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Ärzte stehen vor der Entscheidung, wem sie helfen und wem nicht: Ein Jura-Professor erklärt, dass in einer Triage-Situation Ärzte sogar straflos danach auswählen könnten, ob einer der Patienten Corona-Leugner ist.
Ein Ärztlicher Direktor einer Klinik in Sachsen hat bestätigt, dass in seinem Haus Ärzte bereits entscheiden mussten, wem geholfen werden kann und wem nicht. "Es ist eine einsame Entscheidung, und am Ende steht man alleine damit da", sagte Dr. Mathias Mengel zu t-online. Zuvor hatte er in einer Videokonferenz vor rund 100 Zuschauern erklärt, dass in der Klinik in Zittau mehrfach triagiert werden musste. Es gab nicht genug Sauerstoffgeräte für alle Patienten, deren Zustand sich verschlechtert hatte und die sie brauchten. Die Klinik versucht, andere Betten in anderen Häusern zu finden. Doch es gab auch einen anderen Fall: Ein Patient ist nicht transportfähig.
Explizite gesetzliche Regeln gibt es nicht, wie die Auswahl zu erfolgen hat und welche Folgen die Auswahl für Ärzte hat. Strafrechtsexperte Michael Kubiciel hat die Entwicklung zum Anlass genommen, die Lage auf Twitter zu analysieren. Es zeigt auch: Die Verschärfung der Lage bringt Ärzte in fürchterliche Dilemmata. Kubiciel ist an der Uni Augsburg Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Wirtschaftsstrafrecht.
Zwei Varianten der Triage unterscheidet er: Geht es nur um Konkurrenz unter Patienten, die noch nicht entsprechend versorgt sind – oder auch um Patienten, denen man die Hilfe wieder nehmen würde zugunsten anderer?
Fall 1: Ein freies Bett, aber mehrere Patienten
Wenn es einen freien Beatmungsplatz gibt, aber mehrere Menschen, die ihn benötigen, ist das Ex-ante-Triage: Nach herrschender Meinung kann der Arzt hier frei entscheiden, so Kubiciel. "Er handelt immer rechtmäßig, auch wenn er zum Beispiel Corona-Leugner benachteiligt", sagt der Strafrechtler. Der Mediziner hat zwei Handlungspflichten, er kann aber nur eine erfüllen. Der anderen dann nicht nachzukommen, sei kein Unrecht. Hier gilt ihm zufolge der Grundsatz "ultra posse nemo obligatur" – über das Können hinaus wird niemand verpflichtet.
In der Praxis werden Ärzte sich nach den besten Behandlungschancen richten. Dazu gibt es eine Empfehlung von sieben medizinischen Fachgesellschaften – unter anderem der Gesellschaft der Intensivmediziner DIVI. Dort heißt es: "Die Priorisierung von Patienten sollte sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren." In den Empfehlungen heißt es auch, dass das "nicht eine Entscheidung im Sinne der 'best choice' bedeutet, sondern vielmehr den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen keine oder nur eine sehr geringe Erfolgsaussicht besteht". Die Auswahl solle nach "ethischen Grundsätzen" und nicht diskriminierend erfolgen.
Fall 2: Beatmungsplatz räumen für jungen Patienten
Strafrechtlich liegt der Fall anders, wenn Ärzte vor der Frage stehen, ob sie für einen jungen Menschen ein Bett freimachen und die Versorgung beispielsweise für einen hochbetagten, dementen Menschen einstellen. Das ist der Ex-post-Fall. Darf ein Arzt demjenigen Behandlungsressourcen nehmen, der geringe Chancen hat, um sie einem anderen mit besserer Chance zu geben?
Zwar sieht Strafrechtsprofessor Kubiciel das persönlich so. Er sagt aber, dass er damit eine Minderheitenmeinung vertritt. Herrschende Meinung in der Rechtswissenschaft, die auch der Deutsche Ethikrat vertritt: Es ist dem Arzt nicht erlaubt. So erklärte es auch Reinhard Merkel, emeritierter deutscher Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie und bis vor kurzem Mitglied des Ethikrats, bei n-tv: "Er würde getötet, weil ein anderer bessere Aussichten hat. Das ist und bleibt rechtswidrig." Ethisch steht dahinter auch der Gedanke, dass ein Leben nicht weniger wert ist als ein anderes.
Aus Sicht von Kubiciel bedeutet das: In der Ex-post-Triage gibt es nach der herrschenden Meinung für den Arzt keinen Handlungsspielraum. Es droht eine Strafe für den Mediziner, der dennoch die Behandlung beim alten Patienten aufgibt, um für den jungen Platz zu schaffen.
Weil Ärzte im anderen Fall so viel Spielraum haben, waren im Sommer neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Ihre Sorge ist, schlechtere Behandlungsmöglichkeiten zu haben oder gar von einer lebensrettenden medizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden. Die Karlsruher Richter lehnten aber ihre Forderung ab: Der Gesetzgeber muss kein zusätzliches Fachgremium schaffen, das verbindliche Kriterien festlegt.
Das Gericht befand, dass die Verfassungsbeschwerde "nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet" sei und misst dem Thema offenbar eine hohe verfassungsrechtliche Relevanz bei. Es will sich deshalb eingehend damit befassen – nichts für einen Eilantrag. Die Richter waren auch der Meinung, dass es keinen dringenden Handlungsbedarf gibt: "Das momentan erkennbare Infektionsgeschehen und die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten lassen es in Deutschland derzeit nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass die Situation der Triage eintritt." Das war im Juli.