Besonders skurril auch die Impfverweigerer, die laut einem Bericht im Spiegel an die bulgarische Schwarzmeerküste geflüchtet sind. Bulgarien hat die höchste Zahl an Corona-Toten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, was die neuen Auswanderer aber offenbar nicht stört. Ihnen ist die niedrige Impfquote von um die 30 Prozent wichtiger. Spricht aus Sicht eines überzeugten Impfgegners für den wachen Widerstandsgeist der einheimischen Bevölkerung. Wäre die Lage nicht so ernst, könnte man das für eine Parodie auf die Geschichte halten. Als es die DDR noch gab, war es im rechten politischen Lager ein gern verwendetes Totschlagargument, allen, die man für irgendwie linksverdächtig hielt, entgegenzuschleudern: Geh doch rüber, wenn's dir hier nicht passt. Und jetzt machen sich rechte Verschwörungsschwurbler auf gen Osten, in die vermeintliche Freiheit.
Wer das liest, sieht und hört, kann sich schon fragen: Wird mit den ganzen Warnungen vor einer Spaltung der Gesellschaft, wenn man die Ungeimpften zu sehr unter Druck setzt, nicht genau den Falschen der Kopf getätschelt? Die Spaltung der Gesellschaft, die der Bundeskanzler scholzomatenhaft in Abrede stellt - sie ist längst da. Und zwar hat sich ein kleiner Teil selbst abgespalten und lebt in einem Paralleluniversum, in dem Botschaften aus obskuren Internetkanälen wahr, Informationen aus offiziellen Quellen, die durch eine Vielzahl von wissenschaftlichen Studien belegt sind, hingegen grundsätzlich Lügen sind. Die angebliche Ausgrenzung ist in Wahrheit eine Selbstausgrenzung.
Vielleicht sollte das Augenmerk allmählich dem wachsenden Zorn der Geimpften gelten
Die Frage ist deshalb nicht so sehr, wieviel Verständnis man Leuten entgegenbringen muss, die sich auch durch noch so viele Appelle und wissenschaftlich gestützte Fakten nicht von einer Impfung haben überzeugen lassen. Sondern eher, wo dieses Verständnis enden muss. Wie viel Empathie muss man für jemanden haben, der ernsthaft davon überzeugt ist, dass die Impfung ein tödlicher Giftcocktail ist, obwohl doch Milliarden bereits verabreichter Impfdosen das Gegenteil beweisen? Wie viel Verständnis muss man für Leute haben, die nichts dabei finden, Seite an Seite mit Rechtsextremisten zu demonstrieren, denen es nicht um die Abschaffung der Impfung, sondern um die Abschaffung der Demokratie geht? Wie viel Verständnis muss man für diejenigen aufbringen, die von einer angeblichen Diktatur faseln, aber selber, so wie in München, den gerichtlich erlaubten Demonstrationsort ablehnen, weil sie lieber durch die Straßen ziehen und die Polizei foppen wollen?
Statt sich immer nur darum zu sorgen, dass sich radikalisierte Impfgegner nicht noch weiter radikalisieren, sollte das Augenmerk vielleicht allmählich auch mal dem wachsenden Zorn und Frust der Geimpften gelten. Was passiert eigentlich, wenn die Mehrheit den Kurs im Kampf gegen die Pandemie nicht mehr mitträgt, weil sie es satt hat, dass alle Anstrengungen von einer Minderheit immer wieder torpediert werden?
Corona-Impfung: Frankreichs Präsident ging Impfgegner heftig an - und die nahmen seine Worte gerne auf: Er werde Emmanuel Macron ebenfalls "an♥♥♥n", schrieb dieser Demonstrant auf Schild.Detailansicht öffnen
Frankreichs Präsident ging Impfgegner heftig an - und die nahmen seine Worte gerne auf: Er werde Emmanuel Macron ebenfalls "an♥♥♥n", schrieb dieser Demonstrant auf Schild. (Foto: Alain Pitton via
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Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat mit seiner Attacke auf die Ungeimpften, deren rüde Wortwahl mit Sicherheit wohlkalkuliert war, diesem Zorn ein Ventil gegeben. Viele Medien haben sich geniert, Macrons Wutanfall möglichst wortgetreu zu übersetzen. Denn Macron hat nicht etwa gesagt, er habe Lust, die Ungeimpften zu ärgern, zu nerven oder unter Druck zu setzen. Sondern er hat gesagt, er habe Lust, sie "anzu♥♥♥n". Ein deutscher Politiker, der ähnlich drastisch formulieren wollte, könnte sagen, er wolle den Ungeimpften jetzt mal ordentlich auf den Sack gehen oder sie sollten sich gefälligst verpissen. Die Aufregung wäre ähnlich groß wie in Frankreich.
Aber wenn die Ängste der Ungeimpften ernst genommen werden sollen, dann muss auch die Wut der Geimpften als berechtigte Emotion ins politische Kalkül gezogen werden. Dann muss in der öffentlichen Debatte endlich denen mehr Verständnis und Empathie entgegengebracht werden, die in der Pandemie die meisten Opfer gebracht haben. Dem medizinischen Personal, das in den Krankenhäusern jetzt seit fast zwei Jahren um das Leben von Corona-Patienten kämpft. Den Pflegekräften in Alten- und Pflegeheimen. Den Kindern und ihren Eltern, die keinen normalen Schul- und Kindergartenalltag mehr kennen. Den Studenten und Studentinnen, die statt in Hörsälen und Seminarräumen einsam vor ihren Bildschirmen sitzen. Die Praktikantinnen und Praktikanten, die ihre Kollegen nur in kleinen Zoom-Vierecken sehen. Der Kulturbranche, der die Zuschauer und Zuhörer fehlen. Den Gastronomen und Geschäftsinhabern, die vor der Pleite stehen oder sie schon erleiden mussten. Und vielen anderen mehr.
Jedes Bundesland hat sein eigenes Ding gemacht, aber das Virus war überall das Gleiche
Die Politik hat die Eskalation nicht verursacht, auch in anderen Ländern gibt es militante Impfgegner. Aber sie hat dazu beigetragen. Nicht nur wegen der Fehler, die im Pandemie-Management ohne Frage gemacht worden sind, nicht nur wegen der Kakophonie unter den Ministerpräsidenten, die zu einem kaum durchschaubaren Flickenteppich an Maßnahmen geführt hat. Jedes Bundesland hat sein eigenes Ding gemacht, aber das Virus war in jedem Bundesland das Gleiche.
Von Anfang an hat es an einer überzeugenden Kommunikation im Kampf gegen der Pandemie gefehlt. Abgesehen von einem kurzen Moment, als Angela Merkel im Fernsehen den Satz gesagt hat: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst", ist es der Politik nicht gelungen, so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl im Kampf gegen das Virus zu erzeugen. Wer nicht vermitteln kann, warum es richtig ist, dafür zu sein, erleichtert jenen das Geschäft, die aus unterschiedlichen Motiven von Haus aus dagegen sind.
Immerhin ist die Politik, aufgeschreckt durch Morddrohungen und Fackelaufzüge, jetzt aufgewacht und lässt die Demonstranten nicht mehr einfach gewähren wie am Anfang in Sachsen. Aber auch die Zivilgesellschaft muss aufwachen. Zarte Anfänge gibt es, in einzelnen Städten halten Impfbefürworter dagegen. Aber das reicht nicht. Wenn sich Minderheiten immer radikaler gebärden, darf die Mehrheit nicht einfach schweigen, sondern muss auch mal zeigen, dass sie die Mehrheit ist. Wo sind die Parteien, wo sind die Gewerkschaften, wo sind die Kirchen, wo sind die kommunalen Autoritäten aus Politik und Gesellschaft?
Als vor 30 Jahren die Flüchtlingsheime brannten und fremdenfeindliche Parolen immer lauter wurden, hat es in München eine Lichterkette mit 400 000 Teilnehmern gegeben, ähnliche Veranstaltungen in anderen Städten folgten. Natürlich lösen solche Symbole die Probleme nicht. Aber sie setzen ein unübersehbares Zeichen. Ein solches Zeichen, gegen Verschwörungsgeschwätz und Wissenschaftsfeindlichkeit, wäre auch jetzt nötig. Sicher, den harten Kern der Corona-Leugner und Impfgegner würde man nicht bekehren. Aber, um mit Macron zu sprechen, man würde ihn damit gewaltig an♥♥♥n.