Spoiler
Frau S. ist gastfreundlich, ihr Haus ist hell und sauber. Sie ist sehr bemüht, ihren Mann gut zu pflegen. Trotz der Mühen des Alltags versucht Frau S. auf dem Laufenden zu bleiben. Darunter versteht sie gleichwohl etwas anderes als die meisten anderen. Das Coronavirus? "Ein Betrug an der Menschheit."
Die staatlichen Maßnahmen? "Sie wollen uns zeigen, dass wir Sklaven sind." Wer sind sie? "Die Politiker sind nur Marionetten. Die wahren Führer sind Wirtschaftsbosse, da rede ich von maximal zehn Leuten." Von der Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Virus hält Frau S. daher gar nichts. "Im Gegenteil. Mit Impfstoffen haben sie früher ganze Völker ausgerottet", behauptet sie.
Düstere Welt
Obwohl die Sonne die cremefarbenen Wände ihres Hauses an diesem Augusttag leuchten lässt, bleibt die Welt der Frau S. ziemlich düster. Sie zeigt auf ihrem Handy ihre Whats app- und Telegram-Gruppen und sagt gleich dazu, einige habe sie schon wieder verlassen, weil es nicht auszuhalten gewesen sei. Frau S. schaut gerne die Videos des deutschen Arztes Bodo Schiffmann, des selbsternannten Wunderheilers Andreas Kalcker oder des Bad Ausseer Mediziners Peer Eifler.
Neben dem emeritierten Mikrobiologen Sucharit Bhakdi gelten sie im deutschsprachigen Raum als "Corona-Autoritäten" bei all jenen, die seriösen Medien nicht trauen. Schiffmann bestreitet den Sinn der deutschen Corona-Maßnahmen und ärgert sich über die "Lockdown-Mafia", auch der Österreicher Eifler warnt vor grundloser Corona-Angst und bietet offensiv Atteste zur Entbindung von der Maskenpflicht an, Kalcker wiederum vermarktet sich als Chlordioxid-Guru. Bhakdi erlangte Bekanntheit, weil er das Buch Corona Fehlalarm? verfasst hat.
"Schlafschaf" zum Kaffee
In ihrem Wohnzimmer steht zwar ein großer Fernseher, aber im TV-Programm schaut Frau S. nur noch den Wetterbericht. "Ich hab’ zwei Laden voller DVDs, die anderes als die Sender berichten." Wegen dieses Misstrauens gegenüber den "Mainstream"-Medien ist es auch schwierig, mit Verschwörungsgläubigen ins Gespräch zu kommen.
Mit den "bekannten Medien" rede man nicht mehr, weil sie – unbewusst oder bewusst – nur Märchen auftischten, heißt es auf Nachfrage öfter. Umso bemerkenswerter, dass Frau S. ein "Schlafschaf" zum Kaffee einlädt.
Hundert Leute versammeln sich auf dem Wiener Schwedenplatz zum Protest gegen die Corona-Maßnahmen. Die Regierung sei korrupt und habe kein Interesse an der Gesundheit des Volkes.
Foto: Christian Fischer
Schauplatzwechsel. 14. August, Wiener Bürger versammeln sich auf dem Schwedenplatz zum freitäglichen, friedlichen Protest gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung. Mehr als hundert Leute marschieren Richtung Donaukanal, etwa gleich viele Männer wie Frauen, das Publikum wirkt urban-akademisch. "Leider wenige Junge da", moniert einer der Redner.
Einige Demonstranten kennen sich schon aus der Facebook-Gruppe "Corona-Initiative-Info". Dort werden Vorwürfe oft in drastischer Sprache erhoben: Es komme nun "ein weltweiter Überwachungsstaat", schreibt eine Wienerin, und ein Unternehmer poltert, die "grün-faschistische Regierung" hier müsse endlich weg. Tenor: Die Regierung will uns künstlich in Angst versetzen, Türkis-Grün betreibe eine "Hygiene-Diktatur".
Beim Demo-Spaziergang am Donaukanal wirkt der Protest dann nicht so scharf wie im sozialen Netzwerk, vermutlich weil im Wiener Idiom alles ein bisschen weicher klingt. Und weil man sieht, dass jene, die im Netz gegen die "Versklavung der Menschheit" kämpfen, auch Schwierigkeiten mit einem Mikrofon haben können oder Parkscheine nachlegen müssen.
5G, Corona und die Eliten
Die Demonstranten fühlen sich unverstanden, ungehört. Viele empfinden "Verschwörungstheoretiker" als Kampfbegriff, mit dem sie in eine Ecke gedrängt werden. Manche erzählen auch, dass sie starken sozialen Druck spüren, ihre Meinung besser nicht zu äußern, weil man berufliche Nachteile erleide oder Freunde verliere. "Die Idee der ‚Verschwörung‘ wird so stark wie noch nie als Waffe gegen uns Freigeister verwendet", verkündet Demo-Organisator Michael Wiener, der laut eigenen Angaben in der Gastronomie arbeitet.
"Der überwiegende Großteil der Volksvertreter hat kein Interesse an der Gesundheit des Volkes und ist korrupt", sagt er in seiner Rede, in der es mehr um den Mobilfunkstandard 5G als um Corona geht.
Danach meint der Döblinger Zahnarzt Jaroslav Belsky, mit 14.000 Youtube-Abos ein beliebter Guru der Szene, pauschal: "Wir sehen am Beispiel Corona, was unsere ganzen wissenschaftlichen Systeme leisten, nämlich gar nichts. Die Wissenschaft folgt nicht Erkenntnissen, sondern finanziellen Interessen." Großer Jubel brandet auf.
Erholung unter der Plasmapyramide
200 Kilometer weiter südlich sieht Frau S. es noch dramatischer. "Auf der Uni lernen die Menschen nur das, was man laut den Eliten lernen soll." Die Videos von Zahnarzt Belsky sehe sie sich gerne an, erzählt sie.
Ihre Skepsis gegenüber Wissenschaft, Medizin und offizieller Geschichtsschreibung begleitet Frau S. nicht erst seit der Pandemie, sondern seit Jahrzehnten. Schon als ihr Mann in den Achtzigerjahren in Graz noch eine Buchhandlung führte, habe sie sich in Bücher vertieft und ihren eigenen Reim auf die Dinge gemacht.
Frau S. führt in ihren Keller, wo die pensionierte Heilerin unter anderem einen Wellness- und einen Behandlungsraum hat. Dort stehen eine aus Holz gefertigte Plasmapyramide, deren Energiefelder einem Erholung und inneren Frieden verschaffen sollen, und ein Whirlpool mit Plasmawasser, außerdem ein paar gut gefüllte Schränke mit ätherischen Ölen und Tinkturen.
"Der Mensch ist ein vielschichtiges Wesen, ich sage zu den Patienten immer, vereinfacht ausgedrückt sind wir wie ein Blätterteig", erzählt Frau S. Eine Maske trage sie nicht, sie kaufe in Bauernläden ein, wo das Thema locker gehandhabt werde.
Rasanter und spannender
Theorien über geheime Verschwörungen bieten den Vorteil, dass sich Muster und klare Absichten hinter allen möglichen Geschehnissen erkennen lassen – in einer unübersichtlichen Welt, die sonst chaotisch und buchstäblich sinnlos erschiene. Und auch wenn diese Verschwörungstheorien in ziemlich finstere Abgründe führen, ist es vielleicht einfacher, die Welt auf diese Weise zu sehen.
In der Garage von Frau S. steht ein Hyundai. Vielleicht fühlt sich für Frau S. das Leben dank ihrer Erklärungsmodelle weniger wie die Fahrt in einem Hyundai und eher so wie in einem Ferrari an, rasanter und spannender.
Obwohl Frau S. natürlich weiß, dass ein Großteil der Menschen ihre Ansichten nicht teilt, betont sie: "Ich bin keine Verschwörungstheoretikerin, ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden."
Neben den Corona-Maßnahmen der Regierung, laut Frau S. nur ein großes Ablenkungsmanöver, treibt sie auch 5G um. Die Frequenzen würden Krankheiten "anheizen". Doch jene renommierten Wissenschafter, "die sich mit 5G beschäftigen, kommen nicht zu Wort und müssen aufpassen, dass sie nicht umgebracht werden", sagt sie.
Bevor Frau S. ihren Gast verabschiedet, bittet sie noch kurz um Geduld. Aus der Küche eilt sie mit zwei Gläsern Knoblauch- und Kräutersalz herbei, ein Abschiedsgeschenk. "Und seien Sie vorsichtig, wie weit Sie sich rauslehnen", sagt sie. Und dann noch einmal: "Seien Sie vorsichtig." (Lukas Kapeller, 22.8.2020)