Wo Menschen auf engem Raum zusammenhocken, kann sich das Virus verbreiten.
Das ist eigentlich logisch.
Dazu ein interessanter Artikel von Michael Wolffsohn (Uuh, ein Jude...!).
Spoiler
«Wo wohnt Gott?», fragte der Kozker Rebbe Menachem Mendel einige gelehrte Männer, die bei ihm zu Gast waren. Sie lachten über ihn: «Wie redet Ihr! Ist doch die Welt seiner Herrlichkeit voll!» Er aber beantwortete die eigene Frage: «Gott wohnt, wo man ihn einlässt.» Diese und andere wunderbare «Erzählungen der Chassidim» hatte Martin Buber gesammelt und sprachlich modernisiert – seine Kritiker behaupten: frisiert. Martin Buber starb 1965 und der Kozker Rebbe 1859, doch ihr Geist bereichert uns noch heute. In der Corona-Pandemie besonders. Wie das?
Dass praktizierende Gläubige in der Kirche, der Synagoge, der Moschee oder in anderen religiösen Institutionen wohl mehr als Nichtgläubige «Gott einlassen», dürfte nicht zu bestreiten sein. Hiervon ausgehend sowie vom durchaus überkonfessionellen Gedanken des Kozker Rebben schliessen wir: Die Kirche, die Synagoge, die Moschee und andere religiöse Einrichtungen sind «Wohnungen Gottes», weil dort Gottsuchende, Gottesfürchtige und Gottesdiener weilen.
Gott einlassen und Gottes Belohnung hierfür – diese beiden überkonfessionell geltenden Grundannahmen vorausgesetzt, wäre Gottes Wohlwollen gerade gegenüber denjenigen zu erwarten, die ihn in ihre Wohnungen einlassen: Juden, Christen und Muslimen gleichermassen.
Der Zorn des Ewigen
Das Versprechen von Gottes Wohlwollen gegenüber den – nicht nur in Kirche, Synagoge oder Moschee – im Alltag überall und immer religiös Praktizierenden wurde zwischen sowie in den drei monotheistischen Religionen unterschiedlich formuliert, doch der Grundgedanke ist identisch. Diesen kennzeichnet die Wenn-dann-Formel. Ihre Botschaft lautet: Wenn du die religiösen Gebote erfüllst, wird es dir gutgehen. Zumindest aber, wenn du an (den lieben) Gott oder seine Gnade glaubst.
Beispielhaft und repräsentativ finden wir diesen Grundgedanken – sogar als Versprechen! – im zentralen Gebet der Juden, dem «Höre, Israel» (aus Deuteronomium 6, 4–9). Dort lesen wir: «Und wenn ihr meine Gebote beachtet, die ich euch auferlege . . ., dann werde ich euch den Frühregen ebenso wie den Spätregen zur rechten Zeit geben. Ihr werdet dann das Getreide einsammeln, den Most und das Öl. Ich werde das Gras auf eurem Feld für euer Vieh geben. Ihr werdet essen und satt werden. Hütet euch davor, dass euer Herz verführt werde, ihr von den Geboten abweicht, anderen Göttern dient und euch vor ihnen verneigt. Der Zorn des Ewigen wird dann gegen euch entbrennen.»
Ähnliche Wenn-dann-Versprechen oder -Drohungen bieten auch das Christentum und der Islam, bald religionsgesetzlich, bald volksfrömmelnd. Etwa dieser Art unter Juden: Wenn du am Versöhnungstag (Jom Kippur) nicht fastest, wirst du nicht ins Buch des Lebens, sondern ins Buch des Todes eingetragen. Unter Christen: Wenn du freitags Fleisch isst, kommst du bestenfalls ins Fegefeuer. Unter Muslimen: Wenn du kein Kopftuch trägst, kommst du in die Hölle.
Wenn du nur glaubst . . .
Einwenden liesse sich: Im Christentum, teilweise auch im Islam, würden die Gerechten, sprich die Gläubigen, nicht unbedingt im Diesseits, dafür im Jenseits belohnt oder vom Leid befreit. Selbst wo im Christentum die religiöse Praxis nicht das Wenn bedeutet – man denke an «sola gratia» (nur durch Gnade) oder «sola fide» (nur durch den Glauben) –, gibt es ein elementares Wenn beziehungsweise eine elementare Voraussetzung, nämlich: Gottes Gnade oder den Glauben an Gott. «Wenn du glaubst . . .»
Ganz irdisch ist der katholische Gedanke der Wallfahrt. Hier erwarten die Gläubigen im Diesseits die Belohnung beziehungsweise die Gnade. Auch deren Grundgedanke basiert auf dem Wenn und Dann. Wenn Gott will oder: wenn du die Wallfahrt unternimmst, dann wird dein Wunsch erfüllt. Ähnlich im Islam. Nur ein Beispiel aus dem Koran. Sure 2, 155–157: Wer Gott gehört oder zu ihm zurückkehrt, wird mit Segnungen und Barmherzigkeit belohnt. Wenn die Menschen «der Rechtleitung folgen», dann kommen sie in deren Genuss. Eine Himmelswaage dient der gerechten Feststellung (zum Beispiel Sure 101, 6–9). Trotz differenzierenden Einwänden gilt die Wenn-dann-Prämisse. Selbst die Wortbilder der drei Religionen ähneln einander.
Wo wohnt Gott? Diese Frage setzt unausgesprochen voraus, es gebe Gott. Dafür oder dagegen sei hier nicht argumentiert. Alles Kluge dazu ist schon gesagt worden, nur nicht von jedem, und ich werde einen Teufel tun, um für Gottes Sein oder Nicht-Sein noch einen Beweis oder einen Gegenbeweis zu erbringen. Kein Mensch weiss es, die einen glauben an Gott, die anderen nicht. So oder so ist Glauben etwas ganz anderes als Wissen.
Die alte, immer neue Frage
Somit entfällt auch die folgende Frage samt Antworten: Warum lässt Gott Corona, andere Pandemien, Epidemien, Völkermorde und andere Unglücke, individuelle ebenso wie kollektive, zu? Es ist eine alte Frage, doch bleibt sie immer neu, und wer sie jeweils stellt oder gar beantwortet, bricht Religion entzwei. Religion als Institution. Dieser Bruch mit der Religion als formalisierter Institution ist alles andere als gleichbedeutend mit dem Verlust des Glaubens an Gott oder einem Verzicht auf das Transzendenz-Bedürfnis von Menschen. Sehr wohl aber führt die aus der strikten Empirie abgeleitete Antwort auf jene Fragen zur Erklärung der auch intern unterschiedlichen Reaktionen in Kirche(n), Synagoge oder Moschee.
Die Empirie ist eindeutig: Weltweit sind vom Coronavirus besonders diejenigen hart betroffen, die sich strikt an die religiösen Gebote halten und sich trotz der Pandemie weiter regelmässig zum gemeinschaftlichen Gottesdienst in die Kirche, die Synagoge oder die Moschee begeben. Die Fakten sind gnadenlos: Gerade da, wo Gottesdienste in überfüllten Synagogen oder Moscheen stattfinden und Menschen dicht gedrängt beten, wo also wirklich jeder «Gott einlässt», werden überproportional viele Personen infiziert. 40 bis 50 Prozent aller in Israel während der letzten Wochen Infizierten sind orthodoxe Juden. Vergleichbare Horrorzahlen kennen wir als Folge überfüllter Kirchen und Moscheen.
Epidemiologisch ist der Befund offenkundig. Maskenmuffel, auch solche, die Gottes Gebote einhalten, lassen nicht nur Gott ein, sondern auch das Virus. Erst recht, wenn sie die Abstandsregeln missachten. Theologisch revolutioniert, ja ruiniert dieser empirische Befund das Fundament von Kirche, Synagoge und Moschee, denn er widerlegt die Wenn-dann-Prämisse. Gewiss, das geschieht nicht zum ersten Mal in der Religionsgeschichte der Menschheit. Sonst gäbe es nicht das ewige Problem der Theodizee, dem wir, verdichtet, im biblischen Buch Hiob begegnen. Mehr als andere liess Hiob Gott in seine «Wohnung» eintreten. Doch gerade seinem Liebsten fügte der «liebe Gott», wie in der gegenwärtigen Corona-Pandemie, unendliches Leid zu.
Weiter beten!
Die Reaktionen auf diese Religions-Revolution fallen unterschiedlich aus. Mehr innerhalb als zwischen den drei monotheistischen Religionen. Die Trennungslinien verlaufen nämlich nicht in erster Linie zwischen Juden, Christen und Muslimen, sondern jeweils innerhalb der drei Gruppen. Vor allem zwischen Fundamentalisten auf der einen und Flexibilisten auf der anderen Seite. Auf jeder findet man quantitativ und qualitativ ebenfalls Unterscheidungen.
Die Kernaussage der Fundamentalisten lautet: «Trotz unseren Anstrengungen haben wir Gottes Gebote eben doch nur ungenügend erfüllt. Dafür werden wir bestraft. Deshalb müssen wir Gott noch inniger dienen», denn, so das quasi absolutistisch über seine Anhänger herrschende Oberhaupt der Litauer Orthodoxie in Israel, der 92-jährige Rabbiner Chaim Kanievsky, in seiner Corona-Erstbotschaft: «Die Thora schützt und rettet.»
Zwei Wochen später packte Corona auch ihn. Nun empfahl er seinen Jüngern, sie sollten weiter beten, aber nicht gemeinschaftlich in der Synagoge, sondern allein, jeder für sich. Wieder etwas später, am 17. Oktober 2020, noch nicht genesen, verfügte er, sich den staatlichen Gesetzen widersetzend, die Rückkehr zum synagogalen Beten. Ebenso die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs in den Talmud-Thora-Schulen.
Thora oder Beatmungsgerät?
Epidemiologisch setzte der greise Rabbi damit Zehntausende dem Corona-Risiko aus. Theologisch wurde er von seinen Jüngern gefeiert. Brav wiederholten sie vor den Kameras und Mikrofonen der Weltmedien: «Die Thora schützt und rettet» oder «Wer braucht ein Beatmungsgerät, wenn es die Thora gibt?». Selbst wenn sie es tausendfach wiederholen: Mag sein, dass sie bezogen auf die «kommende Welt», das uns allen unbekannte Jenseits, recht behalten, in dieser wirklichen Welt, im Diesseits, ist diese Aussage blanker Unsinn.
Einwenden kann man dies: Fester Glaube und Optimismus wirken heilungsfördernd, sagt die Psychosomatik. Ein medizinischer Laie sollte diese wissenschaftliche Aussage nicht bestreiten. Sie bezieht sich jedoch auf die Heilung, nicht auf die Infektionsgefahr, und nicht immer garantiert der Gottes- oder andere Glaube medizinische Sicherheit, was andere Teile der jüdischen Orthodoxie durchaus anerkennen. Sie beugen sich deshalb den staatlichen Regelungen.
Theologisch, jüdisch ist die Denk- und Verhaltensweise der jüdischen Fundamentalisten aus zwei Gründen Unsinn. Erstens gilt seit Rabbi Schmuel (165–257) sein im Babylonischen Talmud (Traktate Baba Kama 141 a und Nedarim 28 a) nachlesbarer Satz: «Dina de malchuta dina», auf Deutsch: Das jeweilige Staatsrecht gilt. Zweitens gilt, ebenfalls gemäss dem Babylonischen Talmud (Traktat Schabat 151 b) «Pikuach nefesch doche schabat», auf Deutsch: Das Retten von Menschenleben hebt die Sabbatgebote auf.
Gemeint sind dabei eben nicht nur Sabbatgebote, sondern alle, die das Retten von Menschenleben behindern und verhindern. Gewiss, dieses Beispiel bezieht sich auf das Judentum. Bei christlichen und muslimischen Fundamentalisten findet man das Grundmuster – «Wir waren eben nicht fromm genug» – ebenfalls. Allerdings ist für islamische Fundamentalisten die Unterscheidung zwischen religiösem und weltlich-staatlichem Recht inakzeptabel. Für sie geht alles Recht von Gott aus.
Den Himmel nicht aus den Augen verlieren
Epidemiologisch unproblematisch denken, glauben und verhalten sich die diversen Flexibilisten aller drei Religionen. Doch theologisch sind sie als Gläubige mit demselben Wenn-dann-Dilemma wie die fundamentalistischen Orthodoxen konfrontiert: Werden wir trotz oder wegen unserer praktizierten oder eben doch nicht genügend ausgeübten Religiosität vom Virus, also letztlich doch von Gott, bestraft?
Auch ihr formalisierter, institutionalisierter Weg zu Gott über «ihre» Synagoge/Kirche/Moschee erweist sich als Irrweg. Gott scheint die Eingangstür zu ihrer «Wohnung» ebenfalls nicht durchschritten zu haben. Die Moschee dient Gott auf ihre Weise und droht dabei Menschen und Menschlichkeit zu übersehen. Die evangelische und neuerdings auch die katholische Kirche müssen höllisch aufpassen, dass sie nicht den Himmel aus den Augen verlieren, weil sie sich mehr der Politik als der Theologie widmen. Alexander Kissler hat in der NZZ vom 11. Oktober 2020 diese Entwicklung brillant beschrieben und bewertet.
Die ganz besonders Flexiblen wie zum Beispiel die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) umgehen – wenn sie sich nicht, wie fast immer, eher der Politik und der Politologie als der Theologie zuwenden – zumindest öffentlich dieses Dilemma, indem sie es gar nicht erst thematisieren oder es kurzerhand vom Tisch wischen.
Gott straft Gott – und rettet
Ebenso peinlich wie typisch und, zumindest nach aussen, so ungebrochen wie die Thora-Fundamentalisten das Zitat des Ratsvorsitzenden auf der EKD-Website: «‹Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.› (Psalm 23, 1) Das hilft gegen Panik und Überreaktion. Es ist die beste Voraussetzung, jetzt das Richtige zu tun, um Gefahren für die Zukunft zu vermeiden.» Ende Mai 2020 erklärten beide Kirchen in Deutschland: «Gott straft nicht, sondern Gott rettet.» Sowohl das Alte als auch das Neue Testament belegen vielfach das Gegenteil, und der Kreuzestod Jesu war, physisch-irdisch anders als metaphysisch betrachtet, alles andere als eine «Rettung».
Während die zweite Corona-Welle begann, Europa zu überrollen, präsentierte Papst Franziskus seine theologieferne und intellektuell dürftige Enzyklika mit dem an sich so sympathischen Appell an die Brüderlichkeit. Diesen findet man, dichterisch vollendet, seit langem in Schillers «Ode an die Freude», musikalisch ergänzt und von geradezu «göttlicher» Gewalt am Ende von Beethovens neunter Sinfonie. Anders als beim Papst erwartet heute so wenig wie einst irgendjemand eine Positionierung zum Wenn-dann-Dilemma der Gläubigen.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Wenn-dann-Prämisse (zumindest) der drei monotheistischen Religionen ist erwiesenermassen, nicht erst seit Corona, empirisch widerlegt. Diese Kausalität gibt es nicht. Zumindest – nachprüfbar – nicht im Diesseits, und das Jenseits kennt keiner. Auch nicht diejenigen, die Höllenängste wecken.
Wir stehen am Anfang
Es gibt hoffentlich oder vielleicht den «lieben Gott», aber es führt kein Weg von der Kirche, der Synagoge und der Moschee direkt zu ihm. Was Gott denkt, lenkt und will, weiss weder der Rabbi noch der Pfarrer noch der Imam. Empirische Beweise sind Legion. Wenn überhaupt, dann hat jeder sein individuelles Gotterlebnis. Die buchstabengetreue Erfüllung der religiösen Gesetze führt offensichtlich nicht zu Gott, wohl aber das Bemühen, gemäss dem Geist der göttlichen Gesetze zu leben.
Das bedeutet abgeleitet aus der durch und durch traditionellen, religionskonformen Gottesebenbildlichkeit des Menschen: das alltägliche Bemühen von Kirche, Synagoge, Moschee sowie des Einzelnen um einen höheren Grad an Menschlichkeit als Quasi-Göttlichkeit. Dazu gehören bedingungslose Seelsorge, Zuwendung, Trost gegenüber dem Menschen, Hilfen jedweder Art ohne jedes Wenn-dann. Immanent religiös argumentiert, ist höhere Menschlichkeit nämlich Göttlichkeit – unabhängig davon, wie man sich Gott vorstellt, ob es ihn gibt oder nicht.
Wir stehen am Anfang. «Im Anfang», so beginnt das Buch Genesis den Schöpfungsbericht. Dort steht, dass Gott für die Schöpfung sechs Tage benötigte und am siebenten ruhte. Die Zukunft wird zeigen, wie lange die Neuschöpfung von Synagoge, Kirche, Moschee und jedermann dauert. Wird es dann heissen: «Im Anfang war Corona»?
Michael Wolffsohn ist Historiker und Publizist. Er lehrte von 1981 bis 2012 an der Universität der Bundeswehr München. Jüngst ist im Herder-Verlag sein Buch «Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik» erschienen.