Zur Realität gehört aber auch, dass es regelmäßig bei Demos - unabhängig wofür oder wogegen demonstriert wird - zu Gewaltausbrüchen seitens der Polizei kommt, bei der rechtlichen Aufarbeitung Polizei und Staatsanwaltschaft keine große Motivation verspüren, gegen ihre eigenen Leute zu ermitteln und sie anzuklagen, und Polizisten ihre Aussagen vor Gericht untereinander absprechen und füreinander lügen.
Hier ein Beispiel von einer Corona-Demo in Hamburg (im Bezug auf einen Passanten):
Spoiler
Ganz am Ende, nach zwei Prozesstagen, geht es auf einmal sehr schnell. Gerade noch steht Aussage gegen Aussage, da reicht Rechtsanwalt Jonas Hennig der Richterin einen Stick herüber und bittet sie, das Video darauf abzuspielen. Nur wenige Minuten ist der Film lang. Anschließend spricht die Richterin den Angeklagten sofort mit knappen Worten frei. "Was auf dem Video zu sehen ist", sagt sie, "erschreckt mich sehr."
Viel mehr musste wohl nicht gesagt werden nach diesem Film. Denn darauf zu sehen ist unzweifelhaft ein Fall von Polizeigewalt. Aber nicht die Polizisten, die einen Spaziergänger mit dem Schlagstock zu Boden schlugen, die ihn fesselten und dabei ein Knie auf seinen Hals drückten, saßen auf der Anklagebank, sondern der Spaziergänger Robert B.
Robert B, Feuerwehrmann von Beruf, ist am Nachmittag des 5. Februar 2022 mit Freunden an der Hamburger Binnenalster unterwegs. Es ist die Hochphase der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Jedes Wochenende gehen Protestierende auf die Straße, in angemeldeten Demonstrationen oder auf verabredeten Spaziergängen in kleinen Gruppen. Auch Robert B. schlendert an diesem Tag mit seiner Lebensgefährtin und Freunden am Jungfernstieg entlang, in der Hand eine Packung Bratreis vom Asia-Schnellimbiss. Ob sie zufällig oder bewusst gerade dort entlanglaufen, wo sich auch die Demonstrierenden versammeln – das weiß man nicht. Was man weiß: Sie stoßen dort auf Polizisten und wenige Minuten später liegt Robert B. mit Handschellen gefesselt auf dem Boden, über ihm uniformierte Beamtinnen und Beamte.
Polizisten wird mehr geglaubt
Es gibt zwei Versionen davon, was in den Minuten davor geschah. Die erste trägt die Staatsanwältin am 22. November vor, als sie in Saal 297 des Hamburger Amtsgerichts die Anklage verliest. Sie wirft Robert B. vor, dass er einen Polizisten attackiert und Widerstand gegen ihn geleistet habe. Der Beamte habe ihn gestoppt, weil er glaubte, Robert B. wolle zu einer verbotenen Corona-Demonstration. Er sei mit den Fäusten auf den Polizisten losgegangen. Als der ihn zurückschubste, habe sich Robert B., schon am Boden liegend, heftig gegen seine Festnahme gewehrt.
Ganz anders die Version des Angeklagten. "Mein Mandant bestreitet die Vorwürfe, er ist nachweislich unschuldig", sagt sein Anwalt zu Beginn der Verhandlung und klagt damit implizit die Polizisten an, gewalttätig gewesen zu sein. Wenn Robert B. tatsächlich keinen Widerstand geleistet haben sollte – warum haben die Polizisten ihn dann mit ihrem Schlagstock zu Boden gebracht?
Aussage gegen Aussage. Das ist die klassische Konstellation in Fällen, in denen Polizisten Demonstrierende beschuldigen und umgekehrt. Wirft jemand Polizeibeamten eine Grenzüberschreitung vor, kontern die oft mit einer Anzeige wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. In der Regel sind es dann die Demonstrierenden, die vor Gericht gebracht werden – Vertretern der Staatsgewalt wird oft schlichtweg mehr geglaubt. Das beste Beispiel dafür kommt aus Hamburg, wo nun auch Robert B. auf der Anklagebank sitzt. Nach den Ausschreitungen beim G20-Staatsgipfel 2017 klagte die Staatsanwaltschaft 449 Gipfel-Gegnerinnen und -Gegner wegen mutmaßlicher Gewalt- und Widerstandshandlungen an. Es gab Hunderte Prozesse, manche G20-Gegnerinnen und -Gegner kamen für Monate oder gar Jahre in Haft. Es gab zwar auch 157 Strafanzeigen und Ermittlungsverfahren gegen Polizistinnen und Polizisten wegen Gewaltvorwürfen – aber keine einzige Anklage.
Die Ruhr-Universität Bochum hat 2019 eine große Studie zu Polizeigewalt in Deutschland durchgeführt. Das Ergebnis: Nur neun Prozent der Befragten, die Polizeigewalt erlebt hatten, zeigten das an. Die anderen Befragten sagten dem Kriminologen und Studienleiter Tobias Singelnstein zufolge, sie hätten bei einer Anzeige gegen Polizisten keine Chance auf Erfolg gesehen oder befürchtet, im Gegenzug selbst eine Anzeige zu kassieren. Und wenn es doch zur Strafanzeige kam, so ein weiteres Ergebnis des 2019 veröffentlichten Zwischenberichts, wurden die Ermittlungen bis auf wenige Ausnahmen eingestellt. Weniger als zwei Prozent der Fälle kamen vor Gericht, weniger als ein Prozent endeten Singelnstein zufolge mit einer Verurteilung.
Der Fall sollte nicht in den Akten verschwinden
Auch Robert B. kennt diese Zahlen. Und genau deshalb sitzt er jetzt hier. Denn es gibt dieses Video, das eine Passantin an jenem Februartag mit ihrem Handy aufnahm und das zeigt, dass nicht er den Polizisten angegriffen hatte, sondern umgekehrt: Robert B. stand einfach mit seinem Bratreis da und aß. Als er fertig war, diskutierte er mit dem Polizisten vor ihm darüber, ob er die leere Essenspackung zum Mülleimer bringen dürfe, und der ging unvermittelt mit seinem Schlagstock auf Robert B. los.
Seine Anwälte hätten das Video schon im Ermittlungsverfahren an die Staatsanwaltschaft schicken können, dann hätte die den Feuerwehrmann wohl nie angeklagt. Doch der wollte gerade nicht, dass dieser Fall wie so viele einfach in den Akten verschwindet. Er wollte etwas anderes: einen Freispruch. Und vor allem: "Ein Exempel statuieren", sagt sein Anwalt Jonas Hennig.
Am ersten Verhandlungstag wird Matz H. als Zeuge in den Saal gerufen, ein kräftiger Mann mit breitem Kreuz und dunklem Haar. Der 34-Jährige ist der Polizist, der die kleine Gruppe damals am Jungfernstieg angehalten und der Robert B. schließlich mit seinem Schlagstock zu Boden gebracht hat. "Wir hatten den Auftrag, Leute anzusprechen, die sich den Spaziergängen anschließen wollten", sagt er aus. Bei der Personengruppe rund um Robert B. habe er das Gefühl gehabt, sie könne zu den Protestierenden dazugehören. Also stoppte er sie. "Ich hatte gleich das Gefühl, dass die Grundstimmung aggressiv war. Die wollten gleich eine Konfrontation aufbauen", behauptet der Polizist. Deshalb habe er zusammen mit anderen Beamtinnen und Beamten einen "Sicherungskreis" um Robert B. gezogen. Der aber habe eine Faust gegen den Beamten erhoben – Matz H. spielt den angeblichen Faustschlag im Gerichtssaal sogar vor – und erst daraufhin sei die Situation dynamisch geworden, wie er sagt. Kurz darauf lag Robert B. gefesselt am Boden.
Ermittlungen wegen Körperverletzung und Falschaussage
Eine Aussage, die an einzelnen Punkten widersprüchlich erscheint, in sich aber schlüssig ist und von einem Kollegen des Polizisten am zweiten Verhandlungstag bestätigt wird. Es sieht nicht gut aus für den Angeklagten Robert B., aber da holt sein Anwalt den Stick mit dem Video hervor und das Blatt wendet sich: Freispruch für Robert B.
Abgeschlossen ist die Sache damit nicht. Jetzt geht ein zweites Kapitel der Geschichte los: Der Anwalt von Robert B. stellt noch im Gerichtssaal Strafanzeige gegen Matz H. und den anderen Polizeikollegen, der im Gericht ebenfalls eine andere Version des Nachmittags am Jungfernstieg geschildert hat. "Mein Mandant ist Opfer von schweren Straftaten geworden. Und Sie waren schon auf Verurteilungskurs, weil Sie Polizeibeamten einfach immer alles glauben", hält er der Staatsanwältin vor.
Die Staatsanwältin wird nun gegen die beteiligten Polizisten wegen des Verdachts einer Falschaussage vor Gericht und gefährlicher Körperverletzung ermitteln. Das kündigt sie im Gerichtssaal an. Und die Richterin, sichtlich erschrocken über das, was sie soeben erlebt hat, wendet sich mit ihren letzten Worten direkt an Robert B. "Ich finde es richtig, wie Sie sich entschieden haben", sagt sie zu ihm. "Was wir hier gesehen haben, muss an die Öffentlichkeit."
Dagegen könnte man übrigens sehr wohl einiges im Rahmen des Rechtsstaats tun. Zum Beispiel, dass bei Straftaten mit Polizisten oder Staatsanwälten als Täter oder Opfer grundsätzlich eine andere Behörde zuständig ist, (entweder eine Spezialbehörde auf Bundesebene, oder ein anderes Land). Außerdem könnte man einführen, dass Straftaten im Amt grundsätzlich zu einer Verdopplung des Strafrahmens führen, immer vor der Strafkammer verhandelt werden müssen, um die Beteiligung von Schöffen sicherzustellen, und bei einer Verurteilung der Beamtenstatus automatisch weg ist, unabhängig vom Strafmaß. Außerdem könnte man das Absprechen von Aussagen dadurch verhindern, dass bei dringendem Tatverdacht eines Beamten sofort eine unbezahlte Suspendierung bis zum rechtskräftigen Urteil (bei einem Freispruch wird der Sold nachgezahlt) und ein Kontaktverbot zu den Kollegen verhängt wird.
Dazu müsste man aber erst einmal anerkennen, dass Polizeigewalt auch dann schlecht ist, wenn sie jemanden trifft, den man nicht mag. Da dies kaum jemand tut, sehe ich zumindest in nächster Zeit keine Hoffnung auf Besserung.