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Wer diesen Gespensterprozess verfolgte, musste nicht überrascht über diese Wendung und diese Zuspitzung sein. Überrascht waren diejenigen, die zur Eröffnung der Hauptverhandlung noch zahlreich mit Kameras und Laptops erschienen waren, sich dann aber bald wieder von der Veranstaltung verabschiedeten. Die etablierte Presse floh regelrecht, als sie erkannte, dass der Prozess nicht zum Schlachtfest gegen die verdammten Corona-Kritiker und einen ihrer Anführer taugt. Jetzt waren sie wieder für einen Tag da, aber ihre alten Fragen gehen ins Leere.
Um gegen Ballweg, eines der Gesichter der Corona-Proteste, vorzugehen, musste die Staatsanwaltschaft zu der aberwitzigen Konstruktion greifen, der Querdenken-Gründer habe seine eigenen Anhänger betrogen. Doch die Strafverfolgungsbehörde kann nicht einmal die einfachsten Tatsachen präsentieren.
Wie viel Geld wurde für Querdenken gespendet? Wie viel Geld wurde ausgegeben? Wie viel soll veruntreut worden sein? Und wofür? Das war Gegenstand monatelanger Ermittlungen einer mehrköpfigen Ermittlungsgruppe namens „Kreuz“. Doch nichts ist geklärt, die Zahlen der Staatsanwaltschaft konnten die Ermittlungen nicht bestätigen.
Wie die Hütchenspieler
Der Polizeioberkommissar M., Finanzermittler des Polizeipräsidiums Stuttgart, war zuständig für die Zusammenstellung der Einnahmen von Querdenken. Auf dem Querdenken-Konto sollen 1,222 Millionen Euro eingegangen sein, erklärte er zunächst. Auf Nachfrage von Ballweg-Verteidiger Ralf Ludwig über die gesamte Schenkungssumme nannte er dann den Betrag von - gerundet - 1,385 Millionen Euro.
Ludwig: Laut Staatsanwaltschaft beträgt die Spendensumme knapp 1,27 Millionen Euro, hinzu kommen Bareinzahlungen über 205.000 Euro, was zusammen 1,474 Millionen Euro ergibt. Können Sie das erklären?
POK M.: Nein, das kann ich nicht erklären.
Ludwig: Können Sie die 205.000 Euro erklären?
POK M.: Nein.
Dasselbe Spiel bei den Ausgaben. Dafür war die Kriminalhauptkommissarin H. zuständig. Was sie Gericht und Publikum an Ermittlungen präsentierte, kam einem Hütchenspiel gleich. Sie nannte x-verschiedene Ausgabensummen: von 946.000 Euro, zwischenzeitlich von 739.303 und von 873.901 Euro, etwas später 887. 811 Euro und schließlich 873.930 Euro, die „eindeutig Querdenken zuzurechnen“ seien. Die angeblich „belegte“ Summe von 843.111 Euro, die die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift nennt, taucht im Ermittlungsbericht kein einziges Mal auf.
Befremdliches Zahlenspiel
Rechtsanwalt Ludwig hat noch eine andere Summe an Ausgaben für Querdenken-Aktivitäten errechnet, nämlich 1.095.000 Euro. Er rechnete sie der Ermittlerin vor und erlebte ein Wunder: die Kriminalhauptkommissarin bestätigte diese Summe als Höchstsumme der Querdenken-Ausgaben.
Das befremdliche Zahlenspiel galt schließlich auch für die Summe von 576.000 Euro, die Ballweg unterschlagen und privat verwendet haben soll: Die Strafverfolger können auch nach fünf Monaten Beweiserhebung nicht darlegen, wie sie auf die Summe gekommen sind und wo das Geld geblieben sein soll.
Michael Ballweg: Was haben Sie ermittelt, wozu ich die 576.000 Euro verwendet haben soll?
KHK'in H.: Ich habe nichts ermittelt. War nicht mein Auftrag.
Im Mai 2022 hatte die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen Ballweg eröffnet. Einer der ersten Schritte war eine Hausdurchsuchung Ende Juni 2022. Weil Ballweg das Haus verkauft und leergeräumt hatte, witterten die Ermittler Fluchtpläne und erwirkten einen Haftbefehl. Damit saß Ballweg in der Falle. Seine sämtlichen Unterlagen wurden beschlagnahmt, später auch sein Vermögen. Nun begann der zweite Teil der Operation.
Bis zum 31. August 2022 gab es keinen Steuerstraftäter Ballweg. An diesem Tag lief die Frist für die Abgabe der Erklärungen für das Steuerjahr 2020 ab. Wegen Corona war sie zweimal und um ein halbes Jahr verlängert worden. Einen Tag später, am 1. September 2022, wurde er zum Steuerhinterzieher. Und bereits am 6. September wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet, das die Staatsanwaltschaft wieder nur wenige Tage später an sich zog. Ballweg war ein Sonderfall, gegen keine andere Person gab es zu jenem Zeitpunkt ein Steuerstrafverfahren, obwohl anzunehmender weise Dutzende die Frist versäumt haben dürften.
Die Aussage des Finanzbeamten ziehen nicht nur Juristen in Zweifel
Der Steuerfahnder Mu. sagte als Zeuge auf die Frage, warum nach Ablauf der Abgabefrist für die Steuererklärungen am 31. August 2022 einzig gegen den Steuerpflichtigen Ballweg ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet worden war und gegen niemand anderes, das sei zwingend gewesen, ein „Pflichtfall“, sonst hätte er sich strafbar gemacht. Als Grund bezeichnete er, dass gegen Ballweg „Vorermittlungen“ der Steuerfahndung liefen. Sei dies der Fall, habe das Finanzamt keinen Spielraum anders zu entscheiden. Also nicht, zunächst Mahnungen zu verschicken.
Die Aussage des Finanzbeamten, das Strafverfahren gegen Ballweg habe eingeleitet werden „müssen“, ziehen nicht nur Juristen in Zweifel. Bemerkenswerter Weise stellt auch das Finanzamt Stuttgart II, bei dem die Steuerfahndung angesiedelt ist, den Sachverhalt auf Nachfrage anders dar, als sein Mitarbeiter vor Gericht.
Laut Amtsleitung existierten „keine Kenntnisse“ über eine entsprechende „Handhabung“, jeder Fall werde „individuell bearbeitet und bewertet“. Er könne „keine Aussage über irgendwelche Spielräume oder Nicht-Spielräume“ treffen, so der Leiter des Finanzamtes Stuttgart II. Demnach hätte im Finanzamt durchaus die Möglichkeit bestanden, den Fall so zu behandeln, wie alle anderen, bei denen die Frist überschritten wurde.
Gibt es eine höhere Instanz, die hinter dem Fall steht? Sicher ist, dass das Strafverfahren gegen den Gründer der coronakritischen Querdenken-Bewegung spätestens ab 2022 ein politischer Berichtsfall gegenüber der Landesregierung von Winfried Kretschmann war. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart musste dem zuständigen Justizministerium von Ministerin Marion Gentges (CDU) „fortlaufend“ über das Ermittlungsverfahren im Fall Ballweg berichten. Das geht aus einer Antwort des Ministeriums der Justiz und für Migration auf die Kleine Anfrage eines Landtagsabgeordneten hervor.
Beispielsweise führte das Ministerium am 30. August 2022 mit der Staatsanwaltschaft ein Telefonat, bei dem es um die „technische Umsetzung von Akteneinsicht an den Beschuldigten in der Justizvollzugsanstalt“ gegangen sei. Relevanz hat das deshalb, weil am 31. August 2022 die Abgabefrist für Steuererklärungen schlussendlich ablief. Die Antwort der baden-württembergischen Landesregierung auf die Anfrage des Landtagsabgeordneten ist von Ende November 2023. Man kann sie inzwischen besser einordnen, weil durch den derzeit laufenden Prozess gegen Ballweg Abläufe im Hintergrund sichtbar geworden sind.
Dass es sich bei dem Abgeordneten der kleinen Anfrage um einen Vertreter der AfD handelte, zeigt nebenbei nur, wie die etablierten Parteien inzwischen komplett versagen und der AfD den Platz als Opposition überlassen.
Wenn die Causa Ballweg im Justizministerium Chefinsache war, kann man davon ausgehen, dass sie im Kabinett Chefsache gewesen ist. Zumal bei einem derartigen Ego-Chef wie Ministerpräsident Kretschmann, der wie ein Gutsherr seine eigenen Corona-Regeln aufstellte und nach Belieben veränderte.
Und kaum vorstellbar, dass in diesem politisch aufgeladenen Prozess mit Staatsraisoncharakter von dieser Ebene keine Finger im Spiel waren, als das Gericht jetzt auf einmal die Beendigung des Trauerspiels vorschlug.
Thomas Moser ist freiberuflicher Journalist und Autor. Der studierte Politologe beschäftigte sich in der Vergangenheit mit dem NSU-Komplex und veröffentlichte hierzu mehrere Bücher (u.a. „Ende der Aufklärung. Die offene Wunde NSU“). Außerdem berichtete er über die Untersuchungsausschüsse zum Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz und veröffentlichte dazu das Buch „Der Amri-Komplex“.
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