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Konnten Sie die Menschen überzeugen?
Ja, es hat funktioniert. Das Ergebnis war vergleichbar mit anderen Ländern. Die Leute waren weniger unterwegs als normalerweise, das konnten wir anhand der Daten von Mobiltelefonanbietern sehen. Sehr viele arbeiteten zu Hause, rund 50 Prozent. Das machte in Schweden einen grossen Unterschied, weil bei uns ein beträchtlicher Teil der Virusverbreitung am Arbeitsort geschah. Wie in vielen anderen Ländern wurde durch das veränderte Verhalten auch die Verbreitung von anderen Atemwegserregern wie der Influenzaviren unterbrochen. Das zeigt, dass die Verhaltensänderungen gewirkt haben.
Denken Sie, dass das Konzept von Schweden auch in anderen Ländern funktioniert hätte?
Was wir sicher für künftige Pandemien lernen sollten, ist, dass wir unsere Antwort jeweils an den Ort anpassen müssen, an dem wir leben. Es ist keine gute Idee, überall auf der Welt das Gleiche zu tun. So wäre es in keinem Land in Europa möglich gewesen, die Leute so einzuschliessen, wie die Chinesen es taten. Wir müssen unsere eigene Gesellschaft verstehen, um richtig zu reagieren. In Schweden gibt es eine sehr lange Tradition von Vertrauen zwischen der Bevölkerung und den Behörden. Das war sehr wichtig für unseren Weg.
In vielen Ländern fehlt dieses Vertrauen in die Behörden. Wenn Sie Schweden mit anderen Ländern bezüglich Todeszahlen und Schaden für die Wirtschaft und Gesellschaft vergleichen: Wie sieht Ihre Bilanz aus?
Ich versuche, solche Vergleiche möglichst zu vermeiden. Sie sind immer schwierig, weil sich die Länder eben in vielen Dingen unterscheiden. Grundsätzlich kamen wir aber mit einer vergleichsweise tiefen Übersterblichkeit durch die Pandemie. Ganz wichtig war, dass wir unsere Kinder während der ganzen Pandemie in die Schule gehen liessen. Auch die Wirtschaft scheint weniger gelitten zu haben als in manchen anderen Ländern. Zumindest auf kurze Sicht. Wir hatten auch keine grossen Diskussionen darüber, wer was während der Pandemie gut oder schlecht gemacht hat.
Andere skandinavische Länder hatten aber deutlich weniger Todesfälle wegen der Pandemie.
Es gibt eine Reihe von Schätzungen mit leicht abweichenden Ergebnissen, wobei Schweden in einigen Fällen den niedrigsten Wert aufweist. Gemeinsam ist den nordischen Ländern, dass sie über die ganze Pandemie gesehen zu denjenigen mit der niedrigsten Übersterblichkeit gehören. Schweden hatte im ersten Jahr mehr Tote, Dänemark und Norwegen eher im letzten Teil der Pandemie.
Kennen Sie den Schweizer Weg durch die Pandemie?
Nicht im Detail. Ich weiss einfach, dass auch die Schweiz mit vergleichsweise wenig Schaden durch die Pandemie kam. Lockdowns gab es nur kurze Zeit, und auch sonst hatte man nicht besonders strenge Regeln. Aber wie erwähnt, bin ich kein Anhänger davon, Länder zu vergleichen, um den «Sieger des Pandemiespiels» zu bestimmen.
Die Bilder aus China und Bergamo vor fünf Jahren waren für viele ein Schock, auch für Politiker und Fachleute. Waren die Reaktionen rückblickend übertrieben?
Das ist schwierig zu sagen. Gewisse Länder waren vielleicht etwas zu überstürzt mit harten Massnahmen, ohne zu wissen, ob sie funktionieren und was die Konsequenzen sind. Aber viele Leute hatten Angst. Man befürchtete die gleichen Probleme wie in Italien. Das muss man verstehen. Im Nachhinein denken wahrscheinlich viele, dass man am Anfang nicht so drastisch hätte sein müssen.
Sie haben von Beginn an weniger strenge Regeln gewählt. Dabei war bei Sars-CoV-2 vieles noch unsicher, auch, welche Rolle die Kinder spielen. Sind Sie da nicht ein erhebliches Risiko eingegangen?
Nein. Gerade was die Kinder betrifft, zeigten Daten aus China und Italien früh, dass sie sehr selten krank wurden. Wir merkten auch bald, dass Kinder das Virus seltener in ihrem Umfeld verbreiteten. Dass vor allem die alten und kranken Menschen durch das Coronavirus gefährdet waren, war rasch klar. Für den Rest der Bevölkerung war das Risiko zwar ebenfalls vorhanden, aber viel tiefer.
Hätten Sie die alten Menschen nicht besser schützen müssen? Gerade in der ersten Welle starben in Schweden viele Ältere in Heimen.
Das hätten wir sicher tun sollen. In Schweden ist das Problem, dass in den Heimen wenig medizinische Expertise vorhanden ist. Es sind vorwiegend soziale Einrichtungen, die ein gutes Lebensumfeld für die Alten bieten sollen. Die Gesundheitsversorgung steht nicht im Vordergrund. Darum hatten wir in Schweden nicht die Möglichkeit, diese Personen gut zu schützen. Das ist etwas, das wir ändern müssen.
Hätte ein Lockdown bei der ersten Welle nicht geholfen, diese Todesfälle zu verhindern?
Das denke ich nicht. Länder mit strengeren Massnahmen hatten die gleichen Probleme. Zudem brauchen die Menschen in den Altenheimen viel Betreuung und haben dadurch jeden Tag Kontakt mit vielen Menschen.
Sie haben sich in Schweden für weniger strikte Massnahmen entschieden, auch damit diese länger durchgehalten werden können. Doch bereits nach einem Jahr kam die Impfung. Wären da striktere Massnahmen nur während eines Jahres nicht besser gewesen?
Niemand hat erwartet, dass die Impfung so rasch kommt. Die Spezialisten sagten uns am Anfang, dass es mindestens zwei bis drei Jahre dauern würde. Es war ein grosses Glück, dass die Impfung so früh kam. Ohne hätten wir massiv grössere Probleme gehabt. Doch strengere Massnahmen wären für die Gesellschaft sehr einschneidend gewesen, vor allem die Schulkinder. Darum nein, selbst wenn wir gewusst hätten, dass die Impfung so rasch kommt, wäre das keine Option gewesen.
Waren die Schwedinnen und Schweden bei der Impfung auch so kooperativ wie bei den Pandemiemassnahmen?
Ja, es ging sehr gut. Wir impften zuerst die älteren Menschen, vor allem in den Heimen, und erreichten in dieser Gruppe in den ersten beiden Monaten weit über 90 Prozent der Menschen. Auch in der Gesamtbevölkerung war die Durchimpfung sehr gut. Das war besonders wichtig für die Spitäler, die dadurch entlastet wurden. In der dritten Welle im Frühling 2021 benötigten viel weniger Menschen eine Hospitalisation als in den ersten beiden. Das machte einen enormen Unterschied. Die Covid-Impfung war für uns in vielerlei Beziehung die Rettung.
Gab es denn keine Widerstände wie in anderen Ländern?
Nein, da haben wir wirklich Glück in Schweden. Es gibt eine sehr hohe Akzeptanz. 98 Prozent der Kinder haben alle nötigen Impfungen. Das entspricht einer fast kompletten Durchimpfung. Natürlich gab es während der Pandemie Stimmen, die zögerten. Doch rund 80 Prozent liessen sich gegen Covid impfen, obwohl es immer freiwillig war.
Liessen sich auch junge Menschen ohne Risikofaktoren impfen?
Ja, junge Menschen nutzten zu 60 bis 70 Prozent die Impfung. Bei Kindern empfahlen wir keine Impfung. Grundsätzlich wollten wir so viele Menschen wie möglich erreichen.
Wegen der neuen Sars-Cov-2-Varianten konnte die Impfung die Übertragung mit der Zeit immer weniger verhindern. Bei jungen Menschen ohne Risikofaktoren hatte sie letztlich keine Vorteile.
Das ist richtig. Heute empfehlen wir in Schweden die Impfung nur noch älteren Menschen und chronisch Kranken. Die breite Durchimpfung hat zwar tatsächlich zu einem gewissen Grad dazu beigetragen, die Pandemie einzudämmen, nur nicht so stark wie erhofft.
Bei uns wurde auch über Masken gestritten. Wie beurteilen Sie diese?
Masken helfen im Spital-Setting und in der Altenpflege. Dort sind sie sehr wichtig. Darauf sollten wir unbedingt fokussieren. Es machte jedoch keinen Sinn draussen, etwa beim Joggen, eine Maske zu tragen, wie das in vielen Ländern vorgeschrieben war. Heute ist der Konsens, dass Masken einen gewissen Effekt haben, wenn viele Menschen in Innenräumen nahe beieinander sind. In Schweden fokussierten wir uns darauf, Distanz zu halten und soziale Kontakte einzuschränken.
Gab es Menschen in Schweden, die zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln Masken trugen?
Nein.
Waren alle Covid-Massnahmen in Schweden freiwillig?
Restaurants waren zum Beispiel ein Bereich, für den wir gesetzliche Vorschriften machten. Sie mussten die Zahl der Gäste stark reduzieren und diese auseinandersetzen. Auch für Konzerte und andere Veranstaltungen hatten wir gesetzliche Vorgaben und erlaubten zwischenzeitlich nur Treffen mit wenigen Personen.
Hatten Sie unterschiedliche Regeln für Geimpfte und Ungeimpfte?
Nein, staatlich vorgeschrieben gab es das nicht. Einzelne Konzerte waren tatsächlich nur für Geimpfte. Aber das kam von den Veranstaltern, nicht von uns.
In der Schweiz hatten Ungeimpfte zeitweise nicht überall gleichberechtigten Zugang. Wie denken Sie darüber?
In Schweden glauben wir an Freiwilligkeit, auch beim Impfen. Einschränkungen für Ungeimpfte halte ich nicht für sinnvoll. Damit geht die Freiwilligkeit verloren.
Das lässt sich natürlich leicht sagen, wenn sich die Bevölkerung in einer solchen Situation gern impfen lässt. Hätten Sie bei einer verbreiteten Impfskepsis solche indirekten Anreize nicht auch befürwortet?
(lacht) Da haben Sie definitiv einen Punkt. Das bringt mich zurück zum Anfang unseres Gesprächs. Wir müssen eine Pandemie-Antwort immer aus dem Kontext anschauen, in dem wir leben.
Hatten Sie wirklich gar keine Opposition gegen Ihre Art, mit der Pandemie umzugehen?
Natürlich gab es Diskussionen. Manche Experten fanden, dass wir dieses oder jenes tun sollten. Die Bevölkerung und auch die Politik waren jedoch mehrheitlich auf unserer Seite. In Befragungen sagten 75 bis 80 Prozent, dass sie ihr Verhalten aufgrund unserer Empfehlungen geändert haben.
Ist die Welt gut vorbereitet auf die nächste Pandemie?
Ich glaube nicht. Es gab so viele Krisen seither. Ukraine, Energie- und Finanzkrise. Das hat die Verbesserungen blockiert, die eigentlich hätten gemacht werden sollen. Heute liegt der Fokus komplett auf einer möglichen Kriegsgefahr. Dahin gehen heute alle unsere Überlegungen und Gelder.
Felix Straumann ist Stv. Ressortleiter Wissenschaft/Medizin und Wissenschaftsjournalist. Er hat den Master in Mikrobiologie und verbrachte viele Jahre in Labors am Unispital und in der Privatwirtschaft, bevor er Journalist wurde.Mehr Infos
@fstraum
Hätte also Deutschland die „Schwedischen Maßnahmen“ übernommen, so hätten wir 42.000 Tote mehr.