Waldspaziergang mit Attila Hildmann
"Seit 75 Jahren hat sich in Deutschland keiner so aus dem Fenster gelehnt wie ich"
Seit Monaten verbreitet der vegane Koch Attila Hildmann Verschwörungsmythen, nun ermittelt die Berliner Polizei. Ein Treffen mit einem Mann, der sich auf erstaunliche Weise radikalisiert hat. Von Alexander Kühn und Jean-Pierre Ziegler
Wer Attila Hildmann mal ganz sanft erleben will, muss mit ihm in den Wald gehen. Unweit des Wandlitzer Sees, nördlich von Berlin, wo Hildmann fast täglich seinen Husky Akira ausführt, so auch an diesem Mittwoch. "Na, Süßer", sagt er zu dem Hund. Er habe "den kleinen Racker" aus dem Tierheim zu sich geholt, vor zweieinhalb Jahren. Neulich hätten anonyme Mailschreiber damit gedroht, Akira zu töten, "sie wollen mir das Liebste nehmen".
Auf dem Waldweg liegt ein Käfer auf dem Rücken, er schafft es nicht aus eigener Kraft auf die Füße. Hildmann dreht ihn um und setzt ihn an den Wegesrand. Kein Tier soll leiden, wenn es nach Hildmann geht, dem veganen Kochbuchautor und Unternehmer. Der Grüne Volker Beck hingegen schon. "Wenn ich Reichskanzler wäre, dann würde ich die Todesstrafe für Volker Beck wieder einführen, indem man ihm die Eier zertretet auf einem öffentlichen Platz!" Das verkündete Hildmann vorigen Samstag auf einer Corona-Protestaktion vor dem Alten Museum in Berlin.
Tiere schützen, Menschen schlachten, so recht passt das nicht zusammen. Aber das trifft auf vieles zu, was Hildmann in den vergangenen Wochen von sich gab. Seit Mai organisiert der 39-Jährige Kundgebungen, auf denen er Verschwörungsmythen verbreitet. Er behauptet, US-Milliardär Bill Gates und die Kanzlerin wollten die Menschheit dezimieren, oder ruft: "Die Weltbank wird regiert von den Rothschilds, und das sind nun mal die Zionisten!"
Juristische Konsequenzen seiner Tiraden sind bislang nicht bekannt, doch bei der jüngsten Kundgebung vor dem Alten Museum ging er womöglich zu weit. Statt seiner schwarz-rot-goldenen Flagge schwenkte er die schwarz-weiß-rote des Deutschen Reichs, nannte Adolf Hitler verglichen mit Angela Merkel "einen Segen" und ließ seiner Gewaltfantasie gegen Ex-Politiker Beck freien Lauf. Der zeigte Hildmann daraufhin an wegen Beleidigung, Volksverhetzung und Anstiftung zu einer Straftat. Das Landeskriminalamt Berlin ermittelt, die Versammlungsbehörde hat seine für diesen Samstag geplante Demonstration untersagt. Es wird ernst.
Die Strafverfolger hätten Hildmanns Treiben zu lange tatenlos zugesehen, monieren Kritiker. Hildmanns Drohungen schienen die Behörden bislang "nicht die Bohne" zu interessieren, sagte Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) nannte Hildmanns Äußerungen "brandgefährlich", seine "faschistische Rhetorik stiftet entsprechende Taten an". Thorsten Frei, Vizechef der Unionsfraktion im Bundestag, sagte der "Rheinischen Post", eine harte Verfolgung sei "rechtlich möglich".
Doch Hildmann wiegelt ab. Die Vorwürfe gegen ihn seien "absolut lächerlich". Man versuche, ihm "Angst einzujagen, aber dafür müssen die sich einen anderen ♥♥♥en suchen". Zurücknehmen mag er nichts, gleichwohl weist er darauf hin, dass er im Konjunktiv spreche: "Ich habe gesagt: Wenn ich Reichskanzler wäre, würde ich das anordnen. Und? Haben wir in Deutschland einen Reichskanzler? Nein. Sehen Sie! Ich hätte auch sagen können 'Wenn ich Kaiser von China wäre', das ist dasselbe!"
Hildmann hat eine erstaunliche Radikalisierung hinter sich. Als Autodidakt schrieb er erfolgreich vegane Kochbücher und trat als hipper Gesundheitskoch im Fernsehen auf. Schon 2016 fiel er mit rechten Aussagen zur Flüchtlingskrise auf, doch seit Corona werden seine Aussagen im Wochentakt schärfer, absurder, irrlichternder.
Zum Waldspaziergang trägt er ein olivgrünes T-Shirt mit einem Bundesadler. Wenn er erzählt, geht es häufig darum, dass er sich nie unterkriegen ließ. Geboren wurde er in Berlin als Kind türkischer Eltern, die ihn zur Adoption freigaben. Er wuchs bei einem deutschen Ehepaar auf. Nach eigenen Aussagen wurde er Veganer, nachdem sein Adoptivvater 2000 an einem Herzinfarkt gestorben war.
Als Schüler gehörte er nirgends dazu. Die deutschen Mitschüler hätten nichts mit ihm anfangen können, sagt er, "für die Ausländer war ich ein Bastard". Er sei von Gangs verprügelt worden, "bis ich mich wehrte und zu einem Mann wurde". Er zeigt eine Narbe am Hals, "da hat mir jemand ein Messer an die Kehle gehalten". Und eine am linken Arm, "eine Messerstecherei". Jetzt, als Erwachsener, steht er da und will Deutschland verteidigen.
Hildmann redet auch gern über seine Bildung. Bereits als Jugendlicher habe er sich "mit den großen Philosophen beschäftigt". Wer sich mit ihm unterhält, hat allerdings den Eindruck, dass er einiges nicht mitbekommt von der Welt. Oder zu viel davon, je nachdem. Die Verarbeitung der Informationen, die er sich ergoogelt, scheint ihm jedenfalls einiges abzuverlangen. Es wirkt, als werde alles, was Hildmann aufschnappt, in seinem Kopf wild zusammengemischt. Heraus kommt eine ungenießbare Masse.
Er ist nicht stringent, weder in seinen Argumenten noch in seinen Taten. Am Dienstag veröffentlichte er ein YouTube-Video, in dem er für seinen Energydrink wirbt, aber auch sagt: "Der SPIEGEL hat mich 20-mal angerufen. Der will unbedingt ein Interview, das werde ich nicht geben." Am nächsten Vormittag schlägt er per SMS einen Spaziergang im Wandlitzer Wald vor: "Wann können Sie da sein?" Er wohnt in der Nähe.
Der Wald ist eine perfekte Kulisse für seine Inszenierung. Ernst Jünger, Lieblingsautor der deutschen Rechten, zudem Käfersammler, vertrat einst die These, dass der Mensch nur im Wald wahrhaft frei sein könne. Als "Waldgänger", der sich gedanklich unabhängig hält und Widerstand leistet, falls der Staat verbrecherisch wird. So ähnlich sieht Hildmann sich: Als einen der letzten Aufrechten in einem Land, das auf dem Weg in die Diktatur sei.
»Und? Haben wir in Deutschland einen Reichskanzler? Nein. Sehen Sie!«
Hildmann weist wie beiläufig darauf hin, dass Huskys "nah am Wolf" seien. Dass der Hitlers Lieblingstier war, muss er nicht extra erwähnen. Es ist eine von vielen Anspielungen an diesem Tag. Er sagt auch: "Seit 75 Jahren hat sich in Deutschland keiner so aus dem Fenster gelehnt wie ich." Er habe keine Angst davor, ins Gefängnis zu kommen. "Im schlimmsten Fall sperren die mich zwei Jahre ein. Dann habe ich genügend Ruhe, ein Buch zu schreiben."
Es sind Provokationen, Testballons. Auf die Frage, wie weit er von Hitler entfernt sei, grinst er. "So weit weg, dass wir dieselben Initialen haben." Hildmann zählt die Spitznamen auf, die sie ihm bei Twitter verpasst haben. "Hirse-Hitler", "Avocadolf". Er lacht, als wären es Ehrentitel. Hildmann wirkt wie die Hauptfigur in einem Remake der Komödie "Er ist wieder da", in der eine schlechte Hitler-Kopie durchs heutige Berlin irrt und erstaunlich viel Anklang findet. Nur dass die Hildmann-Fassung als Trauerspiel angelegt ist.
Es gibt zwei Orte, an denen Hildmann seinen Anhängern eine Heimat bietet. Der eine ist sein Imbisslokal in Berlin-Charlottenburg, am Dienstagabend waren dort anzutreffen: eine ältere Frau mit "Gib Gates keine Chance"-Sticker auf dem Oberteil, die sich damit brüstete, nie eine Schutzmaske zu tragen; und eine Frau, die stolz berichtete, ihr HNO-Arzt habe sie heute per Attest vom Maskentragen befreit. Feierstimmung am Tisch.
Die zweite Heimat ist Hildmanns Telegram-Kanal mit 67.000 Abonnenten, seine Probebühne des Grauens. Dort hatte er bereits die Gewaltfantasie zu Beck lanciert, bevor er sie vor dem Alten Museum kundtat. Auf Telegram hat er 1000 Euro geboten, um an Namen und Adressen missliebiger Personen zu kommen. Die Behörden schien es nicht zu stören. Mario Heinemann, Sprecher der Brandenburger Polizei, wehrt sich jedoch gegen den Eindruck, seine Kollegen seien untätig. "Wir tun 'ne ganze Menge", vieles davon im Hintergrund: Drei Beamte seien in den vergangenen beiden Wochen ausschließlich mit Hildmanns Postings beschäftigt gewesen. 1300 Mitteilungen habe man binnen einer Woche bekommen.
Seit Mai läuft bei der Staatsanwaltschaft Cottbus ein Verfahren wegen Volksverhetzung gegen Hildmann; sie ist für Straftaten im Internet zuständig, wenn der Beschuldigte in Brandenburg wohnt. Anklage hat sie noch nicht erhoben, einem Sprecher zufolge gibt es lediglich einen Anfangsverdacht. Die Dauer des Verfahrens sei "völlig normal".
Dass Hildmann sich auf Beck einschoss, ist offenbar das Resultat einer für ihn typischen Assoziationskette. Sie habe ihren Anfang genommen mit einem Anschlag, der Mitte Juli auf seinen Imbiss verübt worden sei, erzählt er. Hildmann vermutete dahinter die Antifa. Er habe gegoogelt und ein Zitat von Grünenpolitikerin Renate Künast gefunden, die eine verlässliche finanzielle Förderung der Antifa verlangte. Daraufhin habe er begonnen, sich in die Geschichte der Grünen einzugraben, und kam offenbar in den Achtzigerjahren wieder heraus. Damals wollte Jungpolitiker Beck Sex mit Kindern erlauben, wofür er sich später entschuldigte. Hildmann hatte in ihm ein neues Hassobjekt gefunden.
"Man müsste mit Pädophilen noch schlimmere Sachen machen", sagt er. "Die Eier zertreten, das ist doch keine schlimme Todesstrafe für jemanden, der Sex mit Zwölfjährigen legalisieren wollte." Wie ginge er damit um, wenn jemand seine Fantasie gegen Beck in die Tat umsetzte? Hildmann lacht, reißt ein Blatt am Wegesrand ab, schweigt eine Zeit lang und sagt: "Niemand soll sich strafbar machen, das ist es nicht wert." Er denkt noch einmal nach. "Beck verdient lebenslange Haft. Ich hoffe, dass er sich bei mir entschuldigt."
Hildmann sagt, er werde weitermachen, "bis ich die Macht habe". Er wolle eine Partei gründen, in den kommenden Wochen werde man mehr davon hören. Das Ziel: "Der deutsche Arbeiter, der deutsche Bauer sollen endlich wieder das Gefühl haben, dass sie für Deutschland arbeiten, nicht für Europa." Den Hinweis, dass es bereits die AfD gebe, kontert er: "Die sind eine Linkspartei, im Vergleich zu mir."
Triumphierendes Grinsen.
Man kann Hildmann widersprechen, ihn unterbrechen, abrupt das Thema wechseln, er bleibt fast durchweg freundlich. Man kann ihn auch fragen, ob er in psychologischer Behandlung sei oder es jemals war, beides verneint er. Nur einmal wird er zornig: Bei der Frage nach seinem Antrieb. Weil man immer noch nicht begriffen habe, warum er all das macht. Hildmann redet von Menschenrechten. Von Freiheit. Und Deutschland.
Geht es ihm nicht eher um ihn selbst, seine eigene Berühmtheit? Da schaut Hildmann beleidigt zu Boden.