Da liest man heute Verwirrendes.
Spoiler
Katastrophenschutz
Wie Deutschland gegen das beste Warnsystem der Welt kämpfte
Cell Broadcasting ist allen Warn-Apps überlegen. Es hätte Leben retten können. Doch das Wirtschaftsministerium hat die verpflichtende Einführung verhindert.
Moritz Eichhorn, 23.7.2021 - 20:00 Uhr
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DPA
Heute will keiner mehr gegen Cell Broadcasting gewesen sein.
Berlin - Wer die Cell-Broadcast-Technologie einmal in Action gesehen hat, weiß, wieso sie das beliebteste Handywarnsystem der Welt ist. Erreicht eine Warnmeldung dabei ein Handy, stößt das Gerät, selbst wenn es stummgeschaltet ist, einen einzigartigen gellenden Sirenenton aus. Gleichzeitig erscheint auf dem Bildschirm eine Warnmeldung. Im Katastrophenfall können dort präzise Anweisungen stehen: Bleiben Sie zu Hause, stellen Sie sofort den Strom ab. Oder: Verlassen Sie umgehend das Gebäude, begeben Sie sich auf höher gelegenes Terrain. Auch Links zu weiterführenden Informationen können enthalten sein. Und um diese Alarmnachricht zu empfangen, benötigt das Gerät weder eine Internetverbindung, noch muss es ein Smartphone sein. Selbst über ein Nokia aus den 90er-Jahren lässt sich noch heute vor Katastrophen warnen. Nur Empfang muss es haben.
Das Signal verstopft auch keine anderen Kommunikationskanäle oder erreicht Geräte nur mit Verzögerung. Denn jeder Mobilfunkmast sendet auf einer gesonderten Frequenz an all die Mobiltelefone, die sich in seinem Einzugsgebiet befinden. Selbst der Datenschutz macht hier zur Abwechslung keine Probleme. Der Kontakt findet nur in eine Richtung statt, nichts Personenbezogenes wird gesammelt.
Kein Wunder also, dass Länder wie die Vereinigten Staaten oder Japan, die regelmäßig vor Naturkatastrophen von Hurricanes über Waldbrände bis hin zu Erdbeben und Tsunamis warnen müssen, auf Cell Broadcasting schwören. Denn keine App kann all das. Doch als vor zwei Wochen in Nordrheinwestfalen und Rheinland-Pfalz Starkregen in kurzer Zeit aus Rinnsalen reißende Ströme machte und, Stand heute, 176 Menschen ums Leben kamen, warnte Cell Broadcast nicht.
Denn in Deutschland wurde die Technik in den 2000er Jahren abgeschaltet. Veraltete sei sie, hieß es. Bis letzte Woche. Seitdem überholen sich Politiker mit Forderungen nach der Wiedereinführung. Der Chef des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz, Armin Schuster, kündigte zu Beginn der Woche eine Prüfung und Machbarkeitsstudie bis Herbst an. Seit Donnerstag will Horst Seehofer das System sogar noch vor der Bundestagswahl. Verkehrsminister Scheuer erklärte, er sei sowieso dafür, am politischen Willen habe es bisher nur gemangelt. Und Armin Laschet ließ zuletzt wissen, dass er Cell Broadcasting notfalls sogar im Alleingang in Nordrhein-Westfalen einführen würde.
Das Europäische Parlament wollte Cell Broadcasting - Berlin nicht
Das ist überraschend, denn es war die Bundesregierung, die sich vor dreieinhalb Jahren dafür eingesetzt hat, dass Cell Broadcast in der Europäischen Union nicht verpflichtend eingeführt wird. Damals, im Herbst 2017, wurde in Brüssel über die Zukunft der Katastrophenwarnung beraten. Das Europäische Parlament hatte vorgeschlagen, dass die Technik EU-weit Standard wird. Doch Dokumente, die der Berliner Zeitung am Wochenende vorliegen, zeigen, dass die deutschen Verhandlungsführer in Brüssel Weisung aus Berlin hatten, auf Alternativen zum Cell Broadcast zu drängen.
Das liest sich dann so: „Insbesondere könnte ein verpflichtendes, bestimmtes System zu einer großen Komplexität, hohen Kosten und einem hohen administrativen Aufwand führen.“ Oder auch: „Eine Initiative nach der gegenwärtigen Formulierung des Europaparlaments birgt Rechtsunsicherheiten und Unsicherheiten mit Blick auf die Folgen für die betroffenen Anbieter. Viele Fragen müssen noch beantwortet werden.“ Man hege „große Skepsis mit Blick auf ein komplexes verbindliches System“.
Postboten liefern Pakete, auch wenn die Brücke hinter ihnen eingestürzt ist
Wieso ein System, das es bereits gab und das in Frankreich, Italien, Griechenland, Lettland und Rumänien einwandfrei funktioniert, in Deutschland solche Probleme verursachen sollte, erschließt sich Insidern nicht. Malte Spitz, Digitalexperte der Grünen, nennt die Gründe „vorgeschoben“. Die Bundeskanzlerin hatte auf ihrer Pressekonferenz in Bad Münstereifel argumentiert, dass Cell Broadcasting auch Nachteile besitze: Beispielsweise würde es nicht mehr funktionieren, wenn Wassermassen bereits Mobilfunkmasten weggerissen hätten. Eine App hingegen könnte so lange warnen, wie im Haus Wlan vorhanden sei. Doch dieses Argument lässt Spitz nur bedingt gelten. Denn sei das Broadcasting einmal ausgelöst, sende der Mast so lange, bis er keinen Strom mehr hat. „Das ist wie bei einem Postboten, der über eine Brücke gegangen ist, die hinter ihm einstürzt. Seine Post kann er immer noch austragen.“ Und wenn der Mobilfunkmast keinen Strom mehr habe, sei es auch unwahrscheinlich, dass das Wlan noch funktioniert.
Was wie freundliche Hinweise klingt, hört sich im Jargon europäischer Diplomatie wie eine harte Position an. Hier wird klar, Deutschland wollte kein verpflichtendes Cell Broadcasting. Und Deutschland, einer der Motoren der Europäischen Union, hat großes Gewicht.
Im Dezember 2018 wurde die EU-Richtlinie, auch Codex genannt, die bei den Verhandlungen herausgekommen ist, verabschiedet. Dort heißt es zum Thema Warnung im ersten Absatz, dass Mitgliedsstaaten bis zum 21. Juni 2022 sicherstellen müssen, dass, wo möglich, Cell Broadcasting eingeführt wird. Im zweiten Absatz aber schlagen sich die deutschen Bedenken nieder: „Ungeachtet des Absatzes 1 können die Mitgliedstaaten festlegen, dass öffentliche Warnungen über öffentlich zugängliche elektronische Kommunikationsdienste, bei denen es sich weder um die in Absatz 1 genannten Dienste noch um Rundfunkdienste handelt, oder über eine über einen Internetzugangsdienst verfügbare mobile Anwendung übertragen werden […]“, sofern sie gleichwertig sind. Anders formuliert: Nur Apps, die genauso gut warnen wie Cell Broadcasting, dürfen eingesetzt werden. Im Juni 2020 veröffentlichte die zuständige EU-Behörde Kriterien für die Prüfung der Gleichwertigkeit. Bisher gibt es kein Ergebnis.
Verkehrsministerium sieht Wirtschaftsministerium in der Verantwortung
Federführend für die Weisung an die Verhandlungsführer in Brüssel waren damals das Bundeswirtschafts- und das Bundesverkehrsministerium. Das Verkehrsministerium sieht sich aber nicht in der Verantwortung. Auf unsere Anfrage, weshalb das Ministerium sich gegen die verpflichtende Einführung von Cell Broadcasts in der gesamten EU eingesetzt habe, heißt es: „Das BMVI hat sich nicht dagegen ausgesprochen, dass Cell Broadcasting in Deutschland eingesetzt wird.“ Das Verkehrsministerium verweist auf die Kollegen: „Die Richtlinie wurde in geteilter Zuständigkeit erarbeitet. Für den von Ihnen erwähnten Teil des Codex bitten wir Sie, sich an das zuständige Bundeswirtschaftsministerium zu wenden.“
Das Bundeswirtschaftsministerium „kommentiert grundsätzlich weder Verhandlungsstände noch Abstimmungsverfahren zwischen den Ressorts oder auf europäischer Ebene – auch nicht im Nachhinein“, wird mitgeteilt. Unabhängig davon sei der Codex aber „sachgerecht“. Es wird auf die Prüfung der Gleichwertigkeit verschiedener Warnmittel verwiesen, die bekanntermaßen andauert.
Doch bei der Verantwortung will man nicht ganz alleine dastehen. „Die Zuständigkeit für Bevölkerungsschutz und öffentliche Warnsysteme liegt auf Bundesebene beim Bundesinnenministerium. Das Bundeswirtschaftsministerium ist zuständig hinsichtlich des Telekommunikations-Rechts, das bei Anpassungen des öffentlichen Warnsystems ggfs. ebenfalls anzupassen wäre. Sollte es die Entscheidung geben, Cell Broadcasting in Deutschland als Warnsystem einzuführen, wird das BMWi das BMI bei der Umsetzung selbstverständlich mit ganzer Kraft unterstützen, soweit Telekommunikationsdienste betroffen sind.“ So diffundiert die Verantwortung.
Wollte Deutschland bei der Warnung Geld sparen?
Zumindest verteidigt das Haus von Peter Altmaier die EU-Richtlinie. Doch wieso wird eine so offensichtlich schwächere Technologie wie die Warn-App gegen das bewährte Cell Broadcasting in Schutz genommen? Einen Hinweis gibt ein weiterer Punkt der Weisung. Dort steht: Statt verpflichtenden Cell Broadcastings plädiere man für „Offenheit für flexiblere, kostengünstigere und z.T. schon vorhandene Lösungen wie z.B. ,warn app system‘“. Die Bundesregierung hatte in Form von Nina bereits 2016 eine Warn-App entwickelt – also zwei Jahre vor Einführung der EU-Richtlinie. Wollte man nicht noch einmal Geld ausgeben?
In der Diskussion der letzten Woche tauchte mehrfach das Argument hoher Kosten des Cell Broadcasting auf. Armin Schuster hatte von 20-40 Millionen Euro für eine Wiedereinführung gesprochen. Doch die App Nina soll allein bis 2016 in der Entwicklung ungefähr 20 Millionen Euro gekostet haben. Und auch in den vergangenen fünf Jahren entstanden Kosten. Außerdem ist gar nicht sicher, ob die Bundesregierung überhaupt zahlen müsste. Zur Debatte steht, ob die Mobilfunkkonzerne nicht einfach per Verordnung dazu verpflichtet werden können. „Die Bundesregierung prüft derzeit, ob und ggf. unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen eine verpflichtende Einführung der Cell Broadcasting Technologie erfolgen kann. Den Ergebnissen dieser Prüfung können wir nicht vorweggreifen“, heißt es dazu aus dem Wirtschaftsministerium.
Plötzlich wollen alle Cell Broadcast und zwar ganz schnell
Bei der Telekom lösten die Forderungen nach Wiedereinführung von Cell Broadcasting zu Anfang der Woche übrigens eher verhaltene Reaktionen aus. Am Donnerstag revidierte der Vorstandsvorsitzende Tim Höttges die Haltung des Unternehmens jedoch in einem Eintrag auf dem Karrierenetzwerk Linkedin: „Cell Broadcast, also die Warnung per SMS, muss ein Teil des Warnsystems sein. Wir können das System aufbauen.“ Bei der Telekom wollte man sich auf unsere Anfrage darüber hinaus nicht zu Cell Broadcasts äußern. Mit Horst Seehofer sprachen die Mobilfunkkonzerne jedoch am Freitag. Er treibt die Implementierung offenbar voran.
Denn Tatsache ist, dass die Warn-Apps in der Flutkatastrophe ihren Zweck nicht erfüllten. Weder die Nina-App der Bundesregierung noch die Katwarn-App des Fraunhofer-Instituts haben rechtzeitig genügend Leute gewarnt. Das ist nicht überraschend, denn Nina wurde in Deutschland nur neun Millionen Mal heruntergeladen. Nur zehn Prozent der Bevölkerung werden von Warnapps erreicht, sagen Experten. Auf Drängen des ZDF stellte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz jüngst alle Warnungen aus den Tagen der Flut auf seine Webseite. Dabei zeigte sich, dass Nina im besonders schwer betroffenen Kreis Ahrweiler keine einzige Warnung verschickt hatte. Nur von Katwarn kamen Warnungen, obwohl die Systeme eigentlich verbunden sein sollen. Derzeit wird noch nach den Ursachen geforscht. Sie können auch in menschlichen Versäumnissen liegen. Apps und Cell Broadcasts müssen von Menschen ausgelöst werden. Doch in den Niederlanden, wo es ebenfalls Überflutungen, wenn auch in geringerem Ausmaß, gab, kam kein Mensch ums Leben. In den Niederlanden wird mit NL-Alert gewarnt. So nennen sie dort Cell Broadcasting.
Deutschland war mal Weltmeister im Organisieren.
Gut, einerseits gefällt es, wenn Deutschland beim militärischen Organisieren nicht mehr Weltmeister ist.