Es ist einfach völlig egal wie der Text heißt welcher die Grundfunktionen und Grundwerte eines Staates definiert und ob dieser einen Geltungsbereich hat - sie gilt eben für jenen Staat für den die verfasst wurde in jenem Bereich in dem dieser seine Staatsmacht durchsetzen kann.
Wie auch Der Status des Friedens ist eine Verfassung etwas Praktisches und Nichts Theoretisches, man benötigt eine Staatsmacht welche sie umsetzt und dann ist es völlig egal ob sie "Einhornknudelgesetzt" oder "Kekskrümelrezept" heißt und ob ein Geltungsbereich definiert wurde.
Sie wird dort umgesetzt und gilt dort wo der betreffende Staat dies mit seiner Staatsmacht durchsetzen kann - ganz einfach. Es gibt nämlich schlicht keine übergeordnete Autorität welche etwas Anderes durchsetzen könnte nur weil die Verfassung "Einhornknudelgesetzt" und nicht Verfassung heißt.
Da erlaube ich mir, noch ein wenig an der Schraube weiter zu drehen:
Es gibt die Unterscheidung zwischen "pouvoir constitué" und "pouvoir constituant". Hat ein Staat eine Verfassung, so hat die verfasste Staatsgewalt diese Verfassung zu beachten und ggf. durchzusetzen. Es gibt aber immer wieder Umbruchsituationen, in denen das alte Verfassungsrecht nicht mehr beachtet wird und neues noch nicht gesetzt wurde.
Gehen wir an den Anfang des modernen Verfassungsstaates zurück: 1789 erklärten sich die französischen Generalstände zur "Nationalversammlung" und beanspruchten das Recht für sich, dem Staat eine Verfassung zu geben, was letztlich auch geschah. An diesem Vorgang ist verschiedenes revolutionär: Die Generalstände waren ursprünglich wohl nur dazu ermächtigt, Steuern zu bewilligen. Im Lauf der Zeit haben sie sich aber auch mit anderen Fragen befasst. Die Generalstände wurden in einer Verfassungskrise, als sich die verschiedenen Organe des Staates gegenseitig blockierten, nach langer Pause einberufen. Bei der Einberufung wurde ausdrücklich die Durchführung von Reformen, zu denen andere Organe des Staates nicht (oder nicht ausreichend) ermächtigt waren, als Verhandlungsgegenstände genannt. So verstand der König die Aufgabe der Generalstände, so sahen es auch die Parlamente und wohl auch die meisten übrigen Akteure unter Einschluss der Wähler. Auf Grund der langen Pause seit der letzten Einberufung und mangels geschriebener Verfassung war auch nicht klar festgelegt, welche Rechte den Generalständen zukommen sollten.
Revolutionär war am Akt der Generalstände, sich zur Nationalversammlung zu erklären und sich die Aufgabe, eine Verfassung zu erlassen, zu geben, dass von der bisherigen Praxis der Abstimmung nach Ständen zur Abstimmung nach Köpfen gewechselt wurde, dass auch die Gliederung in Stände aufgegeben wurde, dass die Abgeordneten sich als die Vertreter und Bevollmächtigten der ganzen Nation ansahen, dass sie die Souveränität des Staates nicht dem König, sondern der Gesamtheit der "Nation" zuschrieben und in der Nation die Quelle ihres Rechts, über den gesamten Staat zu verfügen, sahen.
Durch die Erklärung zur verfassungsgebenden Nationalversammlung rekurrierten die Abgeordneten der Generalstände also auf einen Grundsatz, der in der Ordnung des bestehenden Staates nicht vorgesehen war. Die Nationalversammlung war nur noch durch die Wahl ein Organ des bisherigen Staates, als verfassungsgebendes Organ aber nicht mehr an die bestehende Ordnung gebunden. Die Nationalversammlung war also gleichsam "außerkonstitutionell". Somit war sie nicht mehr "pouvoir constitué" (als Teil eines verfassten Staates), sondern "pouvoir constituant" als Verfassungsgeberin für einen erst noch zu organisierenden Staat.
An diesem Punkt kommt nun die Frage der Staatsgewalt ins Spiel: Letztlich war die französische Nationalversammlung nur deswegen erfolgreich, weil sie auf Anerkennung breiter Kreise stieß, selbst der König sich zur Zusammenarbeit mit ihr entschloss und ihre Entscheidungen letztlich durch den vorhandenen oder neu geschaffenen Staatsapparat auch ausgeführt wurden. Hätte sie es nicht geschafft, die tatsächliche Macht im Staat zu erringen und auszuüben, hätte sie etwa so geendet wie all die "Königreiche", "Bundesstaaten" usw., die mehr oder weniger feierlich durch RD ausgerufen und mittels "Gründungsurkunden" mit blutigen Fingerabdrücken und nasser blauer Tinte "geschaffen" wurden. Mangels tatsächlicher Wirksamkeit sind dies reine Fantasiegebilde geblieben.
Ein deutscher Jurist hat es einmal plakativ auf die Formel gebracht: "Macht schafft Recht", was in dieser Form zu kurz greift, aber den richtigen Gedanken enthält, dass ein - auch außerkonstitutioneller - Verfassungsgeber darauf angewiesen ist, dass seine Beschlüsse auch tatsächlich umgesetzt und von einer Staatsgewalt getragen werden.
Blicken wir in die deutsche Geschichte, sehen wir, dass die politischen und verfassungsrechtlichen Umbrüche nach den beiden Weltkriegen nicht durch "buchstäbliches Recht" getragen wurden. Die Verkündung der (damals noch gar nicht vollzogenen) Abdankung des Kaisers, die Ausrufung der Republik und die Übergabe der Regierungsgewalt an das Kabinett Ebert waren nicht durchs Recht gedeckt, sondern den tatsächlichen Verhältnissen geschuldet und der revolutionären Gewalt: Matrosen, Soldaten, aber auch viele gewöhnliche Bürger nahmen einfach keine Befehle der monarchischen Regierungen mehr entgegen.
Doch auch hier zeigt sich wieder, dass sich die durch die Umstände berufenen Regierungen und die Nationalversammlung letztlich durchsetzen konnten, weil sie ausreichende Unterstützung durch die Bevölkerung, durch die bestehende Verwaltung, durch das Militär usw. erhielten und tatsächlich Staatsgewalt ausüben konnten.
Nach dem zweiten Weltkrieg ist dies dadurch etwas anders und nicht so deutlich zu erkennen, weil die tatsächliche Staatsgewalt zumindest vorübergehenden von den Besatzungsmächten ausgeübt wurde. Mangels funktionierenden Staates und somit eines "pouvoir constitué" sah sich aber letztlich erneut der "pouvoir constituant" berufen, Deutschland eine Verfassung zu geben.
Das ist nun einmal so und gilt, gerade angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit und der allgemeinen Anerkennung des geschaffenen Staatswesens, als Recht. Das ist das, was auch als "normative Kraft des Faktischen" bezeichnet wird.
Dass dies gewissen Kreisen nicht passt, die sich ein völlig anderes Staatswesen wünschen, steht auf einem anderen Blatt. Mangels tatsächlicher Macht zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen berufen sie sich halt auf ein angebliches "Recht", das sie in einem längst untergegangenen Staat zu erkennen glauben.