUR zu belassen, anstatt vielleicht den durchaus widersprüchlichen Aspekten dieses Dramas oder dem Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Eskalation auch von australischer Seite einen winzigen Raum zu lassen. Es half dabei natürlich nicht, dass man als Widerpart nur jemanden wie Stepanovic hatte, der eine große Verschwörung witterte, die verhindern sollte, dass man eine Statue für Djokovic aufstellen oder gar das Stadion nach ihm unbenennen müsste.
Vor allem Frauke Ludowig, aber eigentlich die ganze Besetzung schaffte es nicht, auch nur für einen Moment die eigene Indigniertheit zu ignorieren und auf den Fall mit den Augen anderer zu sehen. Ludowig fragte sich und alle nur fassungslos, wie Djokovic seine eigene Vorbildhaftigkeit so verspielen konnte – ohne zu sehen, dass er ja gerade in seinem Widerwillen, sich den als willkürlich empfundenen Maßnahmen zu beugen, für viele ein Held ist. Aber nein, wie kann er nur, wie kann er nur.
Ein interessanter performativer Widerspruch entstand, als der Gast Joachim Llambi, nachdem man aufgeregt, ausufernd und selbstgerecht wütend über den Fall Djokovic gesprochen hatte, sagte, wie sehr er sich darauf freue, wenn die Australian Open endlich beginnen und „wir endlich über Tennis reden und nicht mehr über Djokovic oder irgendwelche anderen Sachen“. Wer ihn gezwungen hatte, in die Sendung zu kommen, um über alles andere als Tennis zu reden, blieb offen, aber als prominenter Tanzwertungsrichter (Blome: „aus dem ganzen RTL-Programm bekannt“) kommt man um diese lästige Pflicht offenbar nicht herum.
Starke Haltung, mächtig Dampf
Neben ihm lungerte aus noch unklareren Gründen die Schauspielerin Elena Uhlig ebenfalls dauerhaft in der Sendung herum, während alle anderen Gäste kamen und gingen; manche sogar ohne große Zeit dazwischen. (Michael Ott, der als Kritiker der FC-Bayern-Führung bekannt wurde, konnte kaum drei Sätze sagen, bevor er von Frauke Ludowig mit den Worten „Wir könnten noch endlos über das Thema diskutieren“ abgewürgt wurde und ohne Verabschiedung aus der Sendung verschwand.)
Uhlig wurde in der Sendung vorgestellt als „Schauspielerin mit ganz starker Haltung und mächtig Dampf in der Stimme“. Ihre Funktion war es offenbar, die wenigen Momente, in denen die Auseinandersetzung sachlich oder inhaltlich fundiert zu werden drohte, sofort durch ahnungslose, laute Empörerei zu unterbrechen.
(Blome erklärte eingangs, Uhlig und Llambi seien als zwei „meinungsstarke Mitstreiter“ da, „damit wir hier richtig reden können, so wie Sie zu Hause ja auch über die Themen reden“. Diese Unterstellung möchte ich mir verbitten.)
Wer hat Deutschland gespalten?
Irgendwann wurden die Zuschauer aufgerufen, an einer Umfrage teilzunehmen: „Hat Corona Deutschland gespalten?“ Überleitung Ludowig: „Gleich sehen Sie einen Mann, der möglicherweise dafür sorgt.“ Gemeint war Marcus Fuchs, der in Dresden „Querdenker“-Demonstrationen organisiert. Als später das Ergebnis vorlag (85 Prozent sagen Ja), schien Ludowig das als entsprechend vernichtendes Urteil über ihn und seine Gefolgsleute zu interpretieren.
Es war ein weiteres Beispiel, wie sie komplett verhaftet war in ihrer Weltsicht und nicht die Möglichkeit zuließ, dass „Deutschland“ auch durch die Corona-Maßnahmen der Regierung „gespalten“ wird. Ganz unabhängig davon, ob man diese Maßnahmen für richtig oder falsch, für notwendig oder verfassungswidrig hält: Dass solche Einschnitte – und insbesondere Überlegungen, eine Impfpflicht einzuführen – zu einer Polarisierung führen, ist doch kein Wunder.
Die ganze Sendung war geprägt vom Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, und von einer damit verbundenen Denkfaulheit: Wir wissen, dass wir die Guten sind, also müssen wir uns gar nicht die Mühe geben, nach Argumenten, Belegen, Fakten zu suchen.
Das führte zu der paradoxen Situation, dass der „Querdenker“ gleichzeitig dämonisiert und verharmlost wurde. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Aussagen fand nicht statt, weil man sie offenbar selbstentlarvend fand. Eine solche Auseinandersetzung wäre aber, wenn man den Mann schon einlädt, unbedingt notwendig gewesen. Man müsste schon erklären, woher die von ihm unter Bezug auf das RKI verbreitete Behauptung stammt, dass Ungeimpfte sicherer vor einer Infektion mit der Omikron-Variante sind als Geimpfte, und warum sie falsch ist. Es reichte dann nicht, ihn auszulachen, in dem guten Gefühl, recht zu haben, auch wenn man konkret nicht sagen könnte, warum.
„Das ist schon okay so“
Man müsste die Debatte darum, welche Einschnitte in persönliche Grundrechte zulässig sind, auch im Streit mit einem „Querdenker“ schon auf einem anderen Niveau führen als Nikolaus Blome, der sie zusammenfasste mit: „Aber das Verfassungsgericht am Ende hat ja jetzt vor kurzem in Bausch und Bogen zumindest ungefähr gesagt: Das ist schon okay so.“ Man müsste auf Fuchs‘ Behauptung, die Impfung schütze „nachweislich weder vor Ansteckung, noch vor Übertragung, noch vor Tod“, schon mehr zu erwidern haben als eine Pointe wie Blome: „Herr Fuchs, nichts schützt vor dem Tod – weil: Der kommt immer.“
Vorher waren zum Thema Impfen schon ein Mann und seine Mutter da. Sie verzweifelt daran, dass er sich nicht impfen lassen will. Blome fragte den Sohn: „Aber jetzt mal alle Vernunft beiseite gelassen. Ihre Mutter hatte ja sehr von Herzen appelliert: Lass dich impfen. Und das können Sie nicht Ihrer Mutter zuliebe tun?“
Man kann ja der Meinung sein, dass alle Argumente für das Impfen hinlänglich ausgebreitet wurden und es nun vernünftig nichts mehr zu diskutieren gibt. Aber wenn man dieser Meinung ist, kann man nicht einen Impfskeptiker oder -gegner einladen und seiner Ablehnung nichts entgegensetzen als Unverständnis. Und wäre es nicht schön, in Bezug auf die Regierungsbeschlüsse mehr zu bieten zu haben als die Untertanen-Haltung, dass man sich natürlich an alles halten muss – sondern einen guten, fundierten Streit darüber, was sinnvoll ist, was nicht und was vielleicht nicht mehr?
Es geht ja nicht darum, Leute wie den Dresdner Ober-„Querdenker“ zu überzeugen, sondern ein interessiertes, vielleicht skeptisches Publikum, und dabei ist eine zur Schau gestellte, aber ohne Argumente unterfütterte Selbstgerechtigkeit gar nicht hilfreich. Faktenchecker mussten dann im Nachhinein tun, wozu Blome in der Sendung nicht in der Lage war. Statt jemanden einzuladen, der sich auskennt, hatte man halt leider nur Elena Uhlig da herumsitzen, die auch in diesem Fall glaubte, mit Empörung ausreichend gut bewaffnet zu sein.
Als der Satz fiel, dass manche der Protestierenden, ebenso wie Neonazis, einen „Systemwechsel“ forderten, sagte sie: „Was heißt Systemwechsel? Wir haben jetzt eine andere Regierung, als wir vorher hatten.“ Sie fügte hinzu, dass man „auch die Medien angreifen“ müsse für die Aufmerksamkeit, die sie den Protesten verschafften; „die das so laut mitmachen, dass der, der zuhause sitzt und sich gut verhält, denkt: ‚Oh Wahnsinn, was ist da los?‘ – Da ist gar nix los! Null.“ Was falsch, dumm und gefährlich ist.
„Wann ist mal genug mit Widerstand?“
Geholfen hätte vielleicht auch, jemanden dabei zu haben, der sich mit Fuchs und der Szene auskennt und der dessen Nähe zu rechtsradikalen Akteuren hätte deutlich machen können. Dadurch, dass Blome mehrmals fragte, ob es ihm nicht unangenehm sei, dass sich Rechtsextremisten seinen Kundgebungen anschließen, entstand eher der irreführende Eindruck eines grundanständigen besorgten Bürgers, der sich nur nicht genug Gedanken macht, wer da sonst noch so mitläuft.
Blome rechnete Fuchs vor, dass sich in Umfragen fast 80 Prozent für die Maßnahmen aussprächen oder noch schärfere wollten; dass die Parlamente „ganz viele Beschlüsse gefasst“ hätten; dass die Gerichte „ein paar Sachen gekippt, aber im Großen und Ganzen das alles bestätigt“ hätten:
„Und ich frag mich: Wann ist eigentlich mal gut mit Widerstand, wie Sie das nennen? Sollte es nicht langsam mal gut sein, wenn die Mehrheit … Sollten die Menschen auf der Straße, die Sie dahin bringen, nicht sagen: ‚Okay, wir haben verstanden, die Mehrheit sieht das so, dann machen wir das halt so‘?“
Was für eine traurige, undemokratische Haltung ist das? Als gäbe es nicht ein Recht zu demonstrieren – gerade, wenn man in der Minderheit ist. Als würden nicht die Maßnahmen, gegen die diese Leute demonstrieren, auch immer noch fortdauern und damit der Anlass für ihre Demonstrationen. Als würden sich die Bedingungen nicht fortlaufend ändern und damit der Bedarf, über die Konsequenzen daraus zu streiten.
Gerade weil die Radikalisierung dieser Szene so gefährlich ist, wäre es doch wichtig, ebenso unmissverständlich festzuhalten, dass es selbstverständlich legitim ist, friedlich und unter Einhaltung der Hygienevorschriften auf die Straße zu gehen, um gegen empfundene Ungerechtigkeiten (oder was auch immer) zu demonstrieren. Und dass die Legitimation nicht dadurch abnimmt, dass man in der Minderheit ist oder jetzt wirklich schon ganz schön lange demonstriert.
Damals, als noch Tacheles geredet wurde
Und das alles, und damit sind wir wieder auf der harmloseren handwerklichen Ebene, fand auch noch um diesen albernen „Heißen Stuhl“ herum statt, auf den man Fuchs gesetzt hatte und der leider so stand, dass im Hintergrund dauernd die überflüssige Band im Bild war, die auch nicht wusste, was sie tun sollte. In einem Einspielfilm hatte man vorher nochmal an die wilden Anschreizeiten aus den Jugendjahren von RTL erinnert, „als noch Tacheles geredet wurde“. Blome hingegen bat Fuchs, auf dessen Demonstrationen Journalistinnen und Journalisten immer wieder bedrängt werden, um Entschuldigung: „Sehen Sie es mir nach, wenn ich einmal schärfer werde.“
Später bekamen dann alle noch Masken auf die Augen und mussten einen Überraschungsgast erraten. Es sollte eine Anspielung an die „Stern“-Rubrik „Was macht eigentlich …?“ sein, und die Antwort auf die Frage lautete wenig überraschend: „Taucht nächste Woche mit einer Sendung im RTL-Programm auf.“ (Gaby Köster.)
Vor ein paar Tagen hat RTL den Zeitschriftenverlag Gruner+Jahr und damit auch den „Stern“ vollständig geschluckt. Vielleicht war die unfreundliche Übernahme von „Stern TV“ auch ein Vorgeschmack auf das, was dieser neue Fernseh-Print-Online-Riese nun gemeinsam produzieren wird. Es erinnerte an Fernsehversuche in den 1980er-Jahren, als die Verlage dachten, sie könnten das auch – mit der ganzen Hybris und Ahnungslosigkeit. Es war ein umfassendes Debakel.